5.11.2009 - Rheinischer Merkur

„Wir lassen uns nicht mehr los“

Zehn Jahre nach der Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre suchen die Verantwortlichen in Augsburg nach Impulsen für die Zukunft.

VON GERD FELDER

Im Hof der evangelischen Kirche St.Anna in Augsburg, nur wenige Meter von der Stelle entfernt, an der vor zehn Jahren die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GE) von Lutherischem Weltbund und römisch-katholischer Kirche unterzeichnet wurde, ist eine Wand aufgestellt, an der viele Zettel hängen. Dort haben Einheimische und Besucher der Stadt ihre Kommentare zur Gemeinsamen Erklärung abgegeben. „Es hat so gut begonnen, aber leider sind wir nicht sehr viel weiter gekommen“, heißt es oder: „Lasst uns im Gespräch bleiben!“, „Wir freuen uns heute noch wie vor zehn Jahren“ und „Ich habe den Eindruck, dass sich in den letzten zehn Jahren nicht viel bewegt hat“.

Solchen teils kritischen Tönen zum Trotz trafen sich am vergangenen Wochenende, genau zehn Jahre nach der Unterzeichnung, die Spitzenvertreter von Lutherischem Weltbund und katholischer Kirche mit Methodisten und hohen Repräsentanten der Orthodoxie in Augsburg, um an das historische Ereignis von 1999 zu erinnern und es als Meilenstein der Ökumene zu feiern.

Von Anfang an geben die beiden Partner von damals – Generalsekretär Ishmael Noko vom Lutherischen Weltbund und Walter Kardinal Kasper, Präsident des Päpstlichen Einheitsrates, die Linie vor: „Die Gemeinsame Erklärung hat uns einen wesentlichen Schritt nähergebracht“, sagt Kasper. „Unsere Beziehungen haben eine neue Qualität erhalten, und das merkt man bei allen Konferenzen. Auf verschiedenen Ebenen ist viel geschehen.“ Inzwischen würden die Grundfragen der Rechtfertigungslehre weiter untersucht, die Arbeit an der Ämterfrage und der Ablasslehre werde weitergeführt, und man habe eine gemeinsame Kommission eingesetzt, die das biblische Verständnis der Rechtfertigungslehre genauer untersuchen solle, ergänzt Noko. 2006 habe auch der Weltbund der methodistischen Kirchen die Erklärung unterzeichnet. Insofern sei die Erklärung zugleich ein Endpunkt von 50 Jahren akademischem Disput und ein Ausgangspunkt für weitere Diskussionen.

„Von einem Stillstand oder gar einer Eiszeit in der Ökumene zu sprechen ist deshalb ignorant.“ Immer wieder wird Kasper diesen Satz an den beiden feierlichen Tagen von Augsburg geradezu beschwörend wiederholen. Natürlich gebe es Widerstände, Rückschläge, Kritik und Irritationen, räumt der „Ökumene-Minister“ des Vatikans ein. Auch er hätte sich mehr und manches schneller gewünscht. „Aber in Deutschland werden die Ergebnisse des internationalen Dialogs kaum zur Kenntnis genommen.“ Die katholische Kirche jedenfalls sei entschlossen, diesen Weg weiterzugehen, auch und gerade mit den Protestanten, versichert Kardinal Kasper.

Und noch ein zweiter Satz wird bei den Feierlichkeiten ständig in Variationen wiederholt. So sagte der evangelische Landesbischof von Bayern und Leitende Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, Johannes Friedrich: „Gemeinsam stehen wir vor der Aufgabe, die Rechtfertigungsbotschaft für die Gegenwart neu zu erschließen, sie in unseren Kirchengemeinden konkret zu verkündigen und lebendig zu bezeugen.“ Genau diesen Versuch, die Botschaft der Rechtfertigungslehre ins Heute zu übersetzen, unternimmt der renommierte evangelische Theologe Eberhard Jüngel, einst ein engagierter Kritiker der Gemeinsamen Erklärung, bei einer Feierstunde im Goldenen Saal des Augsburger Rathauses.

Auf philosophisch-poetische Weise setzt Jüngel bei der Sehnsucht jedes Menschen nach dem Glück an und kommt mit Augustinus zu dem Ergebnis: „Wer einen gnädigen Gott hat, der ist glückselig.“ Arm zu sein und zu leiden – darin bestehe für Jesus in einer Art „Umwertung aller Werte“ das Glück. Dieses Glück aber könne der Mensch nicht selbst erreichen, sondern es werde ihm zugesprochen. „Des Menschen Glück besteht darin, uneingeschränkt Ja sagen zu können, zu sich selbst und zu allem, was ist.“ Seine Seligkeit aber bestehe darin, selbst da, wo man Anlass zur Klage habe, noch Ja sagen zu können, sagt Jüngel.

Konkret und allgemein verständlich wie kaum ein anderer geht am anderen Morgen der frühere langjährige Bischof der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland, Walter Klaiber, an eine zeitgemäße Erschließung der Rechtfertigungslehre heran: „Manchmal hat man den Eindruck, durch die Gemeinsame Erklärung sei ein uralter Familienstreit, den keiner mehr so recht verstand, endlich beigelegt worden, sodass sich nun jeder für sich den wirklich aktuellen Problemen zuwenden kann“, sagt Klaiber in wohltuender Offenheit. „Die Gemeinsame Erklärung gibt wenig Impulse für die heutige Verkündigung.“ Leider sei bei der Übersetzung der Rechtfertigungslehre in heutige Sprache noch nicht viel geschehen. Vom biblischen Befund her aber ist für den Neutestamentler Klaiber die Sache ganz klar: „Rechtfertigung ist der Freispruch zu einem Leben mit Gott.“

Diese Botschaft spreche jeden persönlich an und rufe dazu auf, sich ganz für Gottes rettendes Handeln in Christus zu öffnen. Gerade das aber mache es heute zumindest in Mitteleuropa schwierig, die Rechtfertigungsbotschaft weiterzugeben, weil die Menschen hier sich nicht um ihr Geschick im Jüngsten Gericht, sondern um Gesundheit und Auskommen sorgten. Und dennoch seien gerade hier viele dauernd dabei, ihre Existenz zu rechtfertigen – durch Leistung, Erfolg, Besitz oder Sexappeal. „Selbstrechtfertigung ohne und gegen Gott ist auch heute noch eine falsche Grundeinstellung. Darum braucht auch unsere Zeit keine Botschaft so nötig wie die Predigt von der Rechtfertigung allein aus Gnaden“, sagt Klaiber.

Zwar stellten die meisten Menschen nicht die Frage nach einem gnädigen Gott, aber sie sehnten sich nach ihm als Gegenüber, das sie wahrnehme und bejahe. „Die Rechtfertigungsbotschaft ist brandaktuell“, so Klaiber. „Die Menschen brauchen nichts nötiger als den Freispruch zum wirklichen Leben und den Zuspruch von Gottes Ja, das ihrem Leben den unschätzbaren Wert und die Würde schenkt.“ Insofern sei die Rechtfertigungsbotschaft die Antwort auf die geheime oder offene Lebensfrage vieler.

Für den Mainzer Bischof Karl Kardinal Lehmann ist die Erklärung ein entscheidender Schritt, der in seiner Bedeutung längst noch nicht eingeholt sei, ein großes Erbe und bleibendes Aufbruchssignal. Auch die Rezeption sei unter vielen Perspektiven gut verlaufen; so sei das Dokument auch weit in interessierte ökumenische Kreise hineingetragen worden. „Manche Theologen haben allerdings maßlos kritisiert“, bemängelt der Bischof von Mainz ähnlich wie Kasper. „Was sie vergessen, ist: Es gibt keinen stetigen Fortschritt in ökumenischen Konsensbemühungen.“ Auch hätten einige einen falschen Begriff von Konsens, der keineswegs mit völliger Übereinstimmung oder Uniformität gleichzusetzen sei. Ein differenzierter Konsens sei aber als Ausdruck der Gemeinsamkeit völlig ausreichend, so Lehmann. „Wir überschätzen uns in Deutschland auch manchmal. Wir sind nicht der ökumenische Nabel der Welt.“ Auch sei es nicht fair, die ausbleibenden Konsequenzen der Erklärung anzulasten. Polemik gegen die Konsensökumene weist der Mainzer Bischof entschieden zurück. Zweifelsohne berge die Rechtfertigungsbotschaft ein großes Potenzial als Quelle für die Einheit der Christen.

Doch es bleibt in Augsburg nicht nur bei Worten, die ausgetauscht werden. Am Morgen stimmen alle Versammelten den Kanon „Lobet und preiset ihr Völker den Herrn an“, und mittags wird die Versöhnung ganz praktisch, als Noko sich bei den Mennoniten für das historische Unrecht der Verfolgung durch die Lutheraner entschuldigt. Am Nachmittag bildet ein ökumenischer Festgottesdienst im Augsburger Dom den Abschluss und Höhepunkt der Feierlichkeiten.

Aller Festfreude und Einigkeit zum Trotz aber holt Kardinal Kasper zu einer überraschend scharfen Kritik an der evangelischen Kirche aus. „Es ist ein Trauerspiel, dass in Deutschland keine gemeinsame Bibelübersetzung gelingt“, kritisiert er den Rückzug der EKD aus der Revision der Einheitsübersetzung, um dann unter Anspielung auf Bischof Wolfgang Hubers „Ökumene der Profile“ hinzuzufügen: „Gemeinschaft geht nicht, indem wir uns profilieren und uns selbst als ökumenischen Weltmeister, den anderen aber als Sündenbock hinstellen.“

Noch deutlicher wird er im abschließenden Festgottesdienst, in dem er den Kritikern der Gemeinsamen Erklärung „gottloses Gejammere“ und „elende Miesmacherei“ vorwirft, während draußen vor der Tür die Kirchenvolksbewegung „Wir sind Kirche“ bei einer Mahnwache unbeeindruckt „Abendmahlsgemeinschaft jetzt“ fordert.

Und wie geht es weiter? Auch Kasper weiß, dass es noch Stolpersteine und ungelöste Probleme gibt. Er fordert, die gemeinsame Bibelarbeit wieder mehr ins Zentrum des ökumenischen Engagements zu stellen. Darüber hinaus sei es eine dringende Aufgabe, die ethischen Konsequenzen der Gemeinsamen Erklärung zu bedenken. Auch eine geistliche Ökumene sei nötiger denn je. Darüber hinaus stehen weitere konkrete Schritte an: So befürworten Kasper, Lehmann und Klaiber sogenannte „In-via-Erklärungen“, also verbindliche Zwischenbilanzen ökumenischer Zwischenergebnisse, etwa in Bezug auf den missionarischen und diakonischen Dienst in der Welt oder auch in Sachen Abendmahl und Eucharistie.

So haben die Jubiläumsfeierlichkeiten von Augsburg, die – noch stärker als vor zehn Jahren – bedauerlicherweise wieder (fast) nur von Spezialisten und Insidern des ökumenischen Gesprächs besucht wurden, einige neue Impulse gesetzt und Anstöße für die Zukunft gegeben. „Wir haben uns vor zehn Jahren die Hand gereicht und lassen uns nicht mehr los.“ Dieses Versprechen Kaspers wird die Augsburger Tage überdauern.

Zuletzt geändert am 05­.11.2009