3.7.2009 - KircheBewegen - Ausgabe 2 / 2009

Editorial (Stefan Bölts über den Bremer Kirchentag)

„Warum könnt ihr Protestanten eigentlich keinen Gottesdienst ohne Pfarrer feiern?“ Es ist mal wieder Kirchentag und tausende von Besuchern belagern die Hansestadt an der Weser. Das Spektrum der Frömmigkeitsrichtungen ist ebenso breit vertreten wie die Vielfalt von gemeindekirchlich Distanzierten und Suchenden. Und ebenso mannigfaltig ist auch dieses Jahr erneut die für den normalen Kirchentagsbesucher schier überwältigende Menge an Infoständen im „Markt der Möglichkeiten“. Inmitten dieser turbulenten Welt fallen einem große gelbe Sonnenschirme ins Auge. Hier hat „Wir sind Kirche“, die römisch-katholische KirchenVolksBewegung, ihren „Jakobsbrunnen“ aufgebaut, um mit Gästen über Ökumene und andere aktuelle Themen ins Gespräch zu kommen. Der biblische Jakobsbrunnen als Ort der Begegnung zwischen Jesus und der Samariterin ist dabei ganz bewusst gewählt, denn er war Schauplatz für etwas, das man als erstes „ökumenisches Gespräch“ bezeichnen kann.

Rund um den schön dekorierten Brunnen mit einem echten Wasserbottich in der Mitte versammeln sich interessierte Kirchentagsbesucher, denn ein interessantes Thema nach dem anderen lockt die durch die vielen Gänge strömende Menschen an. Nun bin ich selbst an der Reihe und werde zum Thema „Reformprozesse und Vernetzung von Reformideen“ interviewt. Daraus entwickelt sich eine offene und angeregte Diskussion mit den Zuhörern. Schnell wird in diesem interaktiven Gespräch deutlich, wo der Reformbedarf auf den Nägeln brennt, wo die unterschiedlichen Schwerpunkte, aber auch gemeinsame leidvolle Erfahrungen in den beiden großen Volkskirchen liegen. Und wer glaubt, die evangelischen Landeskirchen seien mit ihren synodal-presbyterial strukturierten Beteiligungsmöglichkeiten besser aufgestellt, wird im Gespräch prompt eines besseren belehrt.

Kurz und bündig wird ein Beispiel aus der ökumenischen Basisbewegung geschildert. Wortgottesdienste ohne Eucharistie können von den Laien in der römischen Schwesterkirche allein verantwortet werden, doch wenn es darum geht, einen ökumenischen Gottesdienst mit ehrenamtlichen Aktiven aus evangelischen Gemeinden zu feiern, tauchen immer wieder dieselben Beobachtungen auf: „Wie? Wir können doch keinen Gottesdienst ohne den Pfarrer feiern!“

Eines der Themen, das den Beteiligten auf den Nägeln brannte, war die Beteiligungskultur in den Gottesdiensten. „In vielen evangelischen Landeskirchen sind die Pfarrerinnen und Pfarrer meist nur noch Alleinunterhalter im sonntäglichen Trauerspiel“, attestiert ein Mitglied einer evangelischen Gemeinde. Das es bei anderen Gottesdienstformen mit moderner Musik und einem modernen Arbeitsmanagement bei der Beteiligungskultur anders ausschaut, kann nur für kurze Zeit das Bild einer „heilen Welt“ in evangelischen Gemeinden malen. Denn schon in der nächsten Fragerunde wird thematisiert, dass die meisten katholischen Pfarrgemeinderäte und Laienbewegungen vor Ort, in dem ihnen möglichen Rahmen, viel aktiver sind, als ein durchschnittlicher Kirchenvorstand der inzwischen sehr pfarrerzentrierten Landeskirchen. Von Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen bis zur „Kirche der Freiheit“, von Mitarbeitendenselbstverständnissen bis zur Sparpolitik in den Synoden - immer wieder wird deutlich, dass der deutsche Protestantismus längst zu einer Kirche der Pastoren und Pastorinnen geworden ist und das „Priestertum aller Getauften“ auch fast 500 Jahre nach der Reformation Martin Luthers im Wesentlichen ein Lippenbekenntnis auf geduldigem Papier bleibt. Wenn man von der „Kirche der Beteiligung“ spricht, hat man zwar schnell das Ideal eines „evangelisch Kirche sein“ vor Augen – doch die Realität sieht anders aus. „Not macht erfinderisch“ – inzwischen haben die katholischen Laienbewegungen das ehrenamtliche Engagement im Protestantismus nicht nur eingeholt, sondern weit abgeschlagen und hinter sich gelassen.

Aber woran liegt es, dass die Dynamik eines konziliaren Prozesses oder das Streben nach einer fairen und nachhaltigen Welt bei den „Evangelen“ dem stumpfen Gemeindealltagstrott gewichen sind und nur noch in jährlichen Rhythmen bei bundesweiten Treffen wie dem Kirchentag für die nächste Durststrecke beatmet werden? Ist es die Resignation vor immer wiederkehrenden Strukturdebatten? Oder liegt es daran, dass die Vielfalt des deutschen Protestantismus postmodern in eine Kultur der uninteressierten Beliebigkeit umgekippt ist? Kann es sein, dass unsere Gremien zu viel und zu lange beratschlagen und niemand schnelle Entscheidungen verantworten will? Oder haben wir es uns in der evangelischen Kirche einfach zu bequem gemacht? Soll doch die Pfarrerin ihr Ding machen, schließlich wird sie dafür bezahlt...

Die bundesdeutsche Wahlbeteiligung an der zurückliegenden Europawahl unterstreicht mal wieder: „Das Dumme an der Demokratie ist, dass man sie erst zu schätzen lernt, wenn man sie vermisst.“ Die, die wählen können, bleiben daheim in der Stube, während andere, die nicht frei wählen dürfen, zu tausenden auf der Straße demonstrieren und Repressalien erdulden.

Aber wie schaut es mit Beteiligung und Demokratie in der evangelischen Kirche aus? Die Beteiligungs- und Gestaltungsmöglichkeiten in der Kirchenvorstandsarbeit sind so immens interessant, dass bei jüngst zurückliegenden Kirchenvorstandswahlen nicht wenige Kirchengemeinden noch nicht einmal ihre Kandidatenlisten haben füllen können. Auch bei den Reformdebatten wird auf Kirchentagen und anderen Orten stets die „Beteiligung der Basis“ und eine „dichte Rückmeldekultur“ eingefordert, doch die Entscheidungen werden immer wieder gern und ebenso leichtfertig an Hauptamtliche abgetreten. Über die Gemeindefusion streiten sich so nur noch die betroffenen Pfarrerinnen und vom EKD-Reformprozess haben sich zwischenzeitlich die meisten demokratisch legitimierten Gremien mental verabschiedet.

Würden wir im evangelischen Bereich eine etablierte Basisbewegung haben, so würde sie mit Sicherheit kritisieren, dass man inzwischen versucht, unter der Mogelpackung „Kirche im Aufbruch“ die todgeredete „Kirche der Freiheit“ wiederzubeleben, die spätestens seit dem ersten Kongress in Wittenberg jeden realistischen Basisbezug verspielt hat. Man würde auf dem Kirchentag nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand darüber sprechen, dass die Vorstellung von Best Practice Beispielen aus Gemeinden auf der EKD-Zukunftswerkstatt in Kassel zu einer Farce und einem einmaligen Strohfeuer zu werden droht: Wo „Gemeinde“ drauf steht, ist bei so manchem Beispiel keine echte Basisinitiative drin. Und eine nachhaltige Vernetzung mit bereits vorhandenen Basisinitiativen oder bundesweiten Netzwerken lehnen „die Macher“ aus dem Kirchenamt der EKD strikt ab. Man setzt lieber auf die durch viele Ausschüsse gefilterten „politisch korrekten“ Beispiele auf kopierten Internetseiten, statt der Dynamik einer Basisbewegung freien Lauf einzuräumen.

Mit Sicherheit ist dies eines der Erfolgsgeheimnisse, warum Bewegungen um die Theologie der Befreiung in Lateinamerika oder die Basisimpulse einer internationalen KirchenVolksBewegung in der römischen Weltkirche einen solch langen Atem haben: Erfolgreiche Reformbewegungen wachsen von „unten“ – Reformen können eben nicht von „oben“ verordnet werden, dies wird langsam auch in so manchem Landeskirchenamt verstanden und deshalb bleibt mir persönlich die Hoffnung, dass diese Einsicht und Weitsicht auch einmal das Kirchenamt der EKD erreicht.

„Warum gibt es in der evangelischen Kirche eigentlich keine KirchenVolksBewegung?“, fragt mich ein interessierter evangelischer Besucher in der letzten Fragerunde am Jakobsbrunnen. Das ist wahrlich eine gute Frage! Zum einen lassen wir uns vielleicht zu leicht damit zu frieden stellen, dass wir dank der synodal-presbyterialer Ordnungen und Kirchenverfassungen strukturell ein Quantum Trost an „mehr“ an Beteiligungsmöglichkeiten haben, was Entscheidungsfindungen gelegentlich allerdings auch entsprechend aufwändig, langwierig und schwierig gestaltet. Zum anderen ist aber vermutlich auch die Not in den Landeskirchen noch nicht groß genug, um die Mitglieder entsprechend zu mobilisieren. Dieses Phänomen kennen wir von vielen vakanten Kirchengemeinden: Sobald ein neuer Pfarrstelleninhaber die Vakanz beendet, bricht das ehrenamtliche Engagement wieder zusammen, denn entweder verlassen sich alle Aktivposten wieder auf die bezahlte Fachkraft als den schon zitierten „Alleinunterhalter“ oder aber der Pfarrer selbst verhindert schleunigst jede Eigeninitiative unter den einfachen Kirchenmitgliedern.

Das auch in den Gliedern evangelischer Kirchen mehr Potential stecken kann, wurde jüngst an einem kleinen Beispiel in der sonst harmonischen Oldenburgischen Kirche deutlich. Aus Protest trat die gesamte neunköpfige Mitarbeitendenvertretung zurück, um pressewirksam auf Missstände aufmerksam zu machen.

Eigentlich stellt sich nur noch die Frage, wann die bisher eher schweigende Masse an ehrenamtlich Aktiven ihre ganz eigenen Vorstellungen über die Zukunft der Kirche formieren und das „Protestieren“ wiederentdecken, um der Bezeichnung als Protestanten von neuem alle Ehre zu erweisen.

Aber so lange sich Forderungen nach mehr Beteiligung und Demokratie in der Kirche nicht vernetzen, wird es auch keine evangelische KirchenVolksBewegung geben. Schließlich hat uns die Reformation Martin Luthers anstelle des einen Papstes in Rom das Papsttum der vielen Talarträger gebracht, und offenbar scheint die Mehrheit im deutschen Protestantismus mit diesem Modell von Kirche glücklich und zufrieden zu sein.
http://www.netzwerkkirchenreform.de/uploads/media/KircheBewegen_2009_2_I.pdf

Zuletzt geändert am 03­.07.2009