21.2.2019 - DIE ZEIT "Glauben & Zweifeln" Seite 48

Schuld und Sühne

Die katholische Kirche befindet sich in ihrer tiefsten Krise. Der Missbrauchsgipfel in Rom soll neue Glaubwürdigkeit bringen. Kardinal Christoph Schönborn aus Wien hat vorgemacht, wie das gelingen kann

VON EVELYN FINGER, SEBASTIAN KEMPKENS UND DANIEL MÜLLER

. . .

Im Jahr 2010 sah es so aus, als würde der Skandal auch Joseph Ratzinger erreichen. Einer der Fälle fiel in die Jahre 1977 bis 1982, jene Zeit, in der Ratzinger Erzbischof von München und Freising war. Die Anwältin aber sagt: »Für schuldhafte Verstrickungen des ehemaligen Erzbischofs haben sich keine belastbaren Anhaltspunkte ergeben.« Nein, niemand habe sie angewiesen, ihn da rauszuhalten. »Wir haben vom Erzbistum überhaupt keine Direktiven erhalten.«

Dass in den alten Akten über den berühmtesten Bischof der Deutschen nichts steht, ist Glück. Oder Pech? Es lenkt den Blick wieder auf das Wesentliche, den Vatikan. Ratzinger kam 1981 auf Geheiß von Johannes Paul II. nach Rom, um die Geschicke der ganzen Kirche zu bestimmen. Ihn heute von jeder Verantwortung für die Missbrauchsvertuschung freizusprechen macht seine Kirche nicht glaubwürdiger, sondern unglaubwürdig. Vielleicht wären Ratzingers Verdienste jetzt überzeugender, wenn seine Anhänger bereit wären, ihm auch Fehler zuzugestehen.

2010, im Jahr der deutschen Missbrauchsenthüllungen, kritisierte Christoph Schönborn, der Kardinal, der sich nun bei der Nonne entschuldigte, den zweiten Mann im Vatikan. Angelo Sodano, der Kardinalstaatssekretär, hatte in der Ostermesse auf dem Petersplatz die Kritik an seiner Kirche als »Geschwätz des Augenblicks« abgetan. Schönborn nun rügte Sodano öffentlich, im Gegensatz zu Ratzinger. Das lag wohl auch daran, dass Schönborn einst einen Fehler begangen hatte, den er nicht wiederholen mochte: Jahre zuvor hatte er seinen eigenen Amtsvorgänger in Wien in Schutz genommen, Erzbischof Hans Hermann Groër, der sich dann doch als Missbrauchstäter herausstellte. Schönborn entschuldigte sich für diesen Irrtum bei den Opfern. Sodano jedoch verhinderte eine Untersuchung des Falles. Genau das führte letztlich zur Gründung einer kritischen Laienbewegung, die heute unter dem Namen »Wir sind Kirche« Mitglieder in aller Welt hat.

Schönborn aber wurde nach Rom zitiert, weil er es gewagt hatte, den Kardinalstaatssekretär Sodano zu kritisieren. Im Vatikan wurde er in Anwesenheit des damaligen Papstes heruntergeputzt – der sah schweigend zu und verteidigte so nicht die Wahrheit, sondern bloß seine Macht. Inzwischen weiß man, dass der Kirche nichts so sehr schadet wie der Versuch, sich gegen Kritik abzuschirmen. Ihre moralische Selbstüberhöhung hat sie in ihre tiefste Glaubwürdigkeitskrise geführt.

https://www.wir-sind-kirche.de/files/wsk/2019/ZEIT_2019_09_00048.pdf

Zuletzt geändert am 21­.02.2019