10.4.2012 - Süddeutsche Zeitung

Der sanfte Stachel

Christian Weisner aus Dachau führt die Laienbewegung „Wir sind Kirche“ – und kommt auch bei den Pfarrern damit an

Von Anna Schultes

Dachau – Vor gut 16 Jahren hat Christian Weisner Post bekommen, sehr viel Post. Der Dachauer ist Mitinitiator der bundesweit aktiven Kirchenvolksbewegung Wir sind Kirche. In einem Kirchenvolksbegehren forderten im Jahr 1995 vornehmlich katholische Christen eine geschwisterliche Kirche, die volle Gleichberechtigung der Frauen in kirchlichen Ämtern, die Wahlfreiheit der Priester bezüglich des Zölibats und eine positive Bewertung von Sexualität. Damals gab Weisner seine Wohnung in Hannover als Kontaktadresse an. Allein am letzten Tag waren es 28 Postsäcke voll mit Briefen nach Hause geliefert, insgesamt kamen 1,8 Millionen Unterschriften zusammen. Bis heute kämpft die Laienbewegung für ihre Forderungen.

Weisner schmunzelt, während er auf seinem Balkon in Dachau in der Abendsonne die Geschichte mit den Postsäcken erzählt; wahrscheinlich sieht er sie noch heute vor sich. Aber die Masse an Zustimmungsbekundungen bestätigte die Initiatoren in ihrem Vorhaben. „Wir waren uns einig: Da bleiben wir weiter dran“, erinnert sich der 60-Jährige. Heute ist Weisner Mitglied des sechsköpfigen Bundesteams der Laienbewegung. Seinen „Traumberuf“ als Stadt- und Verkehrsplaner hat er mittlerweile aufgegeben. Sein ehrenamtliches Wirken für Wir sind Kirche füllt ihn vollkommen aus, häufig klingelt das Telefon, Dutzende E-Mails landen täglich in seinem Posteingang.

Seinen „Traumberuf“ als Stadt- und Verkehrsplaner hat er mittlerweile aufgegeben.

Seit 2005 lebt Christian Weisner mit seiner Familie in einer ruhig gelegenen Wohnung in Dachau. Im Wohnzimmer stehen Regale mit Büchern zu kirchlichen Themen. Das kleine Büro, das Weisner sich eingerichtet hat, ist bis in die letzte Ecke voll mit Unterlagen. Im Keller hat er ein Archiv eingerichtet. Der Dachauer übernimmt in der Kirchenvolksbewegung viele Aufgaben: Er ist Sprecher der Laienbewegung, bereitet die Katholikentage vor und nimmt an Treffen teil, achtmal war er schon in Rom, reiste nach Barcelona und Detroit. Er hat Bücher herausgegeben und schreibt auch selbst, zuletzt den Beitrag „Global Player mit großer Verantwortung“ im Sammelband „Gewagte Aufbrüche“.

Immer wieder betont Weisner , dass Wir sind Kirche keine Gegenbewegung zur römisch-katholischen Kirche darstellt. Es gehe darum, „dass man etwas anpackt, dass man nicht nur protestiert, sondern etwas Positives tut“. Zentral ist eine Beteiligung der Laien: „Wir gehören alle zur Kirche“, sagt Weisner , „nicht nur die Kleriker.“ Die Reformbewegung fordert eine Erneuerung der römisch-katholischen Kirche im Geiste des Zweiten Vatikanischen Konzils.

Das Zweite Vatikanische Konzil fand zwischen Oktober 1962 und Dezember 1965 statt. Damals wurden das pastorale Amt der Kirche gegenüber der Theologie sowie eine ökumenische Öffnung und der Dialog mit Nichtchristen bestärkt. Der im Jahr 1951 geborene Weisner hat den Aufbruch der Kirche als Jugendlicher erlebt, das hat ihn nachhaltig beeindruckt. Damals lebte er mit seinen Eltern in einem Neubauviertel in Hannover. Der Pfarrer dort hat ihn in seinen Ansichten gestärkt und ihn ermutigt, sich für seine Ziele einzusetzen. „Ich habe immer viel Vertrauen genossen, auch von meinen Eltern“, erzählt Weisner . „Eine Lebenskrise hatte ich nie.“ Vielleicht strahlt er deshalb so viel Ruhe aus. Doch sobald es um Wir sind Kirche geht, kommt etwas Kämpferisches zum Vorschein. Der Katholik hat klare Ziele.

„Er spricht deutlich aus, was er sich vorstellt, im Umgang ist er sehr menschlich“, sagt Pfarrer Josef Mayer, geistlicher Direktor der Katholischen Landvolkshochschule Petersberg, über Weisner. Der Pfarrer sieht ebenfalls Reformbedarf und große Herausforderungen, denen sich die Kirche stellen muss – wenn er dabei auch einen anderen Ansatz vertritt als die Laienbewegung. Doch sagt er: „Es ist manchmal gut, wenn man einen Stachel im Fleisch hat, der einen an Dinge erinnert.“ Mayer: „ Weisner kann das.“

Weisners Leben dreht sich um seinen Glauben, auch das Familienleben. Seine Frau lernte er durch die Kirchenvolksbewegung kennen. Sie engagiert sich in der Kirche in Dachau, ebenso wie Tochter Emily. Die 14-Jährige war lange Ministrantin. Regelmäßig besucht die Familie den Gottesdienst. Dekan Wolfgang Borm erlebt Weisner als einen Menschen, „der an der Kirche interessiert ist und auch an der Kirche leidet, so wie sie ist“. Auf seine Weise versuche er, etwas zu tun.

Weisners Engagement bleibt in der Kirchengemeinde in Dachau nicht unbemerkt. Viele Menschen treten ihm offen gegenüber, oft bekommt er positive Rückmeldungen. „Nur wenn die Zustimmung da ist, brennt man nicht aus“, sagt der 60-Jährige. Dass die Kirche eine Zukunft hat, davon ist Weisner überzeugt. Er glaubt fest daran, dass es möglich ist, Strukturen innerhalb der katholischen Kirche zu ändern. Ohne diesen Glauben würde ihm wohl die Kraft fehlen, die er in seine Arbeit steckt. Die konkrete Hoffnung, dass sich die Dinge in absehbarer Zeit in eine andere Richtung entwickeln, hat er nicht – da ist er ganz nüchtern. Aber: „Ein Bewusstseinswandel ist da.“

Die Osterfeiertage verbrachte Christian Weisner mit seiner ganzen Familie bei der Verwandtschaft in London. Seine Wohnung in Dachau ist die bundesweite Kontaktadresse der Kirchenvolksbewegung. Bevor er sich in den Urlaub verabschiedete, schickte er eine E-Mail und erinnerte noch einmal daran, seine Adresse nicht zu veröffentlichen. Aus 28 Postsäcken an einem Tag lernt man so einiges.

http://www.sueddeutsche.de/muenchen/dachau/landkreis-dachau-der-sanfte-stachel-1.1328612

Zuletzt geändert am 11­.04.2012