Papst Benedikt XVI.

Wir sind Kirche: 100 Tage Papst Benedikt XVI. - die zentralen Fragen bleiben ungelöst

Die nach der Papstwahl von vielen geäußerte Hoffnung, das Wesen des Papstamtes als „Brückenbauer” sei ein ganz anderes als das des Leiters der Glaubenskongregation und daher würde sich das Verhalten von Joseph Ratzinger als Papst in wesentlichen Punkten ändern, hat sich nicht erfüllt. Diese Bilanz zieht die KirchenVolksBewegung Wir sind Kirche zumindest für die ersten 100 Tage des neuen Pontifikats. Die Botschaft des „Weiter wie bisher” des äußerst kurzen Konklaves, das es versäumt hat, die grundlegenden Zukunftsfragen der römisch-katholischen Kirche zu klären, scheint sich zu bestätigen.

Benedikt XVI. sagte zu Beginn seines Pontifikats, er wolle seine ganze Kraft der Vereinigung der Kirchen widmen. Doch die deutliche Betonung der Ökumene mit der orthodoxen Kirche stellt eine Deklassierung, wenn nicht sogar eine vorläufige Absage an den Dialog mit der evangelischen Kirche dar. Die Erwartung, seine Kenntnis der Situation im Land der Reformation werde die Ökumene voranbringen, hat sich bisher nicht erfüllt. Den Kommunionempfang von Prior Roger Schutz aus Taizè aus der Hand von Kardinal Ratzinger beim Requiem für Johannes Paul II., den viele als Hoffnungszeichen sahen, hat der Vatikan inzwischen als „Sonderfall” bezeichnet, aus dem keine Rückschlüsse für die Haltung der Kirche zur Interkommunion gezogen werden dürften. Die Frage bleibt, ob der neue Papst den geplanten zweiten Ökumenischen Kirchentag (ÖKT) 2010 in München freundlicher begrüßen wird als den ersten ÖKT 2003 in Berlin, den er als Präfekt der Glaubenskongregation noch scharf kritisiert hatte.

Benedikt XVI. hat sich offen zur Kollegialität und zum Erbe des Zweiten Vatikanischen Konzils bekannt, jedoch mehren sich unter dem neuen Papst jetzt auch im Vatikan die Stimmen, die vor einer „Fehldeutung” und einer „einseitigen ideologisch besetzten Vision” des Zweiten Vatikanischen Konzils warnen. Dies ist ein Zeichen für den zunehmenden Einfluss der neo-konservativen und ultra-konservativen Kräfte in der Kirche.

Nicht überraschend war und ist Benedikts deutliche Kritik homosexueller Partnerschaften, die die Zukunft der Familie bedrohen würden. Auch Scheidungen, Ehen auf Probe und wilde Ehen bezeichnete er am 6. Juni als Ausdruck „anarchistischer Freiheit” und wandte sich gegen Abtreibung und systematische Verhütung. Die feierliche Vorstellung einer Kurzfassung des aus dem Jahr 1992 stammenden „Weltkatechismus” am 28. Juni unterstreicht die weiterhin starre Haltung in allen Fragen der Moral. Damit verringert sich die Chance der römisch-katholischen Kirche, bald aus ihrer rigorosen Verweigerungshaltung im Bereich Sexualität und der damit zusammenhängenden Menschenwürde herauszufinden.

Auch personell hat Benedikt innerhalb des Vatikans keinerlei neue Akzente gesetzt. Mit dem von ihm am 13. Mai ernannten Nachfolger als Präfekt der Glaubenskongregation, Erzbischof von San Francisco Kardinal William Joseph Levada, hat Ratzinger den 1992 veröffentlichten neuen Weltkatechismus erarbeitet; Levada war bereits von 1976 bis 1982 in der Glaubenskongregation tätig und ist seit 2000 deren Mitglied.

In die ersten 100 Tagen fallen der von Rom veranlasste „Rücktritt” des langjährigen Herausgebers der US-amerikanischen Jesuitenzeitschrift „America” (die Anweisung dazu erfolgte Mitte März, als Ratzinger noch Chef der Glaubenskongregation war) und die Annahme des vorzeitigen „Rücktrittsgesuchs” des Linzer Bischofs Maximilian Aichern OSB, der sich für eine Stärkung der Rolle der Frau in der Kirche eingesetzt hatte. Das unter Ratzingers Ägide als oberster Glaubenshüter entstandene Klima der Angst und Erstarrung wirkt fort.

Auch wenn Benedikt XVI. die Frauenordination und Aufhebung des Pflichtzölibats strikt ablehnt: er wird sich diesen Fragen stellen müssen, da in dem mehr als 26-jährigen Pontifikat von Johannes Paul II. die Zahl der Katholiken und Katholikinnen weltweit um 40 Prozent anstieg, während die Zahl der Priester um 4 Prozent zurück ging. Schon jetzt hat fast die Hälfte aller katholischen Gemeinden und Missionen auf der ganzen Welt keinen eigenen Priester mehr.

Knapp die Hälfte der derzeit gut eine Milliarde Katholiken und Katholikinnen leben in Mittel- und Südamerika. Angesichts des eurozentristischen Denkens Ratzingers stellt sich die sehr ernste Frage, ob es ihm gelingen wird, die drängenden Probleme Südamerikas, Afrikas und Asiens überhaupt wahrzunehmen - und ob die Menschen dort ihn als Papst akzeptieren.

Ratzinger ist sicher einer der wenigen brillanten Theologen, die die katholische Kirche zur Zeit hat. Für die Zukunft der Kirche ist es entscheidend, ob es ihm gelingen wird, die ihn selber seit Jahrzehnten umtreibende Frage des Verhältnisses von römischer Universalkirche und lokaler Ortskirche, von Einheit der Kirche und ihrer Vielheit zu lösen. Findet er jetzt keine gute Antwort, dann wird sie lange keiner mehr finden, dann steht ein Rückzug in die Zeit weit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil bevor. Um dies zu verhindern, muss Papst Benedikt XVI. immer wieder an das erinnert werden, was er in seinen jungen Jahren als Joseph Ratzinger geschrieben und gesprochen hat.

Zuletzt geändert am 10­.05.2006