15.7.2016 - KNA

Rückgang bei Kirchenaustritten - Weiter hohes Niveau

Bonn/Hannover (KNA) Die beiden großen Kirchen in Deutschland verzeichnen für 2015 einen deutlichen Rückgang bei den Kirchenaustritten. Allerdings bleiben die Zahlen auf einem hohen Niveau. Wie die Deutsche Bischofskonferenz am Freitag in Bonn mitteilte, traten vergangenes Jahr 181.925 Katholiken aus ihrer Kirche aus. Das sind so viele wie im Jahr 2010, als der Missbrauchsskandal bekannt wurde. 2014 gab es den bisherigen Negativrekord mit 217.716 Austritten. Rund 210.000 Menschen kehrten 2015 der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) den Rücken. Damit ging die Zahl der Austritte gegenüber dem Vorjahr um rund 60.000 zurück, wie die EKD in Hannover mitteilte.

Mit mehr als 23,76 Millionen Mitgliedern stellt die katholische Kirche weiterhin die größte Glaubensgemeinschaft in Deutschland; ihr gehören 29 Prozent der Bevölkerung an. Zu den evangelischen Landeskirchen gehören 22,27 Millionen oder 27,2 Prozent der Bundesbürger. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, wertete die Statistik als Ansporn, "in unserem seelsorglichen Bemühen nicht nachzulassen". Die Kirche sei weiterhin eine "starke Kraft", so der Münchner Erzbischof. Sie brauche eine "anspruchsvolle Pastoral", die den unterschiedlichen Lebenswelten der Menschen gerecht werde.

Der Konferenzvorsitzende verwies auch darauf, dass erstmals seit Jahren die Zahl der Taufen und Trauungen leicht gestiegen sei. "Es gibt offensichtlich einen aktiven Wunsch nach den Sakramenten der Kirche", sagte er. Laut Statistik nahm die Zahl der Taufen von 164.833 auf 167.226 leicht zu; die Zahl der kirchlichen Trauungen wuchs um rund 150 auf 44.298. Der Kirchenbesuch sank dagegen von 10,8 auf 10,4 Prozent.

Bei den Eintritten verzeichneten die 27 katholischen Bistümer mit 2.685 ein leichtes Minus von 124, bei den Wiederaufnahmen dagegen mit 6.474 ein leichtes Plus von 160. Zusammengenommen liegen diese Zahlen im zweiten Jahr hintereinander unter der Marke von 10.000. Die evangelische Kirchen verzeichnete bundesweit 25.000 Aufnahmen und 175.000 Taufen.

Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm würdigte die Bereitschaft vieler Christen, für ihren Glauben einzustehen. "Dass heute mehr als 56 Prozent der Menschen in Deutschland aus Freiheit einer der beiden großen christlichen Kirchen angehören und sich in vielfältiger Weise für ein christliches Miteinander einsetzen, ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit." Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) wertete die Zahlen als "Ermutigung und Mahnung". Präsident Thomas Sternberg erklärte, die Kirche dürfe die Nähe zu den Menschen nicht verlieren. Dazu ermutige der Kurs von Papst Franziskus. Das Bistum Regensburg richtete eine Hotline ein, die mit Menschen ins Gespräch kommen will, die verärgert, enttäuscht oder nicht einverstanden mit der Kirche sind.

Als "nach wie vor dramatisch" wertete dagegen die Initiative "Wir sind Kirche" die Statistik. Der Auszug aus der Kirchengemeinschaft gehe weiter. "Wir sind Kirche" forderte die Bischöfe insbesondere dazu auf, die Strukturreformen hin zu immer größeren Gemeinden zu stoppen.

Zahlen bleiben hoch
Kirchen legen Statistiken über Kirchenaustritte vor
Von Christoph Arens (KNA)

Bonn/Hannover (KNA) Die aus Sicht der Kirche positive Nachricht zuerst: 2015 haben 35.800 Katholiken weniger ein Austrittsformular unterschrieben als 2014. Der bisherige Negativrekord mit 217.716 Austritten im vergangenen Jahr war mit dem Missbrauchsskandal, die Affäre um den Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst und das Bekanntwerden eines neuen Kirchensteuer-Einzugsverfahrens auf Vermögenserträge begründet worden. Und die schlechte Nachricht: 2015 kehrten 181.925 Katholiken ihrer Kirche den Rücken, sogar ein paar mehr als 2010, als der Missbrauchsskandal die Kirche erschütterte.

Normalisierung auf hohem Niveau. Da - erstmals zeitgleich - am Freitag auch die Protestanten ihre Statistik veröffentlichten, wird deutlich, dass die großen Kirchen trotz unterschiedlicher Problemlagen von ähnlichen Trends betroffen sind: Bei der evangelischen Brüdern und Schwestern liegen die Austrittszahlen 2015 erneut höher als bei den Katholiken. 2015 verließen 210.000 Protestanten die 20 evangelischen Landeskirchen, 60.000 weniger als im Rekordjahr 2014.

Die Katholiken bleiben mit 23,76 Millionen Mitgliedern oder 29 Prozent der Bevölkerung die größte Glaubensgemeinschaft in Deutschland. Die Evangelische Kirche umfasst noch 22,27 Millionen Mit-glieder oder 27,2 Prozent der Bundesbürger. Deutlich wird, dass die Kirchen auch ein demografisches Problem haben: Bei den Katholiken stehen 167.226 Taufen 254.260 Beerdigungen gegenüber. Bei den Protestanten gab es 175.000 Taufen und rund 350.000 Bestattungen. Die Zuwanderung gleicht allerdings einiges aus. Deutlich wird, jedenfalls für die katholische Kirche, dass sich die Sympathie für Papst Franziskus nicht in niedrigeren Austrittszahlen niederschlägt. Auch bei den Kircheneintritten gibt es keine großen Bewegungen: Mit 2.685 Eintritten und 6.474 Wiederaufnahmen verzeichneten die 27 katholischen Bistümer im zweiten Jahr in Folge einen Zugang unter der Marke von 10.000 und damit den zweit-niedrigsten Wert seit 1950.

Die beiden obersten Repräsentanten reagierten am Freitag ähnlich: Der Bischofskonferenzvorsitzende, Kardinal Reinhard Marx, und der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm betonten, die Kirchen stellten immer noch eine wichtige Kraft in Deutschland dar. Dass mehr als 56 Prozent der Bundesbürger "aus Freiheit" einer Kirche angehörten, sei keinesfalls selbstverständlich, so Bedford-Strohm. Marx zeigte sich zuversichtlich, dass die Kirchen auch heute den unterschiedlichen Lebenswelten der Menschen gerecht werden und den Glauben überzeugend weitergeben könnten. Über die Gründe für die Austrittszahlen lässt sich nur spekulieren. Bislang gibt es keine systematischen Studien. Beobachter wie der Freiburger Religionssoziologe Michael Ebertz sprechen von einer generell stark nachlassenden Kirchenbindung: "Immer weniger Menschen kommen überhaupt noch mit Pfarrern oder anderen Vertretern von Kirche in Kontakt", sagt er. Die Menschen definieren sich nicht mehr über ihre Konfession, der Glaube wird stärker hinterfragt. Meistens geht dem Austritt ein langer Entfremdungsprozess voraus. Dann reicht der Ärger über eine öffentliche Äußerung des Bischofs oder ein Konflikt mit dem Pfarrer vor Ort dafür, um das Fass zum Überlaufen zu bringen.

Hinweise enthält eine Studie des Bistums Münster: Als erste hatte die westfälische Diözese 2015 eine Marketing-Studie durchgeführt. Danach waren rund 30 Prozent der Katholiken mit ihrer Kirche zufrieden - und ebenso viele unzufrieden. 22 Prozent der Befragten gelten als austrittsgefährdet. Dass vor allem junge Leute mit einem Austritt liebäugeln, legt eine Studie der EKD von 2014 nahe: Demnach erwägen in Westdeutschland rund 40 Prozent der unter 21-Jährigen und 25 Prozent der 21- bis 29-Jährigen einen Austritt.

Vergangene Woche benannte der Münsteraner Bischof Felix Genn seine Konsequenzen aus der Studie: Die Kirche müsse serviceorientierter werden, besser auf Menschen zugehen. Die Zeit, in der sie "von oben herab" Vorgaben für ein gelingendes Leben mache, sei vorbei. Teamfähigkeit sei gefragt, so der Bischof. Dazu gehöre dann auch, dass Menschen, die sich engagieren, mitentscheiden wollten.

Entfremdung versus Wir-Gefühl
Die Statistik zu Kirchenaus- und -eintritten in der Nahaufnahme
Von Joachim Heinz (KNA) Bonn (KNA) Ziemlich genau 8.350 "Seelen" zählt die Bonner Pfarrei Sankt Petrus, um die sich Pfarrer Raimund Blanke und sein Team kümmern. Das Gemeindeleben ist vielfältig, die Angebote reichen von Flüchtlingshilfe und Straßenexerzitien bis zu Literaturabenden, Männer-Wanderwochenden und Gesprächskreisen für junge Leute. Mit dem "Petrus-Weg" verfolgt die Pfarrei zudem einen Weg der Beteiligung möglichst vieler Gemeindemitglieder. An mangelndem Engagement scheint es nicht zu liegen, dass die Liste mit den Austritten deutlich schneller wächst als die mit den Eintritten - und das seit Jahren schon. 88 Menschen haben hier allein 2015 der Kirche den Rücken gekehrt - gegen-über vier Aufnahmen. "Ich habe das Gefühl, dass wir, was Kirche betrifft, in ganz Deutschland nicht mehr vor einem Wan-del, sondern eher vor einem Abbruch stehen, auch wenn das sehr negativ klingt", kommentiert Pfarrer Blanke die Zahlen. Zugleich betont er, trotz allem Hoffnung zu haben. "Ich sehe in unserer Gemeinde viele Zeichen, die mir Mut machen."

Ein Austritt wird vor dem Amtsgericht bekundet, das Einwohnermeldeamt zeigt ihn dann bei der Gemeinde an. Jeder, der diesen Schritt vollzogen hat, erhält einen Brief von Pfarrer Blanke, in dem ein Gespräch angeboten und nach den Gründen gefragt wird. "Aber in den fast zehn Jahren, in denen ich hier bin, hat es solch einen Austausch nur ein paarmal gegeben", bedauert der Seelsorger. So kann Blanke nur vermuten, "dass sich viele wohl nicht angemessen wahrgenommen fühlen". Die Frage bleibt, wie sich das künftig ändern soll, angesichts ständig größer werdender Gemeinden.

Eine aus Blankes Pfarrei, die im vergangenen Jahr austrat, ist Annette Beckmann (Name geändert). "In erster Linie aus finanziellen Gründen", wie sie freimütig einräumt. Beckmann war in einem großen Unternehmen tätig, das in den vergangenen Jahren Stellen kürzte. Irgendwann kam auch sie selbst an die Reihe - immerhin gab es eine hohe Abfindung. Genau darin lag für Beckmann der Knack-punkt. Einen fünfstelligen Betrag hätte sie an Kirchensteuern abführen müssen. "Das Geld wollte ich lieber meiner Familie zukommen lassen oder Hilfsorganisationen wie den Ärzten ohne Grenzen." Das Problem bei der Kirchensteuer sei doch, so findet sie zumindest, dass man "keine Ahnung" habe, wohin denn nun das ganze Geld fließe. Trotzdem: Richtig wohl fühlte sie sich nicht, als es daran ging, das Formular für den Austritt auszufüllen. "Ich bleibe gläubig", betont die Mittfünfzigerin, die nach eigenem Bekunden nervös wird, wenn zu Ostern kein Palmzweig und keine gesegnete Kerze im Haus sind. Warum sie dennoch der Kirche den Rücken kehrte?

Beckmann hält kurz inne. Und erzählt dann davon, wie sie Kirche in den vergangenen Jahren erlebt hat. Im katholischen Krankenhaus, in dem ihre Mutter im Sterben lag. Und wo es nur ein einziges Mal zu einem Kontakt mit einem Seelsorger kam. Oder beim Pfarrer ihres Geburtsortes, der den Wunsch der Familie nach einer Totenmesse am Sonntag unter keinen Umständen erfüllen wollte. Wenn man Beckmann zuhört, scheint es manchmal so, als ob die heute allgegenwärtige Servicegesellschaft und die früher allgegenwärtige Kirche nicht mehr miteinander kompatibel sind.

Dabei bleiben Typen mit Ecken und Kanten offenbar gefragt. Zum Beispiel Papst Franziskus. "Das ist 'ne coole Socke", sagt Beckmann und klingt plötzlich durchaus begeistert von Kirche. "Der macht den Leuten klar, dass wir im Jahr 2016 leben und nicht mehr zu Zeiten der Inquisition." Aber es bleibt dabei. An ihrem Austritt gibt es - vorerst - nichts zu rütteln.

Auch Joachim Nadstawek ist schon einmal ausgetreten. 2011 war das, lange hatte er mit sich gerungen. Auslöser war ein Auftritt des Essener Bischofs Franz-Josef Overbeck in der ARD-Talkshow von Anne Will im Jahr zuvor. Der Bischof nannte damals Homosexualität eine Sünde, sie widerspreche der menschlichen Natur. Zwar revidierte Overbeck seine Äußerungen wenig später, traf sich auch mit Vertretern von Schwulen und Lesben. Aber für Nadstawek war der Zug zu diesem Zeitpunkt schon abgefahren. "Ich fand das einfach vorsintflutlich" - aus "persönlicher Betroffenheit" heraus, wie er sagt, aber auch, weil Jesus mit seiner Botschaft doch auf alle Menschen in gleicher Weise zugegangen sei.

Nadstawek, "seit Urzeiten" in der Kirche und ihr stets verbunden, aber ohne feste Gemeinde in Bonn, machte Schluss. Als Schmerztherapeut hat der Mediziner gelernt, ehrlich mit schwer kranken Menschen umzugehen. Nun wollte er ehrlich gegen sich selber sein. Der Austritt tat weh, wie er einräumt. Aber er schien konsequent - bis zu jener Christmette in der Stiftskirche. "Mich hat beeindruckt, dass der Pfarrer dort kritisch mit den Dingen umging, die in der Kirche passieren", erinnert er sich an die Predigt von Raimund Blanke.

Es blieb nicht bei dem einen Gottesdienstbesuch. Nadstawek kam häufiger, fühlte sich in der Gemeinde zuhause. Was ihn konkret anzog? Die persönliche Atmosphäre, das "Wir-Gefühl". Glaube, so fasst es der 67-Jährige zusammen, habe eben auch sehr viel mit denen zu tun, die ihn vermitteln. Ein Bischof hat ihn mit seinen Äußerungen zum Austritt bewogen, ein Pfarrer zum Wiedereintritt im März 2015. Einen kritischen Blick hat sich Nadstawek gleichwohl bewahrt - auch auf das Führungspersonal: Das müsse die Kirche zukunftsfester machen. Und Fragen wie die nach dem Priesteramt für Frauen und einem Ende des Pflichtzölibats für Priester ergebnisoffen angehen, findet er.

Dabei bleibt der Mediziner ganz Realist. "Frauen am Altar werde ich wohl nicht mehr erleben." Für sein persönliches Engagement in der Kirche spiele das aber nicht die Hauptrolle. Das Gleiche gelte für den Fall, wenn Raimund Blanke eines Tages die Leitung der Pfarrei in andere Hände geben müsse. Die Gemeinde sei in all den Jahren zusammengewachsen. "Das macht so schnell niemand kaputt", zeigt er sich überzeugt. Für ihn habe sich in Bonn ein Kreis geschlossen: "Ich habe das wiedergefunden, was ich zwischenzeitlich verloren hatte."

Kirchenaustritte und andere statistische Daten der Kirchen
Bonn/Hannover (KNA) Die beiden großen Kirchen haben am Freitag Daten zum kirchlichen Leben im Jahr 2015 bekannt gegeben. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) nennt wichtige Zahlen. - Aus der katholischen Kirche traten 181.925 Menschen aus, 35.800 weniger als im Jahr zuvor. Die EKD meldet 210.000 Kirchenaustritte; das bedeutet einen Rückgang von 60.000 gegenüber dem Vorjahr.

- Zur katholischen Kirche und ihren 27 Diözesen gehören damit 23,761 Millionen Mitglieder. Das sind 29 Prozent der Gesamtbevölkerung. Zu den evangelischen Kirchen gehören noch 22,27 Millionen Kirchenmitglieder oder 27,2 Prozent der Bundesbürger.

- Erstmals seit mehreren Jahren ist die Zahl der Taufen in der katholischen Kirche mit 167.226 leicht gestiegen (2014: 164.833), ebenso die Zahl der Trauungen mit 44.298 (2014: 44.158). Die 20 evan-gelischen Landeskirchen verzeichneten 175.000 Taufen.

- Im vergangenen Jahr konnte die katholische Kirche 2.685 Eintritte (minus 124) und 6.474 Wieder-aufnahmen (plus 160) verzeichnen. Die evangelischen Kirchen registrierten 25.000 Aufnahmen.

- Der durchschnittliche Kirchenbesuch in der katholischen Kirche sank von 10,8 auf 10,4 Prozent.

- Die Gesamtzahl der Weltpriester in der katholischen Kirche liegt bei 11.963 (2014: 12.219). Die Zahl der Ständigen Diakone ist mit 3.304 leicht gestiegen (2014: 3.236).

Zuletzt geändert am 15­.07.2016