15.7.2010 - www.spiegel.de

Missbrauchsnotruf-Betreuerin:Gedächtnis der gequälten Seelen

Von Barbara Hans, München

Der sexuelle Missbrauch hat die katholische Kirche erschüttert - kaum jemand weiß das besser als Katharina B. Sie betreut den Notruf von "Wir sind Kirche". Besuch bei einer Frau, die Hunderten Opfern zugehört hat. Und nicht länger schweigen will.

Die Frau, deren wahren Namen niemand kennt und die bei der Arbeit stets nur mit ihrer sanften, tiefen Stimme in Erscheinung tritt, hat große, wache Augen. Sie wohnt in einem schönen Haus irgendwo in Süddeutschland, im Garten blühen Bartnelken, auf dem Nachbargrundstück kräht ein Hahn, zur vollen Stunde läuten Kirchenglocken. Ländliches Sommeridyll.

Jeder kennt hier jeden, man grüßt freundlich auf der Straße, schwätzt und bemerkt, wenn die Gardinen einmal nicht bereits morgens aufgezogen, die Betten nicht gemacht worden sind oder gar auswärtiger Besuch zu Gast ist. Es gibt wenig, was man nicht weiß voneinander.

Doch von dem Leben, das die Frau in dem schmucken Haus führt, ahnt hier niemand etwas. Weder Nachbarn noch Verwandte oder enge Freunde. Nur manchmal dringt etwas aus den dicken Wänden nach draußen. Dann stört laute Musik die Ruhe im Dorf, hallt die kehlige, sonore Stimme von Louis Armstrong durch die Straßen, die eigentlich eher Wege sind: "What a wonderful world."

Während Armstrong singt, der Blues durch die offenen Fenster wabert, sitzt die Frau, die sich Katharina B. nennt, 68 Jahre alt, Rentnerin, auf einer Bank vor ihrem Haus, raucht selbstgedrehte Zigaretten und versucht zu vergessen, was sie gerade wieder gehört hat. Die schöne Musik übertönt Geschichten, die in ihrer Grausamkeit so unbeschreiblich sind, dass man sie kaum in Worte fassen kann.

Seit Anfang des Jahres immer mehr Fälle sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche öffentlich wurden, steht das Telefon nicht mehr still. Bis zu zehnmal am Tag ist Katharina B. in den Flur gegangen, hat den tragbaren Apparat von der Station genommen, sich mit ruhiger Stimme gemeldet: "'Wir sind Kirche'-Notruf, Hallo?"

"Meine Seele ist eine stinkende Zwiebelblume"

Dann hat sie stundenlang zugehört: Opfern, Müttern, Partnern - und auch Tätern. Kaum ein Gespräch, das weniger als 60 Minuten dauerte, kaum ein Wochenende, an dem sich niemand meldete. B. gibt Nummern von Psychologen und Beratungsstellen weiter, auf Wunsch der Opfer meldet sie den Namen des Täters ans Bistum.

Unzählige Stunden hat sie am Telefon verbracht, zugehört. Und täglich kommen weitere dazu. "Es hört einfach nicht mehr auf", sagt Katharina B. Für viele Opfer ist sie das Ohr zur Welt.

Manche Geschichten kann sie nicht vergessen. Die Dame, heute 86, die vor acht Jahrzehnten missbraucht wurde und sich noch heute an jedes Detail erinnert, weil sich die Tat in ihr Hirn gebrannt hat. Der Mann, der als Junge von einer Nonne erst verprügelt wurde, bevor sie ihm kräftig in den Schritt langte und ihn befingerte. Als sich dort nichts regte, ging sie dazu über, ihn weiter zu schlagen, ins Gesicht, zur Strafe. "Jetzt sind die Kinder von damals erwachsen und haben nie wirklich gelebt", sagt B.

Sie hat unzählige solcher Geschichten gehört, penibel auserzählt, in allen Details. Mosaiksteinchen einer unvorstellbaren Pein. Mit rund 400 Opfern hat sie in den vergangenen acht Jahren geredet, doch ihre Wut ist noch immer ungebremst. Jede einzelne Tat befeuert ihren Eifer. B. spricht von den "Scheißkerlen", den Kirchenmännern und -frauen, die "Kinderseelen töteten". Eine Betroffene hat einmal zu ihr gesagt: "Meine Seele ist eine stinkende Zwiebelblume."

In den vergangenen Wochen hat Katharina B. festgestellt, dass sich etwas in die Verzweiflung der Opfer mischt: Wut. Viele haben sich erst an die offizielle Hotline der Kirche gewandt - und später an "Frau Katharina", wie sie sich am Telefon nennt.

Je mehr Zeit verstreicht, desto größer ist die Enttäuschung der Opfer, dass noch immer nichts geschehen ist, dass sie noch immer keine Entschädigungen erhalten haben, dass der Prozess zäh und langsam ist, dass die Kirche ihrem Empfinden nach nicht kooperiert, sondern inszeniert. Vor allem sich selbst.

"Sie fühlen sich im Stich gelassen", sagt Katharina B. Und noch viel schlimmer: "Sie fühlen sich nun, da sie endlich gesprochen haben, ein zweites Mal missbraucht." Für viele Betroffene ist es ohnehin schwierig, Hilfe bei der Institution zu suchen, deren Opfer sie einst wurden.

"Da platz ich vor Wut", sagt B. Sie will, dass sich die Hotlines koordinieren, dass man zusammenarbeitet, um den Opfern zu helfen.

Das Klingeln - eine Mischung aus Mahnung und böser Vorahnung

Die Musik verscheucht die Gedanken aus ihrem Kopf, je lauter sie ist, desto besser, desto leiser werden die Geschichten, die sie gehört hat. Manchmal legt sie sich auf das dunkel gemusterte Sofa im hinteren Teil des Hauses und liest ein Buch, Belletristik, nichts Anspruchsvolles. Oder sie kocht Milchreis, eine große Portion Nervennahrung.

Dann durchbricht das schrille Klingeln des Telefons den Frieden der lauten Musik und des Zigarettenqualms. Katharina B. mag das Klingeln nicht, sie sagt, es habe etwas Bedrohliches. Ein Glockenläuten, schrill und aufdringlich, das mit der Zeit ansteigt, lauter und lauter wird, ein Crescendo, das schließlich fiept im Ohr. Ein Geräusch, das schmerzt.

B. hat das Telefon extra so eingestellt, das Schellen ist eine Mischung aus Mahnung und böser Verheißung.

Manche rufen unter einem Vorwand an, andere sprechen gar nicht. In der Leitung knarzt es, dann räuspert sich jemand, manchmal nur die Ansätze von Wörtern, zusammenhanglos, vage. Es ist für die Betroffenen auch nach Jahrzehnten oft unmöglich, das Erlebte in Worte zu fassen. Die allermeisten öffnen sich gegenüber Katharina B. zum ersten Mal, nachdem sie jahrelang stumm waren vor Scham und Misstrauen.

Und bei denen, die schon in der Vergangenheit versucht haben, sich das Geschehene von der Seele zu reden, hat sich vor allem ein Eindruck festgesetzt: das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. "Ich mache ihnen klar, dass sie als Opfer unschuldig sind."

"Wenn ich austrete, kann ich ihm gar nicht mehr ans Bein pinkeln"

Katharina B. formuliert akkurat, schnitzt jeden einzelnen Satz mit großer Präzision, das ist ihr Kapital. Es können Halbsätze sein, die einen Redefluss am anderen Ende des Hörers vertrocknen lassen, die ein gutes Gespräch abrupt beenden. Es ist ein sorgsames Vor- und Abtasten, wie ein Blinder muss sich B. im Leben der Anonymen orientieren: Welche Frage kann ich stellen? Wie bringt man einen Mann, der vorgibt, den Missbrauch nur beobachtet zu haben, dazu einzugestehen, dass er selbst der Täter ist?

"Ich muss sie zum Reden bringen", sagt B. schlicht. Sie ist keine Psychologin, keine Therapeutin, keine Kirchenfrau, keine offiziell Beauftragte. Sie ist nur das Ohr des Elends. Frau Katharina läuft beim Telefonieren umher, mal sitzt sie in der Küche mit dem sperrigen Sofa, dann wieder im Arbeitszimmer, das bis unter die Decke voll ist mit Büchern. Manchmal, bei schönem Wetter, geht sie raus in den Garten. Aber nur, wenn nicht die Gefahr besteht, jemand könnte mithören.

Das, was B. erfährt, bleibt bei ihr. Sie läuft keine Gefahr, sich zu verplappern - denn niemand weiß, dass sie hier, in ihrer Oase der Ruhe, so etwas ist wie das Missbrauchsgedächtnis der katholischen Kirche. Bei ihr landen die Schandtaten, die Kirchenmänner und -frauen begangen haben. Und bei ihr, in diesem liebevoll eingerichteten Haus mit Backformen und Kreuzen an der Wand, versacken sie wie in einem Vakuum.

Aus dem Haus dringt nichts - nur die Musik, wenn B. einmal die Luft von draußen und die Musik aus den Boxen durch die Räume dringen lässt. Es ist, als würde sie ihre Seele durchlüften.

"Meine Kirche hat mich so enttäuscht"

Es gibt einen Ordner, schwarz und aus Plastik. Ein gelber Klebezettel ist darauf gepappt, auf ihm steht "Opfer!". B. macht sich verschlüsselte Notizen, denn sie weiß nie, ob jemand ein zweites Mal anrufen wird, oder gar ein sechstes und siebtes Mal. Die Notizen versteckt sie in einem Zimmer, das sie eigens abschließt, wenn sie nicht zu Hause ist. "Wenn ich einmal so alt bin, dass ich sterbe, werde ich all die Unterlagen verbrennen."

B. macht all das freiwillig, ehrenamtlich, unentgeltlich. Bis zu acht Stunden am Tag, in den Hochzeiten Anfang des Jahres hat sie sich wochenlang von Toastbrot ernährt. Sie hatte alles für das Mittagessen eingekauft, doch kaum lag das Schnitzel in der Pfanne, schrie das Telefon schon wieder. So blieb das Fleisch auf dem Herd liegen, roh und unbeachtet. Und B. telefonierte. Sie engagierte sich sogar eine Hilfe für den Garten. Der ist eigentlich ihr Fluchtpunkt, nie zuvor hatte die Rentnerin für die Arbeit fremder Unterstützung bedurft. Doch es war nicht mehr anders möglich.

Ettal, Canisius, die Regensburger Domspatzen - altehrwürdige Institutionen der katholischen Kirche wurden zu Chiffren des Missbrauchs. Beinahe täglich kamen neue Fälle ans Licht. An diesen Tagen im Frühjahr verlor B. ihr Gefühl für Zeit. Kaum hatte sie aufgelegt, klingelte das Telefon erneut. Manchmal bis abends um acht. Wenn sie nicht mehr konnte, schaltete sie den Anrufbeantworter ein. Sobald die rote Lampe blinkte, flammte auch ihr schlechtes Gewissen auf.

B. kämpft gegen die Institution Kirche, die Betroffene mit dürren Worten abspeist und den Missbrauchsskandal "aussitzen will", sagt sie. Sie kämpft gegen diese Kirche, weil sie "ihre Kirche" retten will. Als junge Frau hatte sie geschworen, auszutreten, sollte Josef Ratzinger, dieser Konservative, je Papst werden. Am Tag des Konklaves saß sie fassungslos vor dem Fernseher, "Habemus Papam", sagte Kurienkardinal Jorge Arturo Medina Estevez.

Und B. dachte: "Um Himmels Willen, nicht Ratzi-Fatzi! Meine Kirche hat mich so enttäuscht."

Mit ihrem Vorhaben musste sie trotzdem brechen, wenn auch sehr ungern, denn B. ist eine stolze Frau. Es war die Wahl zwischen Elend und Ohnmacht. Sie hat sich für das Elend entschieden: "Wenn ich austrete, kann ich ihm ja gar nicht mehr ans Bein pinkeln." Sie blieb.

http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,706107,00.html

Zuletzt geändert am 21­.01.2011