6. April 2006 - dpa

«Wir sind Papst» - Wie die Deutschen ihren Benedikt schätzen lernten

Von Matthias Hoenig, dpa

Hamburg (dpa) - Als vor einem Jahr, am 19. April um 18.43 Uhr, Joseph Ratzinger auf dem Petersplatz in Rom als neuer Papst Benedikt XVI. verkündet wurde, brach in Deutschland nicht nur tosender Jubel los. «Oh, mein Gott!», stöhnte die linke «Tageszeitung» über die Wahl des konservativen Glaubenshüters. «Bild» dagegen verordnete mit der Schlagzeile «Wir sind Papst» der Nation Stolz.

Als Präfekt der Glaubenskongregation seit 1981 hatte Ratzinger sich den Ruf eines kompromisslosen Kurienmannes erworben, der modernen Theologien oder Reformern keinerlei Spielräume ließ. Kein Rütteln am Zölibat, keine Frauen als Priester, keine Schwangeren- Konfliktberatung. Für Hans Küng, den gemaßregelten Theologen aus Tübingen, war die Wahl Ratzingers «eine Riesenenttäuschung» für alle Reformorientierten. Doch 100 Lerntage sollte man dem Neuen im Amt zubilligen, meinte er damals.

Die Macht der Bilder sollte im August viele Deutsche überwältigen. Beim Weltjugendtag in Köln fuhr der Pontifex symbolträchtig mit dem Rheinschiff den Fluss hinauf wie ein Menschenfischer, Zehntausende säumten die Ufer. 700 000 pilgerten zu einer Vigil mit dem Papst, einer Andacht, deren Namen viele sicherlich vorher nicht einmal gekannt haben dürften. Hunderttausende nächtigten bei Kälte, am nächsten Morgen feierten am selben Platz sogar eine Million Menschen Gottesdienst mit dem Papst - die vermutlich größte Messe in Deutschland.

Ist Deutschland - wieder - fromm geworden? Die Kirchen melden sinkende Austrittszahlen, zugleich nehmen Wiedereintritte zu. Der Koblenzer Soziologieprofessor Norbert Martin, Mitglied des Päpstlichen Rates für Ehe und Familie, konstatiert «eine generelle Anhebung des religiösen Grundwasserspiegels» - initiiert durch Johannes Paul II., und Benedikt versuche diese neuen Aufbrüche zu unterstützen. Bundespräsident Horst Köhler lobte beim Weltjugendtag Ratzingers brillanten Intellekt, seine klare Haltung und Persönlichkeit.

In seiner programmatischen ersten Enzyklika «Deus caritas est (Gott ist Liebe) rückte Ratzinger die Gottesfrage in den Mittelpunkt. In jedem Menschen das Antlitz Gottes sehen, lautete die Botschaft. Gottes- und Nächstenliebe seien untrennbar verwoben. Ratzinger zitierte eine der schönsten Passagen aus der Bibel: «Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm». Liebe - Caritas - werde immer nötig sein, auch in der gerechtesten Gesellschaft. Es gebe keine gerechte Staatsordnung, die den Dienst der Liebe überflüssig machen könnte. «Wer die Liebe abschaffen will, ist dabei, den Menschen als Menschen abzuschaffen», mahnte Benedikt XVI.

Solchen Sätzen ist schwer zu widersprechen. Ratzinger sei vom «Rottweiler Gottes» zum «Propheten der Liebe» geworden, schrieb eine spanische Zeitung euphorisch.

Eine «bella figura» in der medialen Öffentlichkeit zu machen, billigen auch Reformkräfte Benedikt XVI. zu, dennoch herrscht hier Ernüchterung. «In keiner einzigen Reformfrage ist Benedikt XVI. bisher ein Jota vom alten Kurs abgewichen», sagt Christian Weisner von der Kirchenvolksbewegung «Wir sind Kirche». Als Bereitschaft zum Dialog und noble Geste werde oft die überraschende Einladung an Hans Küng im September angeführt. Dagegen würden die sehr viel häufigeren Treffen mit Traditionalisten kaum registriert.

Auf die Nachfrage zu einem Gespräch mit «Wir sind Kirche» vom Sommer 2005 anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der internationalen Reformbewegung habe es keinerlei Reaktion geben. «Stillstand, Angst, Erstarrung, das ist weiter da», resümiert Weisner die Stimmungslage in katholischen Reformkreisen.


Enttäuschung herrscht auch auf der evangelischen Seite. Zwar hat Benedikt XVI. der Einheit der Christen oberste Priorität eingeräumt, in der Sache aber herrscht Stagnation. Die Frage des gemeinsamen Abendmahls ist ungelöst, die theologische Degradierung der protestantischen Kirchen als religiöse Gemeinschaften durch Rom hat unverändert Bestand. Ob es Papst Benedikt XVI. zum Ökumenischen Kirchentag 2010 nach München zieht, scheint angesichts bisheriger Erfahrungen kaum vorstellbar.

Zum 96. Deutschen Katholikentag Ende Mai in Saarbrücken wird Ratzinger nicht kommen; er besucht in jenen Tagen Polen. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) als Veranstalter rechnet aber fest mit dem für Katholikentage traditionellen Papst- Grußwort, vielleicht erstmals sogar auf Video, sagt ZdK-Sprecher Theodor Bolzenius. Er betont, dass sich die katholischen Laien durch die Papst-Enzyklika in ihrem sozialen und politischen Engagement für eine gerechte Gesellschaft gestärkt fühlen. Der Papst habe diese Aufgabe ausdrücklich hervorgehoben. Insgesamt zieht auch er eine positive Bilanz des ersten Amtsjahres des Papstes: «Wir sind stolz und haben großen Respekt vor dieser Leistung.»

Zuletzt geändert am 06­.05.2006