10.2.2010 - Neue Westfälische

Teufelskreis Missbrauch

Bielefelderin ist Internatssprecherin am Jesuitenkolleg St. Blasien

VON MATTHIAS BUNGEROTH UND HUBERTUS GÄRTNER Bielefeld. Nach dem Bekanntwerden von Missbrauchsfällen an Jesuitenschulen begann am Canisius-Gymnasium in Berlin der Unterricht wieder – unter Polizeischutz. Zwei Pater sollen dort jahrelang Schüler missbraucht haben, von 30 Opfern ist in Berlin die Rede. Doch die Taten sind wahrscheinlich verjährt, wie die Staatsanwaltschaft mitteilte.

Insgesamt stehen laut Spiegel etwa 100 Mitarbeiter katholischer Schulen unter dem Verdacht, an Missbrauch beteiligt gewesen zu sein. In Bonn trat gestern Abend der Rektor des Aloisius-Kollegs wegen der Vorfälle zurück – im "Interesse der Aufklärung" und weil ihm vorgeworfen wurde, Mitwisser zu sein. Bei Rechtsanwältin Ursula Raue, die die Berliner Fälle im Auftrag des Jesuitenordens untersucht, melden sich immer mehr Opfer sexueller Übergriffe. Am 22. Februar will die deutsche Bischofskonferenz in Freiburg hierüber sprechen.

Vor etwa einer Woche erfuhr die Bielefelderin Marie-Sophie Grünewälder, dass es auch an ihrer Schule, dem renommierten Jesuitenkolleg St. Blasien im Schwarzwald, Fälle von Missbrauch durch einen Jesuitenpater gegeben haben soll. "Das war ein großer Schock für alle", sagt die Sprecherin des Mädcheninternats dieser Zeitung. Zölibat in der Diskussion Die Schüler seien in einer Versammlung darüber informiert worden, dass sich die Fälle in den Jahren 1982 bis 1984 ereignet haben sollen. Näheres sei mit Hinweis auf den Schutz der Opfer nicht mitgeteilt worden. "Es ist noch nicht alles erklärt." Es habe danach auch Gruppengespräche zu dem Thema gegeben, so Grünewälder. Ebenso sei darüber in den Klassen gesprochen worden. Es stelle sich etwa die Frage, ob das Problem etwas mit dem Zölibat zu tun habe.

Grünewälder fragt sich besonders, "warum das so lange verdeckt bleiben konnte". Angemessen und offen gehe man jetzt in der Eliteschule mit dem Problem um, findet sie: "So, wie sie es macht, ist es gut." Denn man setze sich sehr kritisch mit allen Fragen auseinander. Gleichwohl stellt Grünewälder mit Blick auf die Jesuiten insgesamt fest: "Der Orden hat jetzt einen Schaden genommen."

Bisher hat Grünewälder allerdings noch keine Kenntnis davon, dass Schüler wegen der Missbrauchsfälle das Jesuitenkolleg St. Blasien verlassen wollen. Auch die Anmeldezahlen des kommenden Jahrgangs werden nach ihrer Einschätzung nicht einbrechen. "Der Großteil wird weiterhin kommen."

Vatikan trägt zentrale Verantwortung

Die Kirchenvolksbewegung "Wir sind Kirche" ruft in der aktuellen Missbrauchsdebatte dazu auf, "endlich die tieferen strukturellen Ursachen in den Blick zu nehmen". Ohne eine grundlegende Einstellungsänderung zur Sexualität werde sich "der Teufelskreis von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt in der römisch-katholischen Kirche nicht durchbrechen lassen", sagte ihr Initiator Christian Weisner dieser Zeitung. Eine "zentrale Verantwortung" trage der Vatikan, der im Jahr 1962 in dem streng vertraulichen Dokument "Crimine Sollicitationis" alle Bischöfe angewiesen habe, sexuelle Vergehen von Priestern "mit größter Geheimhaltung" innerkirchlich zu verfolgen. Gleichzeitig seien die Missbrauchsopfer unter Drohung der Exkommunizierung zum Stillschweigen verpflichtet worden. Papst Benedikt XVI. habe als Kardinal Josef Ratzinger noch 2001 die weitere Gültigkeit dieser Regelungen verfügt, betonte Weisner.

Die nun bekannt gewordenen Missbrauchsfälle seien "leider wohl wieder nur die Spitze eines Eisberges", glaubt auch der Bielefelder Manfred Dümmer, Sprecher von "Wir sind Kirche" im Erzbistum Paderborn. Brümmer schätzt, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt. "Es passiert immer wieder, aber die Kirche ist nicht bereit, echte Konsequenzen zu ziehen und offen damit umzugehen", kritisiert er. Dümmer begrüßt, dass es "nun einige Schulleiter gibt, die in die Offensive gehen". Doch die Aufklärung müsste systematischer, "mit einer Art Untersuchungsausschuss", geschehen.

Zuletzt geändert am 10­.02.2010