31.1.2011 - Basler Zeitung

Das Schweigen der Lämmer

Von Michael Meier.

Die Kirche bekämpft die Symptome des Kindesmissbrauchs, lässt deren neurotische Ursachen aber unangetastet. Niemand will schuld sein, keiner übernimmt die Verantwortung: Kirche und Missbrauch.

Letzte Woche machte das Kloster Einsiedeln öffentlich, dass in den vergangenen 60 Jahren 15 Mönche an 40 Opfern schuldig geworden waren. Eine bereits im Sommer publizierte Statistik der Schweizer Bischofskonferenz umfasst seit 1950 rund 150 Missbrauchsopfer von Kirchenmännern.

Missbrauch durch Geistliche

Die Zahlen in den USA, in Irland, Belgien, Österreich oder Deutschland sind noch weit alarmierender. In Berlin hatte vor exakt einem Jahr Klaus Mertes, der Rektor des Canisius-Kollegs, die in den 70er- und 80er-Jahren systematisch vertuschten Missbrauchsfälle am Jesuitengymnasium publik gemacht. Er hat damit die grösste Kirchenkrise seit der Reformation ausgelöst. Das zeigt schon die noch nie dagewesene Austrittswelle.

Bischofskonferenzen der verschiedenen Länder haben seither Missbrauchsstatistiken offen- und Richtlinien festgelegt. Die Schweizer Bischöfe verschärften die Anzeigepflicht bei sexuellen Übergriffen durch Kleriker. Auf weltkirchlicher Ebene hat sich Papst Benedikt wiederholt betroffen gezeigt, Missbrauchsopfer getroffen und die Strafnormen bei sexuellem Missbrauch durch Geistliche verschärft.

Aufklärungsarbeit reicht nicht aus Das sind alles begrüssenswerte Massnahmen. Dennoch bleiben die Bilanzen nach einem Jahr der Aufarbeitung fast durchwegs negativ. Die Kirchenvolksbewegung «Wir sind Kirche» publiziert ein Communiqué mit dem Titel «Das Aussitzen der Krise wird nicht funktionieren»: Das, was Bischöfe und Klöster in den letzten zwölf Monaten zur Aufklärung geleistet hätten, reiche bei weitem nicht aus.

Tatsächlich hat man den Eindruck, dass die Amtskirche den Schutz der Institution über die Hilfe für die Opfer stellt. So tat der Dekan des Kardinalskollegiums, Angelo Sodano, vor der Ostermesse in Rom die weltweiten Medienberichte zum Missbrauchsskandal als Geschwätz ab.

Wiederkehr des Verdrängten

Auch der im Dezember publizierte 250-seitige Missbrauchsbericht des Erzbistums München-Freising liess aufhorchen: Richterin Marion Westphal hatte 13 200 Personalakten durchforstet aus 64 Jahren, also auch aus der Zeit der Erzbischöfe Friedrich Wetter oder Joseph Ratzinger. Sie kam zum Schluss, dass Verantwortliche der Bistumsverwaltung sexuelle Gewalt systematisch vertuscht und verharmlost hätten. Homosexuelle Mitarbeiter hätten, von pädophilen Geistlichen erpresst, deren Akten ausgelagert oder vernichtet.

Die Ortskirchen, ob die Schweiz oder Irland, können noch so viele Massnahmen treffen. Sie werden aber nur bedingt greifen, solange die Universalkirche uneinsichtig bleibt und ihre Strukturen nicht reformieren will. Bezeichnenderweise hatte Papst Benedikt im Hirtenbrief an die Kirche Irlands den schnelllebigen sozialen Wandel für den klerikalen Kindesmissbrauch verantwortlich gemacht und nicht etwa die Strukturen der Kirche.

«Traumatisierendes Beziehungsmodell»

Dabei sind diese die Hauptursachen für den Kindesmissbrauch zölibatärer Gottesmänner. Laut dem Schweizer Religionspädagogen Anton A. Bucher bewirken die neurotischen Strukturen der Kirche beim Personal eine Infantilisierung, eine Fixierung auf kindliche Entwicklungsstufen.

Psychoanalytiker erkennen in der Heiligen Familie, in der der Vater kein sexueller Partner der Mutter und diese keine richtige Frau, sondern Jungfrau ist, das dem Missbrauch zugrunde liegende «traumatisierende Beziehungsmodell». Denn dieses hält Gottes Bodenpersonal dazu an, die Sexualität abzuspalten statt zu integrieren.

http://bazonline.ch/schweiz/standard/Das-Schweigen-der-Laemmer/story/29993980

Zuletzt geändert am 31­.01.2011