12.2.2010 - Publik-Forum

Verschwiegen: Sexuelle Gewalt in der Kirche

Die römische Kirche hat Probleme mit ihren Klerikern. In Deutschland werden immer neue Fälle sexueller Gewalt aufgedeckt, die Priester an Kindern und Jugendlichen verüben.

Von Hartmut Meesmann und Thomas Seiterich

Erst Berlin, dann St. Blasien, Hamburg, Hildesheim, Göttingen, Bonn, Frankfurt. Klaus Mertes, Rektor des von Jesuiten geleiteten Berliner Elite-Gymnasiums Canisius-Kolleg (CK), tritt eine Lawine los, als er an jenem verschneiten Donnerstag vor zwei Wochen in der Bundeshauptstadt zu einer Pressekonferenz einlädt. Der 55-Jährige berichtet von Fällen sexuellen Missbrauchs an seiner Schule durch Lehrer seines Ordens in der Zeit zwischen 1975 und 1983. Zuvor bereits hatte der Jesuitenpater mehrere hundert ehemalige CK-Schüler in einem Brief ganz offen über den Skandal aufgeklärt und um Mithilfe bei der Aufdeckung dieser und ähnlicher Fälle gebeten. Mertes beendet das kirchliche Schweigekartell – ein völlig neues Verhalten in der katholischen Kirche, das dem Mann viel Respekt einbringt.

Was den Jesuiten und Priester am meisten betroffen macht: Kein Verantwortlicher damals hatte den Opfern geglaubt, als diese 1981 an die Schulleitung schrieben und den sexuellen Missbrauch durch die priesterlichen Lehrer anprangerten. Der Brief der Schüler sei verschwunden, »in einem Verlies«, wie Mertes bitter formuliert.

Doch der heutige Schulleiter ist willens, anders zu verfahren, den Opfern mehr zu glauben als den Tätern und den an der Vertuschung beteiligten ehemaligen Oberen seines Ordens. Diese hatten einzelne Täter von Berlin in andere Jesuitenschulen versetzt, ohne diese Schulen über das Fehlverhalten ihrer Ordensbrüder zu informieren. Ein typisch klerikales Verhaltensmuster: Hauptsache, das gute Ansehen des Ordens und seiner Schulen blieb intakt.

Zuerst die Opfer. Klaus Mertes nimmt die Richtlinien der Deutschen Bischofskonferenz »Zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz« aus dem Jahr 2002 ernst. Dort ist festgeschrieben, dass »die Fürsorge der Kirche zuerst dem Opfer gilt«. Diese neue Perspektive hatte Papst Johannes Paul II. vorgeschrieben, der sich seinerzeit über die schweren Missbrauchsfälle in den USA erschüttert zeigte. Der Wandel war das Ergebnis massiver Kritik durch eine kirchliche wie nichtkirchliche Öffentlichkeit. Denn zuvor – das belegen die jetzt bekannt gewordenen Missbrauchsfälle erneut – galt die Fürsorge der Kirche vor allem den Tätern, den Priestern. Sie wollte man schützen. Deshalb haben viele Verantwortliche geschwiegen und vertuscht. »Kleriker pinkeln sich doch nicht gegenseitig ans Bein«, wie Sigrid Grabmaier vom Bundesteam der Kirchenvolksbewegung Wir sind Kirche etwas spitz, aber zu Recht bemerkt hat.

Auch heute noch macht sich bei vielen Verantwortlichen nur langsam und gegen mancherlei innere Widerstände die Erkenntnis breit, dass ein solches Verhalten eine Verhöhnung der Opfer bedeutet und in einer sensiblen Öffentlichkeit keinerlei Verständnis erwarten kann.

Warum dieses Zögern, das erst langsam aufbricht? Weil die katholische Kirche vielfach noch immer eine Gefangene ihres verklärenden Klerikalismus ist. »Um das Priesteramt schwebt eine Sphäre des Heiligen und Unberührbaren«, kritisierte der Theologe Hermann Häring im Berliner Tagesspiegel. Diese Sakralisierung sei »vormodern und vom Neuen Testament nicht gedeckt«.Wenn sich diese Sakralisierung des Priesters dann noch mit einer nach wie vor verkrampften Einstellung zur Sexualität und vor allem zur Homosexualität verknüpft – Klaus Mertes spricht zu Recht von einer ausgeprägten Homophobie der Männerhierarchie –, dann ist ein sachgemäßer Umgang mit dem Problem des Missbrauchs kaum zu erwarten.

Da bekennende Homosexuelle – zumindest offiziell – nicht zum Priesteramt zugelassen sind, weil die Kirche praktizierte Homosexualität als Sünde verdammt, werden Männer, die in diesem Punkt verunsichert und suchend sind, aber gerne Priester sein wollen, kaum offen und ehrlich über ihr Problem reden können. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Abscheu vor der Homosexualität äußern dabei besonders oft Männer, die ihre eigene homosexuelle Veranlagung oder Neigung leugnen oder sich ihrer nicht bewusst sind.

Unreife Sexualität. Pädophilie gibt es überall. Sie ist kein besonderes Problem der katholischen Kirche, sondern zum Beispiel auch vieler Sportvereine. Den Statistiken nach sind die Täter häufiger hetero- als homosexuell. Zu Recht kritisiert der Augsburger Pastoraltheologe Hanspeter Heinz, dass in vatikanischen Dokumenten aus der jüngeren Zeit Homosexualität immer noch als Krankheit verunglimpft und für die Neigung zum sexuellen Kindesmissbrauch verantwortlich gemacht werde: »Das entspricht in keiner Weise den modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen.«

Die verordnete Ehelosigkeit, gepaart mit der großen Autorität, die Priester qua offiziellem Amtsverständnis noch immer haben, lockt vielfach gerade unsichere, sexuell unreife und beziehungsgestörte Persönlichkeiten an. Diese fügen sich ein in die straffe Hierarchie, zeigen sich brav und angepasst. Hermann Häring kritisiert daher die Priesterausbildung, die seinen Beobachtungen nach heute wieder mehr Unterordnung fordere: »Die Braven werden privilegiert und die Rebellen weggeschickt. So kann sich kein eigenständiger Lebensstil entwickeln.« Die kirchlichen Rahmenbedingungen erhöhten die Chance für einen Priester, »seinen Neigungen ungestraft nachzugehen«.

So war es in den USA mit Tausenden Missbrauchsopfern und in Irland mit rund 35 000 Fällen zwischen 1914 und 2000. Wenn die »geistlichen« Täter dann noch auf ungefestigte, autoritätshörige oder Geborgenheit und Anerkennung suchende Jugendliche treffen, nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Zu Recht verweist Bernd Göhrig, Geschäftsführer des Ökumenischen Netzwerks Initiative Kirche von unten, in diesem Zusammenhang auf die sexualpädagogische Kompetenz der katholischen Jugendverbände, die jedoch von den Bischöfen nicht abgerufen, sondern vielfach sogar abgelehnt werde. Vor allem kleinere Verbände seien prädestiniert »für eine genderorientierte Pädagogik mit dem Ziel, Kinder und Jugendliche stark zu machen, Nein zu sagen«, so Göhrig. Eine solche Pädagogik müsse auch finanziell gefördert werden. Darüber hinaus fordert Göhrig den »qualifizierten Aufbau und die umfangreiche Förderung einer Präventionsarbeit auf allen kirchlichen Ebenen, insbesondere in der Priesterausbildung, der Gemeinde- und Ministrierendenarbeit sowie die Aus- und Weiterbildung kirchlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter«.

Und die Täter? Was aber soll mit den Tätern geschehen? Der Berliner Sexualmediziner Klaus Michael Beier plädiert dafür, pädophile Priester im Amt zu belassen, sofern sie ihre Neigung kontrollieren könnten. Beier, Leiter des Forschungsprojekts für Pädophile »Kein Täter werden« an der Charité, fordert von der katholischen Kirche, betroffenen Geistlichen mehr Hilfen anzubieten, statt ihre Neigung nur zu verdammen. »Wenn potenzielle Täter wüssten, dass es ein Netz gibt, das einen auffängt, würden das viele in Anspruch nehmen«, so Beier.

Der Psychiater Norbert Leygraf, Mitarbeiter des Instituts für Forensische Psychiatrie an der Universität Duisburg-Essen, bescheinigt der Kirche laut Katholischer Nachrichtenagentur einerseits großes Engagement beim Kampf gegen den sexuellen Missbrauch durch Priester, aber auch zu große Ängstlichkeit und Vorsicht. Das Institut begutachtet im Auftrag der Kirche kirchliche Mitarbeiter, die verdächtigt werden, ein Sexualdelikt begangen zu haben. Das sollen in den vergangenen acht Jahren zwanzig Fälle gewesen sein. Leygraf betont, dass es nicht möglich sei, im Vorfeld festzustellen, ob jemand sexuell an Kindern interessiert sei. Nach seiner Darstellung muss in jedem einzelnen Fall entschieden werden, ob verdächtigte kirchliche Mitarbeiter weiter in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen beschäftigt werden dürften. Auf die Frage nach der Sicherheit einer psychiatrischen Prognose sagte der Arzt, er habe es noch nicht erlebt, das sich seine Vorhersage bei den kirchlichen Mitarbeitern als falsch erwiesen habe.

Der Theologe Hanspeter Heinz hält es dagegen für unverantwortlich, Priester, die sich des Missbrauchs schuldig gemacht haben, in einem ähnlichen Arbeitsfeld einzusetzen und ihnen erneut die Gelegenheit zu geben, Kinder und Jugendliche zu missbrauchen. Denn es sei doch bekannt, dass solche sexuellen Prägungen meist nicht mehr korrigierbar seien.

Langsames Umdenken. Für die katholische Kirche sind mit der Offenlegung unzähliger Missbrauchsfälle im Klerus schwere Zeiten angebrochen. Der Jesuitenorden sieht sich möglicherweise Zivilklagen und hohen finanziellen Entschädigungsforderungen gegenüber.

Die Deutsche Bischofskonferenz will über das heiße Thema auf ihrer Frühjahrsvollversammlung diskutieren. »Wir wollen Aufklärung, weil wir in der Schuld der Opfer stehen und alles tun wollen, um Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen«, erklärte der Sekretär der Bischofskonferenz, der Jesuit Hans Langendörfer. Er verweist darauf, dass die Kirche im sexuellen Missbrauch minderjähriger Schutzbefohlener eine Straftat sieht und den Tätern den Gang zur Staatsanwaltschaft nahelegt.

Das Erzbistum Berlin hat eine umfassende Aufklärung angekündigt und zu einer außerordentlichen Schulleiterkonferenz eingeladen. Dabei soll auch über mögliche vorbeugende Maßnahmen geredet werden.

Johannes Siebner, Direktor des Kollegs St. Blasien, hat wie sein Mitbruder Mertes ebenfalls öffentlich gemacht, dass ein Jesuitenpater zwischen 1982 und 1984 an der Schule mehrere Schüler missbraucht hatte. Er hofft, »dass nun ein Klima der Offenheit entstanden ist, in dem Opfer ihre bis heute währende Scham überwinden und, wenn sie das wollen, über das Erlebte sprechen können«.

Auch der Papst hat Zeichen gesetzt, indem er sich mit Missbrauchsopfern traf. Er hat »Zorn und Scham« über diese Geschehnisse geäußert. Die irischen Bischöfe hat Benedikt XVI. nach Rom zitiert, Rücktritte von verantwortlichen Bischöfen akzeptiert. Der Papst will eine – bislang nicht existierende – Haftung eines jeden Diözesanbischofs für seine Untergebenen festschreiben.

Richtlinien fortschreiben. Wichtig wäre jetzt, dass die Kirche die Forderung vieler nach Abschaffung der Verjährungsfrist nachdrücklich unterstützt. Denn die Verjährungsfrist prämiert – gewollt oder ungewollt – das Verschweigen der Taten. Auch die Richtlinien der deutschen Bischöfe zum Umgang mit Missbrauchsfällen, die einen ersten Fortschritt gebracht haben, müssen fortgeschrieben werden. Eine besondere Schwachstelle der Richtlinien ist die Tatsache, dass die von den Bischöfen jeweils ernannten Beauftragten meist Geistliche sind oder andere Angestellte des Bistums. Insofern ist keine Unabhängigkeit garantiert. Deshalb fordern Kirchenvolksbewegung und das Netzwerk Kirche von unten unisono die Einführung »unabhängiger Ombudsstellen« als Anwälte der Opfer anstelle der diözesanen Beauftragten, »um Einflussnahme und Parteilichkeit auszuschließen, und dies »in Kooperation mit kirchlich unabhängigen Beratungseinrichtungen«. Annegret Laakmann vom Wir-sind-Kirche-Bundesteam verweist in diesem Zusammenhang auf das im Jahr 2002 eingerichtete Notruf-Telefon als einer niederschwelligen Anlaufstelle mit Beratung.

Eine wichtige Rolle spielt in all diesen heiklen und die Glaubwürdigkeit der Kirche massiv infrage stellenden Fällen die Öffentlichkeit. Einerseits dürfte die Angst vor einer kritischen Öffentlichkeit den offensiven Umgang der Jesuiten mit dem Thema befördert haben. Man muss Enthüllungen heute mehr fürchten als früher.

Andererseits enthalten die römischen Ausführungsbestimmungen aus dem Jahr 2001 und die Richtlinien der deutschen Bischöfe den fatalen Satz: »Alle diese Vorgänge unterliegen der Geheimhaltung.« So richtig es ist, sensibel mit Tätern und Opfern umzugehen und nicht vorschnell zu urteilen – Geheimhaltung kann heute keine Devise mehr sein, schon gar nicht die Verpflichtung zum Stillschweigen unter Androhung der Exkommunikation. Die Geheimhaltung schadet allen Beteiligten mehr, als dass sie hilft. Da können Priester mit einem Partner Sex haben, eine Beziehung zu einer Frau unterhalten und Kinder in die Welt setzen – Hauptsache, es dringt nichts an die Öffentlichkeit. Diese Devise bestimmt noch immer das Verhalten vieler Verantwortlicher in den Bistümern. Dürften Priester verheiratet sein oder mit ihrem Freund zusammenleben, wie dies in der evangelischen Kirche vielfach möglich ist, dann gäbe es eine Reihe von Problemen nicht mehr.

Wenn der Jesuit und Pastoraltheologe Friedhelm Mennekes jetzt davor warnt, katholischen Pfarrern nicht zu trauen, dann schießt er gewaltig übers Ziel hinaus. Recht aber hat er mit seiner Aussage, dass die Zölibatsverpflichtung ausgedient hat und das Priesteramt für alle völlig neu konzipiert werden muss. »Sonst fährt das System an die Wand.« Und der Theologe und Psychologe Wunibald Müller, der in Münsterschwarzach Geistliche psychologisch und spirituell betreut, hält die Abschaffung des Zölibats und die Zulassung von Frauen zum Priesteramt sogar für eine gute »Form der Prävention«.

Zuletzt geändert am 29­.01.2014