3.3.2010 - Der Westen

Notruf hilft Opfern sexueller Übergriffe in der Kirche

Haltern. Annegret Laakmann von der Kirchenvolksbewegung „Wir sind Kirche” ist Mitbegründerin eines Not-Telefons, das Opfern sexueller Gewalt durch Priester oder Kirchen-Mitarbeiter zuhört. WAZ-Mitarbeiterin Irene Stock sprach mit der Kirchenfrau aus Haltern, die seit 2002 rund 300 Opfer betreut hat.

Von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche ist immer wieder die Rede gewesen. Ihr Not-Telefon gibt es seit 2002. Dennoch kommen erst jetzt viele Fälle aus der Vergangenheit auf den Tisch. Warum?

Annegret Laakmann: Das liegt zum einen daran, dass ein Jahr nach Gründung des Not-Telefons von einigen Kirchengemeinden Protest gegen die Veröffentlichung der Notrufnummer kam. Zum anderen ist die Sensibilität für das Thema größer geworden. Seitdem die Missbrauchsfälle in den 70er- und 80er-Jahren am Canisius-Kolleg in Berlin bekannt geworden sind, ist das Thema öffentlich geworden.

Wie entstand das Not-Telefon?

Nachdem Fälle von sexueller Gewalt von katholischen Priestern und Ordensleuten an Kindern und Jugendlichen in den USA 2002 bekannt wurden, hatte die KirchenVolksBewegung die Deutsche Bischofskonferenz zum Handeln aufgefordert. Nach dem Abwiegeln durch den Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenzen, Kardinal Lehmann, hat „Wir sind Kirche” gehandelt und das Not-Telefon eingerichtet.

Wie viele Opfer haben sich seit 2002 am Not-Telefon gemeldet und von sexuellem Missbrauch berichtet?

Das "Wir sind Kirche-Not-Telefon" wird von einem Netz psychologischer, therapeutischer, juristischer sowie medizinischer Beratern unterstützt, das von der KirchenVolksBewegung aufgebaut wurde. Bei dieser kirchlich unabhängigen Anlaufstelle können Kinder und jugendliche Opfer über ihre Verletzungen und Ängste sprechen. Im Telefongespräch, das auf Wunsch anonym bleibt, werden gemeinsam erste Schritte gesucht, um die Betroffenen aus ihrer Notlage herauszubringen. Aber auch für Täter, die ein erstes Gespräch zur Lösung Ihrer Probleme suchen, steht das Not-Telefon bereit. Das "Wir sind Kirche-Not-Telefon" ist seit 2002 unter der bundesweiten Rufnummer 0180/3000862 (9 ct pro Minute) oder per E-Mail an zypresse@wir-sind-kirche.de zu erreichen.

Es melden sich mehr, wenn neue Fälle wie jetzt am Canisius-Kolleg und im Bistum Münster bekannt werden. Insgesamt dürften es seit 2002 um die 300 Opfer sein. Zurzeit registrieren wir bis zu drei Anrufer täglich. Manche Opfer melden sich erst nach 20, 30, ja 70 Jahren.

Was wollen die Opfer von Ihnen?

Häufig haben sie über das Geschehene noch nie geredet und wollen nur darüber sprechen, was ihnen angetan wurde. Oft melden sie sich erst, wenn der Täter verstorben oder so weit weg ist, dass er ihnen nichts mehr anhaben kann.

Aber zeugt das nicht davon, wie groß die Macht der Täter über die Opfer immer noch ist?

Es geht ja immer um Situationen, in denen psychischer Druck auf die Opfer ausgeübt wurde, es geht um unangenehme Gespräche und Berührungen. Man darf allerdings nicht vergessen, dass aus Sicht der Kinder das, was der Priester tut, immer richtig ist. Das Bewusstsein, dass dort etwas Sexuelles passiert, haben Kinder nicht. Für sie ist es ein Verhalten im Rahmen einer Erziehungsmaßnahme.

Wie arbeitet das Not-Telefon?

Auf Wunsch bleiben die Anrufer anonym. Gesprächspartnerin ist eine für Kriseninterventionen geschulte Frau, die dem Opfer vor allem glaubt und zuhört. Gemeinsam überlegen sie, welche Hilfe sinnvoll ist. Zur Bearbeitung und Aufarbeitung des Geschehenen helfen wir bei der Suche nach einem Therapeuten.

Rufen nur Opfer an?

Nein. Es melden sich auch Eltern, die die Möglichkeit sexueller Gewalt durch Pfarrer oder andere im Kirchendienst an ihren Kindern vermuten oder sich sicher sind, dass sexuelle Gewalt an ihren Kindern ausgeübt wird. Es rufen auch Kinder und Jugendliche an, um sich auszusprechen und Rat zu holen. Und: Es melden sich Täter. Auffällig ist, dass sie keinerlei Unrechtsbewusstsein haben und sich rechtfertigen, indem sie das, was sie getan haben, als gute Beziehung darstellen zu einem Menschen, den sie lieb haben.

Die Missbrauchstaten sind inzwischen verjährt. Fordern Sie eine Aufhebung der Fristen?

Das ist ein Problem. In einem Prozess, in dem über sexuellen Missbrauch verhandelt wird, muss das Opfer genaue Angaben zu Zeit und Ort machen. Wer kann das schon nach so vielen Jahren? Wenn diese Daten aber nicht genannt werden können, reicht es nicht für eine Verurteilung. Wenn die Täter freigesprochen werden, ist den Opfern nicht geholfen.

Wie geht Ihre Arbeit weiter?

Wir müssen davon ausgehen, dass es weiterhin zu sexuellen Übergriffen kommt. Die Zahlen, wonach etwa zwei Prozent der Priester sich an Kindern oder Jugendlichen vergreifen, lassen keinen anderen Schluss zu. Darum ist eine Forderung von uns, die Ausbildung und Auswahl von Priestern und kirchlichen Mitarbeitern zu verschärfen, um den Umgang mit der eigenen Sexualität einzuüben und bei Problemen nicht alleine gelassen zu sein.

Zuletzt geändert am 03­.03.2010