9.4.2016 - Merkuer / OVB-online

Daumen hoch oder Daumen runter für das Papstschreiben „Amoris laetitia“?

von Claudia MÖllers und Ingo-Michael Feth

München – Daumen hoch oder Daumen runter für das Papstschreiben „Amoris laetitia“?Christian Weisner von der Kirchenvolksbewegung „Wir sind Kirche“, lacht. „Daumen nach vorne“, ist seine Reaktion auf das Schreiben von Papst Franziskus zur katholischen Ehe- und Sexualmoral, auf das seit Monaten mit Spannung gewartet wurde. Für ihn markiert der Text einen „Epochenwandel“ – der Papst zeige, dass die Kirche auf die Menschen zugehen und nicht nur Verbotsschilder aufstelle.

Wenn selbst Kirchenkritiker dem Papst Beifall spenden, dann muss etwas passiert sein in Mutter Kirche.
In der Tat: Franziskus legte mit seinem mit Spannung erwarteten 185-seitigen Schreiben über Ehe und Familie ein Papier vor, das den Gläubigen, den Bischöfen und den Priestern überraschende Freiräume schafft. Zwar hat Franziskus nicht – wie manche völlig unrealistisch erwartet hatten – eine grundlegende Reform der Lehre etwa im Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen verkündet. Aber er zeigt Perspektiven und Wege auf, wie Gläubige, aber auch die Seelsorger in moralisch schwierigen Situationen Lösungen finden können auf der Grundlage der kirchlichen Morallehre – und zwar verknüpft mit dem unbedingten Appell zur Barmherzigkeit.

„Einzelfallentscheidung“ ist das Zauberwort in dem Papier, für das sich der Papst viel Zeit gelassen hat und in das er auffallend viele Anregungen aus den Familiensynoden 2014 und 2015 übernommen hat. Darin hatte auch gerade die Gruppe der deutschsprachigen Bischöfe einen barmherzigeren Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen gewünscht, die laut Kirchenrecht derzeit vom Kommunionempfang ausgeschlossen sind.

Nach den Ausführungen des Papstes, die verbindlichen Charakter haben, schließt Franziskus im wichtigen achten Kapitel seines Schreibens eine Zulassung zum Kommunionempfang im Einzelfall nicht aus – nach gründlichen Gesprächen zwischen Seelsorger und den Betroffenen. Dass man trotz einer objektiven Situation der Sünde „in der Gnade Gottes leben kann“. Und weiter: „dass man auch im Leben der Gnade und der Liebe wachsen kann, wenn man dazu die Hilfe der Kirche bekommt“. Besonders interessant ist dazu eine Fußnote, in der es heißt: „In gewissen Fällen könnte es auch die Hilfe der Sakramente sein.“

Dass er diese Formulierung in einer Fußnote etwas „versteckt“, könnte ein Zugeständnis an den konservativen Flügel der Kirche sein. Denn der Papst musste mit diesem Schreiben bisher unvereinbar Geltendes verbinden: An den Grundsätzen der Lehre festzuhalten und gleichzeitig mehr (Gewissens-)Freiheit, Barmherzigkeit und Dezentralisierung erlauben.

Während Theologen wie der Regensburger Wolfgang Beinert jubeln, der von einem wirklichen Reformschreiben des Papstes spricht, weil er den „legalistischen, kasuistischen Geist des Kirchenrechts von innen her“ aushöhle, drängt es die deutschen Bischöfe, die an den Synoden teilgenommen haben, nicht gerade an die Öffentlichkeit. Dabei hätten sie allen Grund zur Freude. Der Münchner Kardinal Reinhard Marx, der sich sonst bereitwillig zu kirchen- und auch politischen Themen äußert, begnügt sich damit, mit dem Berliner Erzbischof Heiner Koch und dem Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode eine fünfseitige Erklärung abzugeben. Darin kommt freilich die Freude über das Papstschreiben zum Ausdruck, das sie als „wirkliches Geschenk für die Eheleute, die Familien und alle Gläubigen in der Kirche“ bewerten.

Allen dreien ist auch bewusst, dass der Papst nun von den Ortskirchen erwartet, passende Lösungen zu erarbeiten. Ein Auftrag, der die Kirchen vor Ort stärkt. „Wir werden uns in den kommende Monaten bemühen, die Anregungen und Impulse umzusetzen und für die pastorale Arbeit in Deutschland anzuwenden“, so die Bischöfe, die ausdrücklich die Priester dazu auffordern, im Geist des Textes auf die Menschen zuzugehen. Seelsorger müssten nun in jedem einzelnen Fall die besondere Lebenssituation der Betroffenen betrachten und könnten dann über die Zulassung zur Kommunion entscheiden.

Eine Aufgabe, die noch schwierig werden könnte. Schon kommen die ersten konservativen Kritiker auf den Plan. Der deutsche Kurienkardinal Walter Brandmüller (87), erzkonservativer Theologe aus Ansbach, warnte sogleich vor Fehlinterpretationen des Papst-Papiers, die „die Glaubwürdigkeit der kirchlichen Verkündigung untergraben“. Wer in ungültiger Zweitehe lebe, dürfe nicht mit Hilfe einer „Salamitaktik“ am Ende doch die Zulassung zu den Sakramenten erreichen. Einzelfälle zuzulassen führe in eine Sackgasse, so Brandmüller, der zugleich die kirchliche Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe bekräftigte. Eine Tatsache, die aber auch der Papst nicht leugnet. Er öffnet nicht dem Liberalismus Tür und Tor. Ganz im Gegenteil. Auf vielen Seiten seines Schreibens formuliert er eine Art Liebeserklärung an die Institution Ehe. „Franziskus hat sich offenbar an einer Quadratur des Kreises versucht. Je nach Standpunkt ist dabei ein Oval, ein Trapez oder tatsächlich eine Annäherung ans Viereck herausgekommen. Jetzt wird es darauf ankommen, welche Sichtweise die Oberhand behält.“ So fasst es einer der profiliertesten italienischen Vatikankenner zusammen. Und tatsächlich: Die ersten Reaktionen in und um den Vatikan reichen von heller Euphorie bis zu abwartender Skepsis. Naturgemäß versucht jeder, aus dem Text des Papstes für sich genau das herauszulesen, was seiner eigenen Position entspricht.

Der Wiener Kardinal Christoph Schönborn, einer der Hauptprotagonisten der Synode, macht aus seiner überschwänglichen Freude keinen Hehl: „Mit dem Lehrschreiben wird konsequent jene künstliche, oberflächliche und unselige Trennung in regulär und irregulär überwunden.“ Also von regulärer Beziehung – sprich gültiger Ehe – und kirchenrechtlich ungültiger Beziehung. Kein Mensch dürfe von der Kirche als „Problemfall“ abgestempelt werden, bekräftigt Schönborn. „Franziskus hat die Erwartungen bei weitem übertroffen“, bekräftigt Pater Bernd Hagenkord, Leiter der deutschsprachigen Ausgabe von Radio Vatikan. „Rom ist eben nicht dazu da, alles zu regeln und zu entscheiden – weder theologisch noch pastoral.“ Man könne von einer Rückbesinnung auf das Prinzip der Subsidiarität sprechen; so wie es früher in der Kirche durchaus üblich gewesen sei, bevor sich der römische Zentralismus durchgesetzt habe.

Professor Hans Tremmel, Vorsitzender des Diözesanrats der Katholiken im Erzbistum München und Freising, ist sehr zufrieden mit einem „klugen, ausgewogenen, versöhnenden und auch verständlichen Text“. Was der Papst über Liebe und Sexualität sage, sei beeindruckend. Er wisse um die Schönheit, aber auch die Bürde und Last von Partnerschaft und Familie. „Das ist für einen 79-jährigen, zumal für einen Papst durchaus ungewöhnlich“. Der Text sei eine klare Absage an legalistisch orientierten Dogmatismus. Es gebe viele verantwortungsethische Spielräumen, die jetzt ausgefüllt werden müssten. Ein Manko aber sieht Tremmel bei der Einzelfall-Lösung: Ich möchte nicht, dass vernünftige und menschenfreundliche Lösungen für die Menschen künftig zu sehr vom guten Willen und der Einsicht des Ortspfarrers und Ortsbischofs abhängt.“ Das wissen auch die deutschen Bischöfe. Hinter den Kulissen heißt es: „Wir haben jetzt unsere Hausaufgaben zu machen.“ Das dürfte kein einfacher Weg werden.

Enttäuscht werden diejenigen sein, die vom Papst klarere Worte zu Familien mit homosexuellen Menschen erwartet hatten. Allerdings dürfte es kaum erstaunen, dass die Kirche an der Ehe zwischen Mann und Frau unmissverständlich festhält. Und überdies gilt die Linie des Schreibens: Die Kirche soll alle integrieren.

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Zuletzt geändert am 09­.04.2016