Zum ersten Mal gesteht die katholische Kirche in Deutschland ein, was sie erst jahrelang vertuscht und dann weiter beschönigt hat. Zum ersten Mal ließ sie den Kindesmissbrauch in ihren eigenen Reihen flächendeckend untersuchen. Die Ergebnisse der Untersuchung liegen der ZEIT exklusiv vor. Sie zeigen: 1670 Kleriker wurden zwischen 1946 und 2014 als Missbrauchsbeschuldigte innerhalb ihrer Kirche aktenkundig. 3677 Kinder und Jugendliche wurden nach Lage der Akten mutmaßlich zu Opfern. 4,4 Prozent aller Kleriker sollen im genannten Zeitraum Minderjährige sexuell missbraucht haben. "Diese Zahl stellt eine untere Schätzgröße dar", heißt es in einer offiziellen Zusammenfassung der Studie.

Mit anderen Worten: Hinter den wichtigsten Zahlen, die hier erhoben wurden, steht ein unsichtbares "mindestens". Viereinhalb Jahre lang haben sieben deutsche Forscher, fünf wissenschaftliche Mitarbeiter und ungezählte Hilfskräfte Akten analysiert und Interviews geführt. Im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) sollten sie vor allem zwei Fragen beantworten: Wie groß war das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs? Welche Besonderheiten der katholischen Kirche haben die Taten und ihre Vertuschung begünstigt?

Ergebnis: Was man bislang nur ahnte, was an dramatischen Einzelfällen bekannt und in Einzelstudien belegt war, wird nun weit übertroffen, allein durch die Zahlen der Opfer und der Täter. Sie sind alarmierend, auch weil die Forscher immer wieder betonen, das "Dunkelfeld" des Kindesmissbrauchs sei groß und die wahren Zahlen lägen erfahrungsgemäß "deutlich höher". Die Wahrheit ist also noch schlimmer.

Auf mehr als 350 Seiten wird nun der sexuelle Missbrauch im Verantwortungsbereich der DBK dokumentiert. Die Forscher tun das nüchtern, präzise, detailgenau. 27 Bistümer hatten sich vertraglich verpflichtet, am Projekt teilzunehmen. Doch ein Grundproblem bleibt: die Abhängigkeit der Ergebnisse von den Bischöfen. Daran war die Studie im ersten Anlauf gescheitert, weil der niedersächsische Kriminologe Christian Pfeiffer, der zunächst eine Studie für die DBK machen wollte, die Forschungsbedingungen unzumutbar fand. Zu Recht. Er wehrte sich dagegen, dass die Kirche den gültigen Vertrag nachträglich mit dem Ziel ändern wollte, die Forschungstexte zu kontrollieren und ihre Veröffentlichung "aus wichtigem Grund" sogar völlig verbieten zu dürfen. Außerdem kritisierte er die Vernichtung von Akten und den Widerstand der Kirche gegen eine unabhängige Aktenanalyse durch ehemalige Richter und Staatsanwälte.

Die letzten beiden Kritikpunkte werden nun bestätigt – und zwar durch die Studie selbst. Darin heißt es: "In einigen Fällen fanden sich eindeutige Hinweise auf Aktenmanipulation." Außerdem habe es "explizit die Information" aus zwei Bistümern gegeben, "dass Akten- oder Aktenbestandteile mit Bezug auf sexuellen Missbrauch Minderjähriger in früherer Zeit vernichtet wurden". Neben der Aktenvernichtung wird auch das Blockieren einer unabhängigen Einsicht in die vorhandenen Bistumsakten belegt. In der Zusammenfassung der Studie steht auf Seite eins: "Das Forschungsprojekt hatte keinen Zugriff auf Originalakten der katholischen Kirche. Alle Archive und Dateien der Diözesen wurden von Personal aus den Diözesen oder von diesen beauftragten Rechtsanwaltskanzleien durchgesehen."

Die Forscher haben Fragebögen entwickelt, anhand derer die Mitarbeiter in den Bistümern die Akten auswerten. Sie tragen Daten über die Betroffenen und die Beschuldigten ein, sie kreuzen Kategorien an, mit denen sich der genaue Ablauf der Tat beschreiben lässt. Und sie notierten, wie die Kirche auf Vorwürfe reagiert hat. Die ZEIT konnte mehrere solcher Erhebungsbögen einsehen, teilweise sind sie bis zu 50 Seiten lang.

So wertete man insgesamt 38.156 Personal- und Handakten aus. Aber: Keiner der Wissenschaftler hat in den kirchlichen Archiven je Akten in der Hand gehabt. Deshalb ist die Studie nicht wirklich unabhängig. Die aufzuklärende Institution hat die Aufklärung kontrolliert. Das unterscheidet sie fundamental von der Missbrauchsstudie der Grand Jury in Pennsylvania, die im August Aufsehen erregte. Das unterscheidet sie auch von der Missbrauchsstudie der Royal Commission in Australien, die Ende 2017 erschien. Allerdings: In Deutschland darf die Staatsanwaltschaft nur ermitteln, wenn ein Fall nicht verjährt ist.

Spezifika des sexuellen Missbrauchs innerhalb der katholischen Kirche

Dennoch kann man nicht behaupten, dass das deutsche Ergebnis die deutsche Kirche salviert. Es belegt unter anderem, dass der Anteil der Beschuldigten bei Diözesanpriestern 5,1 Prozent betrug (1429 Personen), bei Ordenspriestern 2,1 Prozent (159 Personen); bei hauptamtlichen Diakonen nur 1,0 Prozent (24 Personen). Allein diese Zahlen dürften eine heftige Debatte über die Macht geweihter Priester und über den Pflichtzölibat auslösen. Warum ist ausgerechnet bei den Priestern der Bistümer die Wahrscheinlichkeit, Missbrauchstäter zu werden, so viel höher? Liegt es auch daran, dass sie im Gegensatz zu den Diakonen zölibatär leben müssen und dass sie im Gegensatz zu den Ordensleuten mehr Macht in der Hierarchie haben? Wer solche Fragen, wie bisher, abwehren will, der wird es nun schwerer haben. Es wird ihm auch die vorsichtige Einschränkung der Forscher nichts helfen: Eine exakte Kalkulation der Gesamtzahl von Klerikern sei unmöglich gewesen. Denn dieselben vorsichtigen Forscher sagen ja auch: In den Diözesen seien "bis zu acht Prozent der gesamten Kleriker" als mutmaßliche Missbrauchstäter aktenkundig geworden.

Daraus folgt unweigerlich die Frage: Wie wahrscheinlich ist es, dass die Bistumsverantwortlichen, namentlich die Bischöfe, von den Verbrechen nichts wussten? Wie wahrscheinlich ist es, dass aus purer Unwissenheit so wenige Täter offen sanktioniert wurden, sei es nach Kirchenrecht, sei es nach weltlichem Recht? Antwort: Es ist sehr, sehr unwahrscheinlich.

Dies ausführlich zu belegen ist das Verdienst von Studiendirektor Harald Dreßing und seines Forschungsverbundes von Psychiatern, Kriminologen, Soziologen und Psychologen. Sie alle kommen aus kirchenunabhängigen Universitäten in Mannheim, Heidelberg, Gießen und haben nach Kräften versucht, den entscheidenden Nachteil dieses Aufklärungsprojektes wettzumachen: dass es von den Bischöfen nicht nur in Auftrag gegeben, sondern auch finanziert wurde – nach Informationen der ZEIT mit rund 1,1 Millionen Euro.

So belegen sie, dass der Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche nicht mit dem Jahr 2010 endet, als die Aufklärungswelle in Deutschland begann. Es gab auch nach 2010 noch Erstbeschuldigungen. "Das bedeutet, dass sexueller Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker der katholischen Kirche kein vergangenes oder abgeschlossenes historisches Phänomen darstellt, sondern trotz der zwischenzeitlich ergriffenen Maßnahmen der Kirche weiterhin stattfindet."

Nun kann man sagen: Das ist kein Problem der Kirche allein. Ja! Kindesmissbrauch ist nicht kirchenspezifisch. Aber es gibt Spezifika des sexuellen Missbrauchs innerhalb der katholischen Kirche. Die genannten Studien aus Amerika und Australien haben es zweifelsfrei belegt. Experten wie der Jesuit Klaus Mertes und der Psychotherapeut Bernd Deininger haben es analysiert. Große katholische Reformverbände wie Wir sind Kirche fordern seit Jahren Konsequenzen, etwa die Abschaffung des Pflichtzölibats, die Beschränkung der Bischofsmacht, die Kontrolle der Priester. Dass solche Forderungen legitim sind, auch dies wird nun belegt durch die Studie. Sie macht die Risikofaktoren der verleugneten Sexualität, der verteufelten Homosexualität, des innerkirchlichen Gehorsams unabweisbar.

Sie liefert erklärungsbedürftige Zahlen wie diese: dass die Betroffenen zu mehr als 62 Prozent männlich und zu etwa 35 Prozent weiblich sind. Die Häufung männlicher Opfer betrug in einigen Teiluntersuchungen sogar gut 80 Prozent.

Und schließlich: In einem eigenen Kapitel wird gezeigt, wie die Bistümer den Missbrauch systematisch vertuschten. Bei 1670 aktenkundigen Beschuldigten wurde nur gegen 566 ein kirchenrechtliches Verfahren eingeleitet, also nur in jedem dritten Fall. Davon wiederum endeten 154 Verfahren ohne Strafe oder Sanktion, in 103 Fällen gab es lediglich eine Ermahnung. Aus dem Klerikerstand entlassen wurden zwar 41 Beschuldigte, Exkommunikationen gab es bei 88 Beschuldigten. Doch diese aus klerikaler Sicht drastischen, irreversiblen Sanktionen betreffen nur 7,8 Prozent aller Beschuldigten. Hinzu kommt, dass solche Sanktionen aus rechtsstaatlicher Sicht alles andere als angemessen sind. Wenn überhaupt, dann wählte die Kirche am liebsten weiche Strafen wie Frühpensionierung, Zelebrationsverbot, Therapie, Beurlaubung, Ermahnung, geringe Geldstrafen oder gar Exerzitien.

969 der Missbrauchten waren Ministranten

Die Autoren der Studie benennen das Desaster des Institutionenschutzes in ihrer juristisch abgesicherten Studiensprache. Aber ein Desaster bleibt es doch: "Somit ist die Bereitschaft der Kirche, Fälle des sexuellen Missbrauchs mit den eigenen dafür vorgesehenen Verfahren zu untersuchen und Beschuldigte gegebenenfalls einer kirchenrechtlichen Bestrafung zuzuführen, in Anbetracht der Befunde als nicht sehr ausgeprägt anzusehen."

Nur gegen knapp 38 Prozent der Beschuldigten wurde Strafanzeige gestellt, die meisten Anzeigen kamen von den Betroffenen selbst oder ihrer Familie. Repräsentanten der Kirche haben, soweit man weiß, nur in 122 Fällen die weltliche Justiz eingeschaltet, das betrifft 7,3 Prozent aller Beschuldigten. Immerhin: Es gibt vermehrt Anzeigen, seit bischöfliche Leitlinien für den sexuellen Missbrauch veröffentlicht wurden. Es gibt aber auch Diözesen, die die Verantwortung jetzt allzu schnell an die Staatsanwaltschaft abgeben und selbst gar nichts tun. Das wiederum finden die Forscher problematisch im Sinne des Opferschutzes.

Eher schwach ist die Studie, wo es um Belege für Versetzungen geht, die der Vertuschung von Missbrauch dienten. Hier müssen künftig genaue und unabhängige Studien zu einzelnen Bistümern, wie etwa in Hildesheim, Aufschluss geben. Immerhin kritisiert die Studie der DBK: Dass einschlägig vorbelastete Beschuldigte in einem weitgehend ahnungslosen Umfeld platziert wurden – dieses Risiko hätten Bischöfe "leichtfertig oder bewusst in Kauf genommen".

Zum fairen Bild des innerkirchlichen Missbrauchsgeschehens gehört die Einsicht: Missbrauchstäter waren nicht unbedingt Serientäter. Von 1023 der Beschuldigten ist nur je eine Tat bekannt. 782 der Beschuldigten sollen 2 bis 10 Taten begangen haben. 96 der Beschuldigten allerdings mehr als hundert. Wem diese Schreckenszahl nicht genügt, um die Kirchenspezifik der Verbrechen zu sehen, der wird nun belehrt, dass diese sehr oft sozusagen im heiligen Bezirk, im Herzen der Kirche stattfanden: 969 der Missbrauchten waren Ministranten. Das sind mehr als ein Viertel aller Betroffenen, nämlich 26,4 Prozent.

Und nun? Müssen die Bischöfe, Priester, Gemeinden die viel zu lange verleugneten Probleme lösen. Muss die DBK mit den Mängeln ihrer eigenen Aufklärung umgehen. Auch wenn die Studie die bisher umfassendste Untersuchung des Missbrauchs in der katholischen Kirche in Deutschland ist: Das tatsächliche Ausmaß kann nie ganz erfasst werden. Niemand weiß, wie viele Akten über missbräuchliche Priester und untätige Mitwisser vernichtet wurden – sei es aus Vertuschungsvorsatz oder weil Personalakten eben nach einer gewissen Zeit vernichtet werden dürfen. Die Ergebnisse der Studie werden auch jene enttäuschen, die Verantwortliche benannt sehen wollten. Namen von Bischöfen und Bistümern werden nicht genannt. Weibliche Täter wurden nicht erfasst. Orden, die nicht der Verantwortung der DBK unterstehen, auch nicht.

Zurzeit liegen die Daten über den Umfang des Missbrauchs in der katholischen Kirche zusammengefasst für ganz Deutschland vor. Erst nach der Veröffentlichung könnten Diözesen die Einzel-Erkenntnisse für ihr Gebiet beantragen. Die Forscher müssten die Daten dann wieder auseinanderrechnen. Es wäre denkbar. Man müsste es wollen. Die Wissenschaftler sagen, die Zusammenarbeit mit den 27 Diözesen sei "nicht homogen" gewesen. Trotzdem haben sie 220 Betroffene interviewt. Sie hätten auch gern mit mehr Tätern gesprochen. In der Ankündigung der Studie 2014 war die Rede von einer Mindestanzahl von 70 Beschuldigten. Am Ende kamen nur 50 Interviews zustande. Die Kirche hätte mehr Druck machen können.

Am Ende geben die Forscher der Kirche Empfehlungen: gegen die Risiken des Klerikalismus, der engen Sexualmoral, des Pflichtzölibats. Solche Ratschläge ergehen klarer und deutlicher längst von den katholischen Laien. Bisher hat es nur nicht geholfen. Vielleicht hilft es, wenn die Bischöfe jetzt die Liste der Missbrauchstaten lesen, die an Kindern und Jugendlichen verübt wurden. Seite 288 der Studie: Berührung primärer Geschlechtsteile unter der Kleidung, Küsse auf den Mund, genitale Penetration, Masturbation an Betroffenen, Entkleidung Betroffener, Demütigung und Züchtigung, Oralverkehr, Fingerpenetration, Zeigen pornografischer Bilder… Die Beschuldigten haben mehrheitlich keine Reue gezeigt. Auch das kann man nachlesen. Vielleicht hilft es. Vielleicht.

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