28.10.2017 - Schwäbische Zeitung

Reformer wollen „Verdunstung des Glaubens“ stoppen

Enttäuschung, Wut und Zorn bei den wenigen noch aktiven Katholiken, Resignation und Gleichgültigkeit bei den vielen Christen, denen Kirche egal geworden ist: Wenn sich an diesem Wochenende in Ulm die Reformbewegung „Wir sind Kirche“ trifft, dann geht ein Schreiben des 85-jährigen Pfarrers Siegfried Fleiner an die katholischen Bischöfe durch die Reihen der Delegierten.

Der Pensionär aus Kirchstein im Landkreis Traunstein ist mächtig sauer auf die obersten Hirten seiner Kirche: „Ich spüre eine zunehmende Wut auf Euch, weil Ihr sehenden Auges unsere Gemeinden und unsere Kirche in eine seelenlose Wüste führt“, hält der Priester den deutschen Bischöfen vor. Mit seinem offenen Brief trifft er die Kirche ins Mark: Sonntags bleiben Kirchen leer, weil dort kein Gottesdienst gefeiert wird. 2015 wurden nur 58 Priester in Deutschland geweiht. Immer weniger Gläubige, Priester und Gottesdienste, die Gläubige mitfeiern und so Kirche erleben können: eine Abwärtsspirale ohne erkennbaren Ausweg.

Viele Forderungen

Die Teilnahme an der sonntäglichen Eucharistiefeier, dem Zentrum der Verkündigung, war bereits in der frühen Kirche kennzeichnend für die Christen. Heute werten Bischöfe wie der Fuldaer Oberhirte Heinz Josef Algermissen die „Verdunstung des Glaubens“ als „einen Schwund des Glaubens und ein Erkalten der Liebe. Wir lassen Jesu Liebe unbeantwortet.“ In Ulm beschäftigen sich die 60 Delegierten damit, wie „Menschen der Zugang zum Kern der christlichen Botschaft und zur Kirche auch im kommenden Jahrtausend ermöglicht wird“. „Zu unseren Sorgenthemen gehört das von den Kirchenleitungen forcierte Gemeindesterben“, sagt Christian Weisner vom „Wir sind Kirche“-Bundesteam. Forderungen nach Abschaffung des Zölibats und nach Öffnung des Priesteramtes für Frauen werden immer lauter, werden aber nicht umgesetzt.

Doch in Ulm blickt die Bewegung „Wir sind Kirche“ nicht nur auf die deutsche Kirche. Dass heute selbst der Papst die Unterstützung kritischer Katholiken benötigen würde, überrascht Weisner: Doch Franziskus erlebt Gegenwind durch konservative Heckenschützen. Der Wiener Theologe Paul Michael Zulehner und der Prager Religionsphilosoph Tomas Halik hatten daher die Aktion „Pro Pope Francis“ vor rund zehn Tagen gestartet, 27 000 Unterzeichner werden gemeldet. Die „Pastoralkultur“ von Franziskus stehe für einen Umgang mit den Menschen, bei dem nicht das Gesetz, sondern das Erbarmen das letzte Wort haben solle. „Sie träumen von einer ,Kirche als Mutter und Hirtin’. Diesen Ihren Traum teilen wir“, so die Unterstützer.

Und wo bleibt – gerade am Reformationsjubiläum – die Ökumene? „Wir sind Kirche“ mahnt: „In einem zunehmend säkularer werdenden Europa und angesichts der weltweiten materiellen wie geistigen Not so vieler Menschen müssen die christlichen Kirchen rasch zur versöhnten Einheit finden und so zum Vorort der geeinten Menschheit werden.“

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Zuletzt geändert am 28­.10.2017