7.12.2012 - Publik-Forum

»Ein Teilzeit-Papst ohne Plan«

Ein einsamer Pontifex, unterwegs von Krise zu Krise. Die Zukunftsprobleme türmen sich, weil Benedikt XVI. am liebsten Bücher schreibt. Fragen an den Vatikan-Experten Marco Politi

Herr Politi, Sie kannten Papst Wojtyla so gut wie kaum ein anderer unabhängiger Vatikanbeobachter. Seinen Nachfolger kennen Sie ebenso gut. Worin unterscheiden sich Benedikt XVI. und Johannes Paul II.?

Marco Politi: Der Papst aus Polen widmete all seine Kraft der Führung der Kirche. Er hatte einen Plan und verfolgte konzentriert eine Strategie. Den Sturz des Kommunismus zuallererst, später dann zum Beispiel die Freundschaft mit den Muslimen. Anders Benedikt XVI. Joseph Ratzinger hätte nicht Papst werden dürfen, denn er hat keinen Plan. Sein Mangel an Strategie führt dazu, dass er keine solide, weitgreifende Position gegenüber der Arabischen Revolution entwickelte, dem bedeutendsten Weltereignis seit dem Untergang des Kommunismus. Dem drohenden Krieg zwischen Israel und Iran steht Benedikt völlig passiv gegenüber. Man vergleiche Johannes Paul II. mit ihm. Dieser hat monatelang gegen den Irakkrieg von Bush und Blair agiert. Der Mangel an Führung wird zuerst spürbar in der Außenpolitik. Das weltpolitische Gewicht des Heiligen Stuhles sinkt. Johannes Paul II. hörte stets die Nuntien an, wenn sie in Rom Bericht erstatteten. Er war gut informiert, auch weil er viele Menschen zu Tisch einlud. So erfuhr er von einer polnischen Freundin von sexuellen Seitensprüngen des Posener Erzbischofs – von der Kurie hätte er dies nie erfahren. Benedikt hört die Nuntien nicht an, wenn sie zu Zwischenberichten in Rom weilen. Er spricht auch nicht – wie sein Vorgänger – mit jedem Bischof, der den Vatikan besucht. Benedikt spricht mit Gruppen von Bischöfen. Der 85-Jährige erfährt vieles nicht, er lebt in einem sehr engen, kleinen Kreis.

Wie beurteilen Sie Benedikt XVI.?

Politi: Es ist ein Pontifikat, in dem es so viele Krisen gegeben hat wie nie zuvor in den letzten 200 Jahren. Das ist eineTatsache. Es war wie eine Kettenreaktion. Sie begann mit seiner berühmten »Regensburger Rede«, in der der Papst sehr kritische und aggressive Worte eines byzantinischen Kaisers gegen die Muslime verwendete; Worte, von denen der Papst sich nicht distanzierte. Seine schrittweisen Distanzierungen erfolgten erst später. Es sagt viel aus, dass damals eine kleine Gruppe von Journalisten, drei Amerikaner und ich, schon morgens um zehn Uhr Papstsprecher Federico Lombardi gewarnt hatten, dieser verletzende Satz gegen Mohammed würde Probleme auslösen, die Warnung jedoch an der Spitze nicht zur Kenntnis genommen wurde. In der Folge explodierten die Probleme mit der muslimischen Welt. Benedikt XVI. verbitterte insbesondere die gemäßigten Muslime Europas, die den Islam europäisieren wollen.

Welche weiteren Krisen sehen Sie?

Politi: Danach kamen die drei Krisen mit dem Judentum. Zunächst 2008 wegen der vom Papst neu formulierten Karfreitags-Fürbitte, deren Anliegen die Hinführung der Juden zu Christus ist; dann wegen des Projekts der Heiligsprechung von Pius XII., dem vorgeworfen wird, im Holocaust die Juden im Stich gelassen zu haben; und vor allem 2009 infolge der Williamson-Affäre, als Benedikt jenen Holocaust-Leugner, Antisemiten und Piusbruder als Bischof anerkannte. Dann kamen die schweren Krisen innerhalb der katholischen Welt: wegen Benedikts Aufwertung der Tridentinischen Messe gegenüber der aus dem Konzil entwickelten Messe sowie wegen der allzu weichen Verhandlungen mit den Piusbrüdern. Weil der Papst von den Traditionalisten nicht verlangte, dass sie die grundlegenden Dokumente des Konzils akzeptieren: über Religionsfreiheit, Gewissensfreiheit, Ökumene sowie die Beziehung zu den Juden und zum Islam. Als gehofft wurde, nun seien die Krisen vorüber, folgten neue: die Krise mit der Wissenschaft nach Benedikts Behauptung, Kondome verschlechterten die Lage von Aids-Kranken. Und die Krise der Missbrauchsskandale durch Priester und des Vertuschens der Verbrechen durch die Amtskirche.

Wie beurteilen Sie Benedikts Umgang mit der sexuellen Gewalt in der Kirche?

Politi: Einerseits schickte der Papst einen sehr mutigen, strengen und richtungweisenden Brief an die irischen Katholiken – ein Text, der natürlich der gesamten Welt gilt. Darin sagte er: Die Regeln sind nicht befolgt worden; die Bischöfe haben nicht ihre Pflicht getan; die schuldig gewordenen Priester müssen sich vor den weltlichen Gerichten verantworten. Es hat in der Vergangenheit eine falsche Sorge um das Prestige der Institution Kirche gegeben. Stattdessen müssen die Opfer im Zentrum stehen. Die Opfer hätten geschrien, und niemand habe auf sie gehört. Dieser Brief zeigt eine neue Richtung in der Kirchenführung. Bis heute verlangt der Vatikan jedoch keine Anzeigepflicht für die Bischöfe in Fällen von Missbrauch. Der Papst ordnet auch keine Untersuchungspflicht für all die »vergessenen« Fälle an, die seit Langem in den Schubladen liegen. Es fehlt ferner jede Transparenz im Blick auf die vielen Fälle, die vom Vatikan selbst in den 1980er- und 1990er-Jahren vertuscht wurden.

Wie beurteilen Sie die aktuelle Vatileaks-Affäre?

Politi: In den Zeiten des Kalten Krieges, als CIA und KGB ihre Agenten im Vatikan platziert hatten, hat es so etwas nicht gegeben wie heute unter Papst Benedikt. Der Vertrauensbruch durch den Kammerdiener erfolgte in einem Pontifikat, in dem der Papst, konzentriert auf seine Jesus-Bücher, die tatsächliche Führung der Kirche nicht im Griff hat. Ratzinger, ein Denker, Prediger und Theologe, scheint letzten Endes kein Fingerspitzengefühl für die Rolle eines kirchlichen und geopolitischen Leaders zu haben. Benedikt XVI. wirkt wie ein Teilzeit-Papst. In solch einer Konstellation ist die Affäre der Korruption aufgeplatzt. Unter den Dokumenten, die Vatileaks veröffentlichte, sind jene interessant, die Korruption aufdecken oder den Mangel an Transparenz in der Vatikanbank zeigen. So kostete die Weihnachtskrippe auf dem Petersplatz früher 550 000 Euro. Nachdem ein neuer Generalsekretär des Governatorats eingesetzt wurde, sanken die Kosten auf 300 000 Euro. »An dem Stück Torte haben viele mitgegessen«, sagt man zu solch einem Vorgang in Italien. Der Mann wurde schließlich als Nuntius nach Washington abgeschoben – und der Präsident der Vatikanbank, der mehr Transparenz gefordert hatte, entlassen.

Welche Bedeutung haben die Jesus-Bücher, die der Papst in seiner Amtszeit verfasste?

Politi: Benedikt hatte die klare Erkenntnis, dass in seiner Kirche der Glaube an Jesus Christus zu verdunsten droht, zugunsten eines Glaubens an Gott, der oft ohne Konturen ist. Umfragen in Italien zeigen: Man betet fünfmal mehr zu Gott als zu Jesus Christus. Und in den jungen Generationen ist das Wissen über Jesus nahe null. Gegen diese Entwicklungen setzt der Theologe Benedikt sein großes Projekt, die dreibändige Biografie Jesu. Er will, dass die Christen den Gründer ihrer Religion wieder gut kennen. Nach Joseph Ratzinger ist Jesus Christus das Bild und das Angesicht Gottes. Nur in ihm werde der unbegreifliche Gott sichtbar. Folglich ist für Benedikt XVI. die Distanz zu anderen Religionen sehr groß. Für Benedikt gilt es, Jesus Christus nachzufolgen – dazu laden die Bücher ein, die der Papst schreibt. Christsein besteht für ihn nicht in einem Lippenbekenntnis, sondern in der aktiven Nachfolge. Damit vertritt er ein für Päpste sehr modernes Glaubensverständnis.

Und die Kehrseite dieses Anliegens?

Politi: Solche Bücher mit viel wissenschaftlichem Apparat zu schreiben ist ein anstrengendes Unterfangen. Das Risiko besteht darin, einen Teilzeit-Papst zu haben: einen also, der den freien Teil seiner Zeit der theologischen Autorschaft widmet. Die Aufgabe, eine weltweite Kirche von rund 1,1 Milliarden Menschen zu leiten, ist jedoch so komplex, dass sie die ungeteilte Aufmerksamkeit und Kraft des Papstes erfordert. Stattdessen ist Papst Ratzinger hin- und hergerissen zwischen zwei Jobs: der konzentrierten Leitung der Kirche und der wissenschaftlichen Theologieproduktion. Weil er sich auf seine Bücher und sein Lehrersein konzentrierte, hat er nicht die Zeit und die Kraft, einen strategischen Plan zu entwickeln, wie dies seine Vorgänger im Papstamt taten. Dies schadet der katholischen Kirche.

Aktuelles Beispiel: Im Vatileaks-Jahr 2012, das so dramatisch die Führungsstruktur im Vatikan erschütterte, vollendete der Papst zum 15. August sein drittes Jesus-Buch. Das bedeutet, dass er in den Krisenmonaten zuvor, als nicht nur Vatileaks geschah, sondern auch die Reform der Vatikanbank scheiterte und der vom Papst eingesetzte Kontrolleur nach Washington verjagt wurde, auf sein Buch konzentriert war. Er hat nicht tatkräftig reagiert und regiert.

Wo liegen die Stärken des Papstes?

Politi: Er ist ein großer Glaubenslehrer, auch mit modernen Seiten. Zum Beispiel macht er den Christen klar, dass sie nur eine Minderheit bilden, die mit den anderen, auch den Nichtglaubenden in einen fairen Dialog treten soll. Das ist neu für einen Papst. Doch die kirchlichen Reformfragen vertagt er hartnäckig. Die Zusammenlegung von Pfarreien führt zur dramatischen Krise einer jahrtausendalten Struktur. Die Frauenorden, die »Infanterie«, verloren 45 000 Schwestern. Die Lösung der Frauenfrage, des Priestermangels, der wiederverheirateten Geschiedenen, der sexuellen Minderheiten – das sind keine deutschen Sondernöte, sondern Probleme der Kirche weltweit. Ihre Lösung wird durch Papst Ratzingers Vertagen schwieriger.

Marco Politi, 1947 geboren, war über zwanzig Jahre Vatikan-Korrespondent der führenden linksliberalen italienischen Tageszeitung La Repubblica. Aktuell schreibt er für Il Fatto Quotidiano. Soeben erschienen ist sein Buch »Benedikt. Krise eines Pontifikats«. Rotbuch. 544 Seiten. 19,99 €

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Zuletzt geändert am 08­.12.2012