Ein Jahr „Amoris laetitia“ (8. April 2017)

„Der Paradigmenwechsel ist eingeleitet, muss jetzt aber an Fahrt gewinnen“

Wir sind Kirche ein Jahr nach Veröffentlichung des Papstschreibens „Amoris laetitia“

Pressemitteilung München/Rom, 3. April 2017

Mit dem am 8. April 2016 veröffentlichten nachsynodalen Schreiben „Amoris laetitia“ hat Papst Franziskus den lange überfälligen Paradigmenwechsel in der Sexualethik eingeleitet. Dieser Paradigmenwechsel muss aber weiter an Fahrt gewinnen, damit die Hoffnungen der großen Mehrheit der Katholikinnen und Katholiken auf eine Fortentwicklung der kirchlichen Lehre und Praxis nicht endgültig enttäuscht werden. Die KirchenVolksBewegung Wir sind Kirche wiederholt deshalb erneut ihren Appell an die Bischöfe, viel konsequenter als bisher und gemeinsam den grundlegenden Reformkurs von Papst Franziskus zu unterstützen.

Die kontroversen Reaktionen seit der Veröffentlichung von „Amoris laetitia“ zeigen, dass die von Papst Franziskus auf der Grundlage der beiden Bischofssynoden 2014 und 2015 in Rom intendierte Diskussion über die lange blockierten Themen in Gang gesetzt worden ist. Doch der erste Rezeptionsprozess ist noch lange nicht abgeschlossen, weder in den theologischen Fakultäten noch in den Gemeinden.

Die deutschen Bischöfe müssen sich fragen lassen, ob sie durch die sehr späte Veröffentlichung ihres gemeinsamen Wortes „Die Freude der Liebe“ zur erneuerten Ehe- und Familienpastoral – mehr als neun Monate nach „Amoris laetitia“ – nicht wesentlich mitverantwortlich für die innerkirchlichen Auseinandersetzungen sind. Unter den vier Kardinälen, die vom Papst mit einem Schreiben eindeutige Ja-Nein-Antworten bezüglich der Zulassung von geschiedenen Wiederverheiraten zu den Sakramenten forderten, waren auch zwei deutsche emeritierte Kardinäle.

In differenzierter Weise mit unterschiedlichen Situationen umgehen

Seit „Humanae Vitae“ im Jahr 1968 hat kein päpstliches Schreiben so viel Unruhe in der Kirche gestiftet wie „Amoris laetitia“, diesmal allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Damals löste das Schreiben Pauls VI. eine regelrechte Autoritätskrise, eine Welle der Empörung und der Gehorsamsverweigerung bei den so genannten „Laien“ aus. Diesmal sind es vor allem Kardinäle, Bischöfe und Theologen, die sich der dringend notwendigen Weiterentwicklung der katholischen Sexualethik, Pastoral und Familientheologie auf der Grundlage der Aussagen der Schrift, des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65) und auch der Erkenntnisse der Humanwissenschaften verweigern.

Dabei hat Papst Franziskus nichts anderes getan, als das schon von Papst Johannes Paul II. formulierte Prinzip der Unterscheidung der verschiedenen Situationen zu übernehmen (Familiaris consortio 84). Papst Franziskus hat aber – was Johannes Paul II. unterlassen hatte – auch Wege eröffnet, wie die Kirche in differenzierter Weise mit diesen unterschiedlichen Situationen umgehen kann. Der Wiener Kardinal Schönborn brachte bei der Vorstellung von „Amoris laetitia“ die Intention des Papstes auf den Punkt: „Das erste sind nicht die Normen, die zwar wichtig sind, an erster Stelle steht aber die Ausrichtung auf die Liebe.“ Ein Wechsel also von einer Logik der Ausgrenzung hin zu einer Logik der Eingliederung.

Schwachstellen der beiden Bischofssynoden und von „Amoris laetitia“

Ein Jahr nach der Veröffentlichung von „Amoris laetitia“ werden aber auch die Schwachstellen dieses Papstschreibens noch wesentlich deutlicher, die sich auch schon in den Beratungen der beiden Bischofssynoden abgezeichnet hatten:
  • Kann sich „Amoris laetitia“ wirklich auf einen unbefangenen Schriftbefund stützen und warum werden einschlägige Schriftstellen ignoriert? (z.B. Mt 5,32 „Unzuchtsklausel“; 1 Kor 7,10-16 Privilegium Petrinum = Scheidung einer „Naturehe“ zugunsten des Glaubens)
  • Warum wird nicht gemäß alter theologischer Tradition zwischen Haupt- und Nebensakramenten (Primär- und Sekundärsakramenten) unterschieden?
  • Warum wird die Frage ignoriert, seit wann die Ehe überhaupt als Sakrament gilt?
  • Warum geht „Amoris laetitia“ in pauschaler und undifferenzierter Weise mit dem Begriff der Unauflöslichkeit um (vgl. die doppelbödige Redeweise über Unauflöslichkeit auf dem Konzil von Trient)?
  • Warum wird an keiner Stelle das Bemühen erkennbar, die Positionen der evangelischen Kirchen in Rechnung zu stellen, dies trotz der allseits gepriesenen ökumenischen Fortschritte?
  • Warum wird die Enzyklika „Humanae Vitae“ von 1968 wieder undifferenziert in ihre Rechte eingesetzt?
  • Warum wird Homosexualität nur in sehr fragwürdiger und ungenügender Weise behandelt?
  • Wie ist es möglich, dass die Gendertheorien pauschal als Ideologien beschimpft und schlimmen Verdächtigungen ausgesetzt werden?

„Amoris laetitia“ theologisch vertiefen und in der Pastoral umsetzen

Mit der entscheidenden Aussage, „dass nicht alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden müssen“, hat Papst Franziskus der Kirche die Freiheiten des Dialogs und der Entwicklung der Lehre zurückgegeben, die viele Vorgängerpäpste über die Maßen beschnitten hatten. Papst Franziskus hatte aber bewusst noch keine offensichtlichen Korrekturen der Dogmatik vorgenommen. Doch deren Diskrepanz zur evangeliumsgemäßen Botschaft der Barmherzigkeit und zum pastoralen Ansatz von Papst Franziskus werden immer deutlicher und zeigen, wie notwendig künftig auch Korrekturen und Weiterentwicklungen in der Dogmatik und im Kirchenrecht sein werden.

In dieser offenen und offen machenden Richtung ist „Amoris laetitia“ weiter theologisch zu vertiefen sowie in der Pastoral umzusetzen. Das mit großen Hoffnungen und Erwartungen aufgenommene Schreiben „Amoris laetitia“ darf nicht zerredet werden oder gar in Vergessenheit geraten! Das daraus resultierende Handeln der Bischöfe und der Kirchen vor Ort stellt eine Nagelprobe für die Reformfähigkeit der gesamten Kirche dar.

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Zuletzt geändert am 03­.04.2017