4.7.2018 - Die Tagespost

Reformhype von gestern

Die katholische Kirche und die 68er Bewegung: Die Wolfsburg befasst sich mit Protestlern und linken Frommen. Von Heinrich Wullhorst

Wer im Jahre 1961 geboren ist, hat ein klares Bild von den 68ern. Viele Lehrer dieser Generation haben das als Lebensthema gehabt und ihre Schüler der 70er Jahre in der Folge geprägt oder genervt. Vor 50 Jahren brach die Studentenrevolte der 68er los. Dabei lässt sich das Phänomen nicht an einem einzigen Jahr festmachen. Es beschreibt einen längeren Zeitraum davor und danach. Die Katholische Akademie des Bistums Essen, die Wolfsburg, nahm das Jubiläum kürzlich zum Anlass, verschiedene Facetten der Bewegung in den Blick zu nehmen. Akademiedirektor Michael Schlagheck machte gleich zu Beginn deutlich, dass der Begriff der 68er inzwischen zu einer Art „Chiffre“ geworden ist, ein Code, unter dem man viele unterschiedliche Entwicklungen erfasst.

Wie war das mit den 68ern in der katholischen Kirche, lautete die zentrale Frage der zweitägigen Veranstaltung. Von Beginn an schien der Besucher Zeuge einer Zeitreise zu sein, weil dieses „Veteranentreffen“ vieles von dem Geist der damaligen Revolutionäre offenbarte. In diesem Lebensgefühl arbeitet man sich noch heute gern an Autoritäten ab.

Der erste, der das zu spüren bekam, war Werner Weidenfeld. Der 71-jährige Politikberater sollte in seinem Vortrag die „politisch-kulturelle Zäsur der 68er Bewegung beschreiben“. Zugegebenermaßen erging er sich dabei in vielen Anekdötchen und ließ die erwartete politische Analyse vermissen. Da wehte der Geist der 68er rau durch die Wolfsburg und entlud sich in mit ungeahnter Verve ins Wort gebrachter Kritik am Referenten.

Der Münsteraner Historiker Thomas Großbölting war demgegenüber klar in seiner Beschreibung der Infragestellung der Herrschaftsstrukturen in der Kirche. Er nannte es ein „anderes 1968“ als das der Studentenrevolte. In der katholischen Kirche finde man die Aufbruchsstimmung der 68er bereits vorher, zum Teil in den 50er Jahren, spätestens mit dem Hoffnung gebenden Zweiten Vatikanischen Konzil. Vor diesem Hintergrund war der hochpolitische Katholikentag in Essen weniger ein Produkt der 68er Bewegung. Er gab jedoch den Reformbewegten in der Kirche Raum. Es entstanden Gruppen wie der Essener oder der Freckenhorster Kreis, begründet von Priestern, die auf der Basis des Konzils Neues gestalten wollen, engagierte Laien kommen hinzu.

Christian Weisner, aus dem Bundesteam der Bewegung „Wir sind Kirche“ räumte ein, dass es nicht gelungen sei, die Kirche in dem Maße zu verändern, wie es sich die damaligen Reformkräfte gewünscht hätten. Einen denkbaren Grund dafür zeigte die Analyse von Thomas Kleinbölting auf: Sowohl das Zweite Vatikanum als auch die Würzburger Synode seien bis auf die Wahrnehmung einer veränderten Liturgie nur „sehr begrenzt in den Pfarreien angekommen“. Die Auflösung kirchlicher Milieus hat nach der Wahrnehmung des Historikers viel mehr mit der seit den 50er Jahren fortschreitenden Säkularisierung zu tun, als mit einer politischen Aufladung durch die 68er Bewegung.

Die Katholischen Studierenden Gemeinden waren Teil des Protests. Sie gehörten zu jenen, die beim Essener Katholikentag mit einem Plakat vor den Bischof zogen: „Hengsbach wir kommen, wir sind die linken Frommen.“ Und so blickten Edgar Utsch, der Sprecher des Essener Kreises, und Ferdinand Kerstiens, dem Mitbegründer des Freckenhorster Kreises, zurück auf die Anfänge. Beide waren damals geprägt von der „frischen Luft des Konzils“ und der politischen Theologie eines Johann Baptist Metz. Kerstiens beschrieb, wie er als Studentenpfarrer immer wieder gefordert war, dazu beizutragen, dass die Konflikte gewaltfrei blieben.

Für den Bischof war das Konzil abgeschlossen

Utsch erinnerte sich an den Essener Katholikentag, „bei dem wie in einem Brennglas die Konfrontationslinien deutlich wurden“. So habe der Bischof von Essen die Baustellen der Kirche als mit dem Konzil geschlossen betrachtet. Utsch und viele andere sahen sich erst am Beginn eines prozesshaften Geschehens. Die Enzyklika Humanae vitae sei so fern der Lebensrealität in den Familien gewesen, „dass das den Unfehlbarkeitsmythos des Papstes relativiert hat“, stellte Ferdinand Kerstiens daraus folgende Veränderungen im Hierarchieverständnis fest.

Bei der Diskussion zwischen Julia Lis vom Münsteraner Institut für Theologie und Politik und dem Sozialethiker Gerhard Kruip wurden die Diskussionslinien der damaligen Zeit noch einmal deutlich. Während Lis das große Ganze und die Gesamtheit der Verhältnisse in den Blick nahm, suchte der Mainzer Professor eher Antworten im Konkreten. Lis kritisierte, dass es Armut in einem reichen Land gebe, wandte sich gegen den neoliberalen Kapitalismus und die Verteilung von Produktionsmitteln und Vermögen. In einer so allgemeinen Analyse sah Kruip die Gefahr, dass man nur sehr schwer zu Lösungen kommt, weil man „vor lauter Wald die Bäume nicht sieht“.

Deutlich wurde: Die Debatte im Umfeld der 68er drehte sich häufig um Utopien. So kritisierte die Bundesvorsitzende von Pax Christi, Wiltrud Rösch-Metzler, trotz der weltweiten Bedrohungslage und dem Auseinanderfallen alter Bündnisstrukturen die Rüstungsanstrengungen der Bundesregierung. Aus ihrer Sicht sind Auslandseinsätze der Bundeswehr wenig sinnvoll. Sie glaubt, man könne dem Islamischen Staat ohne militärische Gewalt entgegentreten. Demgegenüber machte die ehemalige Leiterin der deutschen Geschäftsstelle von Justitia et Pax, Gertrud Casel, deutlich, dass militärische Mittel als Ultima Ratio durchaus zulässig seien. Keine Frage: Die Friedensbewegung der 70er Jahre wurde sehr stark auch von katholischen 68ern beeinflusst.

Die Journalistin Christiane Florin las aus ihrem Buch „Weiberaufstand“, in dem sie die Priesterweihe für Frauen fordert. Damit griff sie ein Thema auf, dass die 68er Katholiken schon damals grundsätzlich bewegte: die Rolle der Frau in der Kirche. Florin stören die „vielen Nadelstiche“, die sie als Frau im kirchlichen Alltag im Umgang von Klerikern immer wieder erfahren habe.

Zum Schluss der Veranstaltung kam ein bekennender „Anti-68er“ zu Wort. Der Publizist Andreas Püttmann, 1964 geboren und in einem konservativ-katholischen Elternhaus aufgewachsen. Sozialismus und realer Kommunismus waren dort Feindbilder. „Und für die Studenten, die mit diesem ideologischen Unsinn qua Marsch durch die Institutionen unsere gute Republik zu infiltrieren suchten, galt: Lange Haare, kurzer Verstand“, berichtete der Referent. In Schule und Kirche bekam er es mit Lehrern und Priestern zu tun, die angesagte „linke“ Themen in den Blick nahmen. Die Radikalisierungsdynamik der politischen 68er mit ihrer Theorie von der allgegenwärtigen „strukturellen Gewalt“ stieß ihn ab. Püttmann ist überzeugt: „Hätten sich die 68er mit ihrem Konzept von Gesellschaft durchsetzen können, wären Freiheit und Wohlstand auch in Westdeutschland gefährdet worden.“

Fazit: Die katholischen 68er gibt es eigentlich nicht. Ihr Engagement begann vor den revoltierenden Studenten. Geblieben sind ihr Widerspruchsgeist und ihre Freude an streitbarer Auseinandersetzung.

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Zuletzt geƤndert am 04­.07.2018