10.11.2008 - Die Welt

Der katholischen Kirche laufen die Gläubigen weg

Die Nachrichten klingen dramatisch: Katholische Kirchen werden verkauft oder abgerissen. Bischöfliche Behörden streichen Stellenpläne, Kindergärten werden geschlossen oder, wie selbst in der reichen Erzdiözese Köln zu beobachten ist, an Gemeinden abgetreten. Und die Bischöfe tun sich schwer mit Reformen.

In den meisten der 27 deutschen Bistümer brodelt es. Gläubige protestierten, wie in Aachen oder Essen, öffentlich gegen „von oben“ verordnete Zusammenlegungen historisch gewachsener Pfarreien. Die Stimmung an der kirchlichen Basis ist emotional aufgeladen. Die neue Bischofsgeneration trifft auf einen Katholizismus im Umbruch. Von einem „massiven Transformationsprozess“ sprechen Pastoraltheologen: von der Volkskirche zur Freiwilligenkirche.

Dass die gute, alte Volkskirche bröckelt, vor allem in den Großstädten, will auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, nicht verschweigen. Er setzt auf „neue missionarische Impulse“. Denn nichts ist mehr selbstverständlich. Weder die regelmäßige Beteiligung am liturgischen Leben noch die Teilnahme an den Sakramenten. Der Freiburger Religionssoziologe Professor Michael Ebertz ist schon vor Jahren bei seinen Forschungen zu dem Ergebnis gekommen, dass sich die Mehrheit der Katholiken an kirchliche Normen nicht mehr hält: „Wir haben einen Zustand der Anomie, freilich nicht der Anarchie.“ Aus dem Jahr 2003 stammt, gestützt auf Befragungen, die Vermutung, allenfalls 20 Prozent der Katholiken seien im „engen Sinn“ gläubig. Die Pluralisierungstendenzen erlauben es kaum noch, von einem Katholizismus zu sprechen. Eher von „Katholizismen“. Und das zu einer Zeit, in der der öffentliche Spielraum für die Kirche größer geworden sei, in der Menschen ihren ganz persönlichen Glauben im Internet oder auf eigenen Homepages öffentlich machten, wie Professor Ebertz jetzt auf der Generalversammlung der katholischen Görres-Gesellschaft in Würzburg erklärte.

Die jüngste Statistik von 2007 scheint die Aussagen über einen gravierenden Traditionsabbruch zu bestätigen. Die größten Einbrüche sind bei den kirchlichen Trauungen (minus 57,5 Prozent im Vergleich mit 1990 auf 49393) und Taufen (minus 38,1 Prozent auf 185586) zu registrieren. Auffallend sind die regionalen Unterschiede. Überdurchschnittlich hoch ist der Rückgang der Taufen in den Bistümern Essen, Würzburg, Aachen, Speyer und Trier; in der Erzdiözese München und Freising bleibt er immerhin noch knapp unter 30 Prozent.

2007 gab es in Deutschland 25,46 Millionen Katholiken, 31 Prozent der Bevölkerung. Im Vergleich mit 1990, als die Daten erstmals gesamtdeutsch erfasst werden konnten, ist das ein Rückgang um fast zehn Prozent. Hier manifestiert sich ein seit Längerem zu beobachtender Trend: Die Geburtenfreudigkeit unter Katholiken hat abgenommen, das wirkt sich auch auf Taufen und Eheschließungen aus. „Wir haben zu wenig Kinder“, klagt Erzbischof Zollitsch. Köln, Freiburg und Münster sind nach wie vor mit mehr als zwei Millionen Katholiken die größten Bistümer. Die seit 1989 von Kardinal Joachim Meisner, dem umstrittensten aller deutschen Bischöfe, geleitete Kölner Erzdiözese verlor allerdings 12,3 Prozent Mitglieder. München-Freising meldete ein Minus von 13,7 Prozent. Es rutschte wie Rottenburg-Stuttgart (minus 6,5 Prozent) unter die Zwei-Millionen-Marke. Das Erzbistum Berlin profitierte von der Zuwanderung von Bundesbediensteten, vor allem aus dem Rheinland und anderen traditionell katholischen Regionen. Der Schwund, so fanden die kirchlichen Statistiker heraus, hält sich im Hauptstadtbistum mit 5,25 Prozent deutlich unter dem Bundesdurchschnitt.

Regional unterschiedlich ist auch die Gottesdienstbeteiligung. Sie ging von 21,9 Prozent im Jahr 1990 auf 13,7 Prozent 2007 zurück. Eine dramatische Abwärtsentwicklung. 1990 war das Bistum Regensburg beim Gottesdienstbesuch mit 34,1 Prozent der Spitzenreiter. Jetzt liegt sein Anteil mit etwas mehr als 20 Prozent auf dem Niveau der ostdeutschen Diözesen Erfurt, Görlitz und Dresden-Meißen. Für die Ruhrdiözese Essen, die jüngste in Westdeutschland, wurde ein Wert von 9,7 Prozent errechnet, der absolut niedrigste der aktuellen Statistik. Noch 1990 hatte Berlin mit 14,6 Prozent den letzten Platz besetzt, mit 11,7 Prozent liegt es derzeit näher am Mittelwert. Im Fall Essen fällt ins Gewicht, dass die Katholikenzahl in der Ruhr-Region um 21,5 Prozent zurückgegangen ist. Essen hat am meisten mit Strukturproblemen zu kämpfen. Die negative demografische Entwicklung schlägt hier voll durch. Die Zusammenlegungen von Gemeinden zu Großraumpfarreien und die Kirchenschließungen – betroffen ist fast jedes vierte Gotteshaus – werden von vielen Gläubigen mit tiefem Unwillen aufgenommen. Sie bangen um ein Stück geistiger Heimat.

Für den Essener Bischof Felix Genn ergibt sich daraus eine Zukunftsaufgabe: „Wir müssen zeigen, dass wir mehr zu bieten haben als Strukturen.“ Zu seiner Beruhigung hat sich der Unmut über die Veränderungen noch nicht in einer neuen Austrittswelle niedergeschlagen. Im Vergleich zu 2000 habe sich die Zahl der Austritte nahezu halbiert. Bundesweit ist allerdings der Exodus nicht gestoppt. 2007 haben 93667 Katholiken die Kirche verlassen, im Jahr zuvor waren es 84389. Auch die Zahl der Wiederaufnahmen ist zurückgegangen: von 10823 auf 10207. Die hohen Erwartungen, die mancher deutsche Kirchenmann an die Wahl von Joseph Ratzinger zum Papst geknüpft hatte, haben sich so nicht erfüllt. Der „Benedikt-Faktor“ hat nicht gezogen.

„Die Wucht der Zahlen müsste eigentlich erst recht heftigste Beunruhigung über den anhaltenden Reformstau in substanziellen Lebens- und Glaubensfragen wie bei gravierenden Strukturproblemen der Kirche auslösen“, kommentierte die katholische Zeitschrift „Christ in der Gegenwart“. Und die amtskirchenkritische Bewegung „Wir sind Kirche“ verband damit die Forderung nach stärkerer Beteiligung der Laien. Dass daran kein Weg vorbeiführt, deuten auch schon Bischöfe an. Der Essener Oberhirte Genn gab auf dem Höhepunkt der erregten Strukturdebatten in seiner Diözese zu Protokoll: „In einzelnen Gemeinden werden wir bis 2015 keinen Priester mehr ‚vor Ort' haben.“ Dann kommt es auf haupt- und ehrenamtliche Laien an. Das aber geht nicht ohne ein stimmiges Seelsorgekonzept.

Dieses steht noch aus, obwohl die Laien-Verbände seit Jahren darauf drängen. Noch immer möchte jede der 27 Diözesen das Problem mit eigenen Methoden lösen. Erzbischof Zollitsch wurde schon von Amtsbrüdern kritisiert, weil er sich für mehr Laien in der Seelsorge aussprach und auch mehr Frauen für diese Aufgabe gewinnen will – womit ein neuer katholischer Streitfall programmiert ist.

Zuletzt geändert am 10­.11.2008