21.10.2009 - Mainpost Würzburg

Ist der Zölibat noch zeitgemäß? Die Einsamkeit katholischer Priester

Nach der Suspendierung des Hammelburger Pfarrers Michael Sell plädieren Kirchen-Reformer für eine freie Wahl der Lebensweise.

Sie sollen Menschenfischer sein, Halt geben, da sein für die Männer und Frauen in ihren Gemeinden, und dann, wenn es Abend geworden ist, kehren die Priester heim in leere Pfarrhäuser, wo niemand wartet – außer Gott. Gott ist da, sicher. Aber Menschen, so sagt es Christian Weisner aus München, Sprecher der Bewegung Wir sind Kirche, „sind auf der Suche nach einer dauerhaften Beziehung, haben grundsätzlich den Wunsch nach Beständigkeit, nach Treue“. Da könnte die christlich gelebte Ehe eines Priesters, „ein besonderes Zeichen sein“. Priester und Familie – seit in der vergangenen Woche der Fall des Hammelburger Pfarrers Michael Sell publik wurde, der sich zu seiner Freundin und dem gemeinsamen Kind bekannt hatte, bewegt das Thema Zölibat die Menschen nicht nur in Unterfranken.

Für Weisner, dessen Organisation keine Denkverbote beim Zölibat und eine freie Wahl der Lebensweise fordert, ist die Einsamkeit der entscheidende Grund für den akuten Priestermangel. In Zeiten, in denen ein Pfarrer immer mehr Gemeinden betreuen müsse, führe die Beziehungslosigkeit dazu „oft zu Burn-out-Syndromen oder Alkoholproblemen“. In Wahrheit sei der Zölibat „längst schon eine Fiktion, de facto gibt es ihn nicht mehr“. Viele Priester würden den Schein nur „um des Himmelreichs willen“ wahren, und trotz dieses Konfliktes mit dem Kirchenrecht Beistand von den Gläubigen erfahren: „Die Menschen akzeptieren das und sind traurig, wenn ihnen der Pfarrer weggenommen wird.“ Schließlich sei die Eucharistiefeier für viele Bürger „Quelle und Höhepunkt“ ihres christlichen Lebens. Der Zölibat aber sei nicht nur der Grund für den Priestermangel hierzulande, sondern auch für die hohe Zahl an Kirchenaustritten: „Das liegt nicht nur an der Wirtschaftskrise, denn die Menschen sind ja in erhöhtem Maße bereit zu spenden“, sagt Weisner. Er sieht vielmehr eine „inhaltliche Diskrepanz zwischen Kirche und Zivilgesellschaft, da driftet etwas auseinander“.

Eine internationale Studie zweier US-Religionssoziologen aus den 90er Jahren zeigt, dass es in Deutschland 83 Prozent der Befragten befürworten würden, wenn Priester heiraten dürften. 2005 kamen die Meinungsforscher von Polis zu ähnlichen Ergebnissen: 78 Prozent der deutschen Katholiken sprachen sich für eine Lockerung des Ehe- und Sexualverbots aus, 77 Prozent hofften, dass künftig Priesterinnen zugelassen werden.

Mehr Probleme mit der Diskrepanz zwischen Gewähltem und Gelebtem hätten da schon die Priester, „die unter der Decke halten müssen und somit fast schon erpressbar sind“, sagt Christian Weisner. Es gibt Schätzungen, die gehen davon aus, dass zwei Drittel der Priester in einer Beziehung zu einer Frau oder einem Mann leben.


Einer, der all diese inneren Kämpfe ausgefochten hat, ist Claus Schiffgen. Der 46-Jährige war Priester in Nordrhein-Westfalen und wurde 1999 suspendiert. „Ich wollte immer Seelsorger sein“, sagt Schiffgen, „aber diese Aufgabe ist untergegangen in den ganzen Verwaltungsaufgaben.“ Dazu kam die Einsamkeit: „Als Pfarrer machst du im Gemeindeleben alles mit, und bist doch isoliert. Darunter habe ich gelitten.“ Heute ist er verheiratet und arbeitet nach seiner Laisierung als Religionslehrer am Gymnasium in Michelstadt und an einer Gesamtschule in Höchst/Odenwald. Schiffgen ist zudem Vorsitzender der Vereinigung katholischer Priester und ihrer Frauen. „Wir geben Ratschläge, wie's weiter geht und worauf man im Umgang mit den Kirchenbehörden achten muss, damit man nicht untergebuttert wird“.

Natürlich hat er vom Fall Sell gehört, ein Fernseh-Team des Hessischen Rundfunks hat ihn auch schon besucht. „Das Thema Zölibat“, sagt Schiffgen, „ist ein ja Dauerbrenner“. Allein in den vergangenen zehn Jahren, das belegen Statistiken der Deutschen Bischofs-Konferenz, sind 223 Priester in Deutschland aus ihrem Amt ausgeschieden, „und weit über 90 Prozent von ihnen nur deshalb, weil sie den Zölibat nicht mehr leben können“.

Die Art, wie der Hammelburger Michael Sell nun vehement in die Öffentlichkeit drängt, „ist zwar nicht ganz mein Geschmack, denn die ,Bild'-Zeitung ist nicht dafür bekannt, dass sie viel zur Aufklärung beiträgt“, aber das Öffnen „ist auch ein großer Hilfeschrei“. Eine öffentliche Diskussion hält Schiffgen für enorm wichtig, „denn erstaunlich viele wissen nicht, wie mit den Betroffenen umgegangen wird“. Schließlich sei es nicht zu vermitteln, warum beispielsweise evangelische Priester, die verheiratet sind und Kinder haben, nach einer Konvertierung zum Katholizismus ihren Familienstand behalten dürfen, „katholische Pfarrer, die heiraten wollen, aber aus der Kirche rausgeschubst werden und vor dem Nichts stehen. Das ist ein Skandal“.

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„Der Zölibat ist längst eine Fiktion, de facto gibt es ihn nicht mehr.“
Christian Weisner Sprecher von „Wir sind Kirche“

Zuletzt geändert am 21­.10.2009