30.3.2012 - Publik-Forum

Null Toleranz?

Noch ist sie nicht erfunden, die Fußfessel für Priester. Braucht man sie für alle, die sexuell übergriffig wurden? Triers Bischof Stephan Ackermann muss eine schwere Entscheidung treffen - und sich für seine Personalpolitik hart kritisieren lassen

Stephan Ackermann hat schon wieder Post bekommen. Der Bischof von Trier ist zwar an Papiermengen gewöhnt; beim Bearbeiten helfen Mitarbeiter. Dumm ist nur, dass in letzter Zeit öfter Offene Briefe auf seinem Schreibtisch landen - heute, am 30. März 2012, zum Beispiel einer von der Basisbewegung Wir-sind-Kirche. Wieder einmal wegen der leidigen Missbrauchsfälle im Bistum. Wieder mal geht es gegen ihn, den Bischof. Und wieder mal fragt er sich wohl: Warum lassen die mich nicht einmal in Ruhe?

Sigrid Grabmeier, Annegret Laakmann und Christian Weisner finden nicht, dass sie den Bischof in Ruhe lassen können. Es ist schon einige Zeit bekannt, dass im Bistum Trier mehrere Priester als Seelsorger im Einsatz sind, die sexueller Übergriffe überführt wurden. »Dies halten wir für kein vorbildliches Zeichen für eine Umkehr und einen wirklichen Neuanfang im Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Kirche«, schreiben die drei von Wir-sind-Kirche. Besonders ärgerlich sind sie darüber, dass es ausgerechnet Bischof Ackermann ist, der nicht so hart durchgreift, wie sie es sich wünschen. Denn der Mann ist nicht irgendein Bischof. Er ist der »Missbrauchsbeauftragte« der katholischen Deutschen Bischofskonferenz. Sozusagen das Vorbild schlechthin. Einer, auf den alle schauen, um von ihm zu lernen, wie man als Bischof handelt, wenn man über das Schicksal geständiger Täter im Priestergewand zu entscheiden hat.

Ackermann hatte es zum Beispiel mit einem 70-jährigen Priester zu tun, der zugab, vor vielen Jahren zwei minderjährige Messdienerinnen missbraucht zu haben, eine davon über mehrere Jahre. Der Priester zeigte sich selbst an, als der Bischof dies von ihm verlangte. Doch Ackermann informierte über Monate weder die Öffentlichkeit noch suspendierte er den Mann vom Dienst. Mittlerweile ist der Priester pensioniert - was ihn nicht davon abhält, an gemeindlichen Aktivitäten - etwa einer Kindergarten-Einweihung - teilzunehmen.

Handelte der Bischof falsch? Hätte er mehr tun müssen als den Priester zur Selbstanzeige zu drängen? Ackermann ist selbstkritisch. Als der Fall bekannt wird, sagt er: »Unsere Kontroll- und Aufsichtsmechanismen haben nicht so gegriffen, wie sie hätten greifen müssen.«

Der Fall steht exemplarisch für die vielen »strittigen Einzelfälle«, von denen Ackermann spricht und die nun ihn und seine Bischofskollegen beschäftigen. Doch was genau ist strittig? Die Leitlinien der Bischofskonferenz für den Umgang mit überführten Tätern formulieren eine abgestufte Strategie: Straffällig gewordene Priester sollen nicht mehr in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eingesetzt werden, dürfen aber unter gewissen Voraussetzungen weiter als Priester tätig sein. Kann das funktionieren? Die Fußfessel für Priester ist noch nicht erfunden; im Grunde sind ehemalige Täter zu keinem Zeitpunkt und an keinem Ort lückenlos kontrollierbar. Doch wäre Dauerkontrolle überhaupt in allen Fällen ein erstrebenswertes Ziel?

Wunibald Müller findet das nicht. Der Theologe und Psychologe leitet das Recollectio-Haus der Abtei Münsterschwarzach. Seit Jahren therapiert er Priester mit psychologischen und psychosexuellen Problemen. Sein Fazit: Die Fälle lassen sich nicht über einen Kamm schweren, die Menschen nicht alle auf dieselbe Weise behandeln. Und die Prognosen sind unterschiedlich. Manche Täter haben sich pädaophil verhalten, sind aber nicht irreversibel pädophil - andere sehr wohl. Wieder andere neigen zur Ephebophilie, fühlen sich also zu Jugendlichen zwischen etwa 14 und 17 Jahren sexuell hingezogen, wahlweise weiblichen oder männlichen Geschlechts. »Der Priester, der einmal in seinem Leben eine sexuelle Beziehung zu einer 17-Jährigen hatte, ist ein völlig anderer Fall als der unheilbar pädophile«, fasst er zusammen.

Auf alle gleichermaßen mit einer »Null-Toleranz«-Strategie zu reagieren, hält Müller für wenig sinnvoll. Vor allem hält er die kalte »Entsorgung« sexuell übergriffig gewordener Priester für unmenschlich. »Es ist interessant zu beobachten, dass häufig genau jene Verantwortungsträger, die über Jahrzehnte die Augen verschlossen haben vor sexueller Gewalt in der Kirche, die alles verdrängt und tabuisiert haben, nun jene sind, die überführte Priester mit aller Härte aus dem Amt treiben wollen«, sagt Müller. Für ihn ist das nicht überraschend: Beiden Verhaltensweisen liege tiefe Menschenverachtung zugrunde.

Eine hilfreiche Strategie wäre es vielmehr, sich als Kirche endlich den »Herausforderungen des klerikalen Systems« (Müller) zu stellen. Denn es ist dieses System an sich, das in höchstem Maße missbrauchsgefährdet ist. Müller findet: »Es muss die Frage erlaubt sein, ob die katholische Kirche mit dem Thema Missbrauch anders umgegangen wäre, wenn auch Frauen in verantwortlichen Positionen etwas zu sagen hätten.« Dem Papst hat er das schon gesagt. Mal sehen, was daraus folgt.

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Zuletzt geändert am 06­.06.2013