29./30.7.1995 - Süddeutsche Zeitung

Wolfgang Seibel (über das KirchenVolksBegehren)

Jesuit und Chefredakteur der Zeitschrift "Stimmen der Zeit"

In einer freien Gesellschaft haben alle das Recht, ihre Meinung zu äußern. Wer meint, das gelte für die katholische Kirche nicht, lese Canon 212 des kirchlichen Rechtsbuchs. Dort heißt es, dass die Gläubigen das Recht „und bisweilen sogar die Pflicht" haben, ihre Meinung „in dem, was das Wohl der Kirche angeht", auch öffentlich kundzutun: Die Initiatoren des Kirchenvolksbegehrens nehmen dieses Recht in Anspruch, und niemand darf es ihnen verwehren, zumal sie weder den Glauben der Kirche angreifen noch Dogmen zur Diskussion stellen. Alle Themen, die sie nennen, bewegen sich in dem Bereich, den die Kirche frei regeln kann. Wer das Volksbegehren ablehnt, weil er es zum Beispiel für überflüssig oder für schädlich hält, hat nur zwei Möglichkeiten: die Initiatoren von der Stichhaltigkeit der Gründe zu überzeugen oder nicht zu unterschreiben. In der Kirche unseres Landes herrscht derzeit leider auf weite Strecken hin Lethargie und Resignation. Das Volksbegehren ist ein weiteres Zeichen dafür, daß es nach wie vor Christen gibt, denen das Wohl der Kirche am Herzen liegt und die sich für ihre so notwendige Erneuerung einsetzen. Schon aus diesem Grund kann man die Initiative nur begrüßen.

Zuletzt geändert am 20­.03.2024