4.12.2010 - tt.com

Bayerisches Missbrauchsgutachten - Ruf nach Neuausrichtung der Kirche

München (APA/dpa) - Das spektakuläre Münchner Gutachten zur systematischen Vertuschung von Missbrauchsfällen in katholischen Einrichtungen zeigt nach Ansicht der Reformbewegung „Wir sind Kirche“, dass eine umfassende Neuausrichtung der Amtskirche notwendig ist. Es reiche nicht aus, die Prävention zu stärken und mit verbesserten Strukturen künftig eine Vertuschung zu verhindern, sagte „Wir sind Kirche“-Sprecher Christian Weisner am Freitagabend der Nachrichtenagentur dpa in München. Denn natürlich müsse man von einem Zusammenhang zwischen der Missbrauchsaffäre einerseits und der Priesterverpflichtung zur Ehelosigkeit (Zölibat) sowie der problematischen kirchlichen Sexualmoral andererseits ausgehen.

So sei in der Kirchenlehre die brennende Frage zum Zölibat weiter ungeklärt, ob ein Mensch seine Sexualität völlig negieren könne, sagte Weisner. Die Kirche müsse auch erkennen, dass sie in ihrer festgefahrenen Sexuallehre den Kontakt nicht nur zur Jugend längst verloren habe. Die Kirchenspitze und damit in erster Linie der aus BAyern stammende Papst Benedikt XVI. müssten hier einen Paradigmenwechsel einleiten, ähnlich wie sich die Kirche in früheren Jahrhunderten auch von der Hexenverbrennung habe verabschieden müssen.

Der „Wir sind Kirche“-Sprecher lobte aber ausdrücklich den Beschluss des Erzbischöflichen Ordinariats in München, neben der Berufung eines Missbrauchsbeauftragten auch eine unabhängige Studie zu der Frage zu bestellen, welche strukturellen Ursachen überhaupt die ganze Missbrauchsaffäre ermöglicht hätten. „Das ist ein richtiger Ansatz“, sagte Weisner. „Der Erkenntnisgrad des Gutachtens ist hoch, aber auch sehr schockierend.“ Die aufgedeckten Vertuschungsmechanismen müssten jedoch nicht nur in München, sondern in ähnlicher Form deutschlandweit aufgearbeitet werden.

Das Erzbischöfliche Ordinariat in München hatte die Rechtsanwältin Marion Westpfahl als unabhängige Gutachterin beauftragt, in einer in Deutschland bisher einzigartigen Studie die strukturellen Hintergründe der Missbrauchsaffäre zu untersuchen. Dazu ließ die frühere Staatsanwältin und Richterin mehr als 13.000 Akten des Erzbistums München und Freising aus den Jahren 1945 bis 2009 durchforsten. Das am Freitag veröffentlichte Ergebnis: Sie stellte eine systematische Vertuschung und Aktenvernichtung durch Kirchenmitarbeiter fest, ebenso ein falsch verstandenes „brüderliches Miteinander“ in der Kirche und eine völlige Missachtung der Opfer.

„Die Ergebnisse des Gutachtens sind starker Tobak“, sagte Weisner. Man müsse davon ausgehen, dass es in den sonstigen Bistümern nichts anders aussehe. „Die Aufarbeitung der kirchlichen Missbrauchsaffäre ist noch lange nicht vorbei.“

Überfällig sei ein Gesamtbericht für alle Bistümer in Deutschland. „Denn man kann es ja wohl schlecht weiter nur den örtlichen Bischöfen überlassen, welchen Weg der Aufklärung sie gehen wollen“, betonte Weisner. „Aufklärung und Aufarbeitung kann nur gelingen, wenn alle an einem Strang und in die gleiche Richtung zielen. Alles andere ist für das Vertrauen in die Kirche nicht gut.“ Überfällig sei auch der Brief an die Gemeinden vom Vorsitzenden der katholischen Deutschen Bischofskonferenz (DBK), Erzbischof Robert Zollitsch, zur Missbrauchsaffäre, der bereits für Ende November angekündigt worden und offenbar am Widerstand einzelner Bischöfe gescheitert sei.

Weisner nannte es bedauerlich, dass die Amtszeit des früheren Münchner Erzbischofs Joseph Ratzinger - des heutigen Papstes - in Westpfahls Untersuchung „ein blinder Fleck geblieben ist“. Offenbar hänge es mit der Aktenvernichtung übereifriger Kirchenmitarbeiter zusammen, dass die Gutachter aus Westpfahls Kanzlei nur ein einziges Dokument gefunden hätten, in dem Ratzinger selbst in einen Missbrauchsfall eingeschaltet war. Nach Angaben von Westpfahl hatte Ratzinger darin einem wegen Missbrauchs aufgefallenen Priester klargemacht, dass er aus seiner Pfarrei entfernt werden müsse.

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Zuletzt geändert am 04­.12.2010