9.3.2010 - Stuttgarter Nachrichten

„Aussitzen geht nicht mehr“ Die Kirchenvolksbewegung kritisiert die schleppende Aufklärung in der Katholischen Kirche

Von Markus Brauer

STUTTGART. Die katholische Basisbewegung Wir sind Kirche fordert Rechenschaft von Papst Benedikt XVI., der von 1978 bis 1981 Erzbischof von München und Freising war. Was hat er von den Missbrauchsfällen gewusst, und wie hat er gehandelt?

Herr Weisner, Sie haben wegen des Skandals im Kloster Ettal Vorwürfe gegen Joseph Ratzinger, den früheren Münchener Erzbischof und heutigen Papst erhoben ...

Es geht nicht um Vorwürfe. Wir wünschen uns aber, dass der Papst sich erklärt. Wenn er dies nicht tun kann, sollten seine Nachfolger in München, Kardinal Friedrich Wetter und Erzbischof Reinhard Marx, offenlegen, wie damals solche und ähnliche Fälle im Münchner Erzbistum behandelt wurden.

Was hat Ratzinger als zuständiger Erzbischof von den Missbrauchsfällen wissen können?

Nach den Anweisungen des Vatikans zum Thema Missbrauch durch Geistliche von 1962, die 2001 von Kardinal Ratzinger verschärft wurden, sind dies Vorfälle, die höchster Geheimhaltung unterliegen und dem Vatikan gemeldet werden müssen. Wenn dies so ist, muss doch wohl davon ausgegangen werden, dass der oberste Herr im Ordinariat darüber informiert gewesen sein muss.

Heißt das, die Bischöfe haben vom Missbrauch ihrer Priester Kenntnis?

In einer normalen Firma wird auch nicht der Pförtner oder nur ein Sachbearbeiter die schwierigen Personalfälle regeln. Die Katholische Kirche ist ein sehr strenges hierarchisches System, mit einer großen Vollmacht der hohen Kleriker. Dazu gehört dann aber auch eine hohe Verantwortung. Wenn die Informationen des Ettaler Klosters, die laut der Anweisungen nachRomgemeldet werden müssen, das Ordinariat erreicht haben, so müssten sie auch über die Unterschriftenmappe des Erzbischofs oder Kardinals gelaufen sein.

Demnach sind die Bischöfe ein Teil des kirchlichen Verschleierungssystems?

Wenn man System sagt, bedeutet dies, es gibt Anweisungen, Missbrauchsfälle zu vertuschen. Das will ich nicht behaupten. Man hat das Problem im Vatikan schon vor 50 Jahren erkannt. Allerdings sollte ganz geheim ermittelt werden. Dieses Denken steckt noch immer in den Köpfen der Bischöfe und ist von Ratzinger als Kurienkardinal 2001 bestätigt worden.

Die Oberhirten beteuern, dass Transparenz das Wichtigste sei, um das Missbrauchsproblem aufzuklären. Was ist davon zu halten?

Aussitzen geht nicht mehr. Allerdings gehört zum Erneuerungswillen mehr Aktivität, als die Bischöfe bis jetzt gezeigt haben. Nach Bekanntwerden der Missbrauchsfälle in den USA wurden 2002 die Leitlinien der deutschen Kirche zum Umgang mit Missbrauchsfällen beschlossen. Die Welle früherer Opfer, die sich melden, ist erst durch das mutige Vorgehen des Rektors des Berliner Jesuitenkollegs, Pater Klaus Mertes, an die Öffentlichkeit gekommen. Nun wird aber teilweise schon wieder zurückgerudert. Von eigenem Aufklärungswillen kann noch nicht die Rede sein. Das Ganze wird im Grunde nur gemacht, weil der kircheninterne und öffentliche Druck so groß ist.

Gehen Sie davon aus, dass auch Fälle aus neuerer Zeit ans Tageslicht kommen?

Das ist genau die Frage, die wir uns immer stellen. Wir reden jetzt über die Altfälle. Aufklärung der Vergangenheit ist wichtig, damit die Opfer sprechen können. Aber was ist mit der Gegenwart? Wir wissen es nicht. Heute wird glücklicherweise offener über das Thema geredet. Kinder und Jugendliche können heute deutlicher Nein sagen. Das begründet die Hoffnung, dass Missbrauch nicht mehr in dieser Fülle vorkommt.

Wie kann die Kirche ihre Glaubwürdigkeit zurückgewinnen?

Das Erste ist: den Opfern zuhören und ihnen Glauben schenken. Wir sind in der Phase, wo auch andere Opfer ermutigt werden, ihre Misshandlungserfahrung auszusprechen. Deshalb muss es in allen Bistümern niederschwellige Ansprechpartner für Missbrauchsfälle geben. Es kann nicht sein, dass ein Personalreferent oder Domkapitular am Telefon sitzt. Es reicht auch nicht aus, wenn in Pressekonferenzen eine Entschuldigung vom Blatt abgelesen wird. Die Kirche muss die Opfer um Verzeihung bitten und dafür nach neuen Ritualen suchen.

Vielfach hat man den Eindruck, dass die Bischöfe das lästige Thema aussitzen wollen.

Die Beharrungskräfte in der Kirche sind groß. Es setzt der Reflex ein, dass diejenigen, die um Aufklärung bemüht sind, als Nestbeschmutzer diffamiert werden. steckt noch immer in den Köpfen der Bischöfe und ist von Ratzinger als Kurienkardinal 2001 bestätigt worden.

Zuletzt geändert am 09­.03.2010