24.2.2019 - stern.de

Warum der Papst auf dem Missbrauchsgipfel eine Chance vertan hat

Vor sechs Jahren trat Franziskus als Hoffnungsträger an. Nun hat er mit dem Gipfel zum Thema Missbrauch eine Möglichkeit verpasst, sich als konsequenter Reformer zu beweisen. Doch es gibt auch Fortschritte beim Krisenthema Nummer Eins der Kirche.

Piero Brogi steht im rauen Wind draußen auf dem Petersplatz. "Vergewaltigt mit neun Jahren" steht auf seinem weißen Kapuzenpullover. "Ich bin extrem enttäuscht, aber ich habe mir auch nichts anderes erwartet", sagt der 55-Jährige. Gerade hat Papst Franziskus eine Rede gehalten, die im Vorfeld als wegweisend für sein Pontifikat eingestuft worden war. Für Brogi war der Anti-Missbrauchsgipfel im Vatikan allerdings die "x-te PR-Aktion, um die Wogen zu glätten, der aber keine Fakten folgen". Der Italiener Brogi ist nicht alleine mit seinem Urteil. "Enttäuschung", "Fiasko" und "schamlos" sind die Worte, die nun fallen. 

Franziskus hat die Chance gehabt, an diesem Sonntag ein neues Kapitel für die katholische Kirche aufzuschlagen. Er hatte die Spitzen der Bischofskonferenzen der Welt für vier Tage nach Rom geladen, um mit ihnen einen Weg aus der Krise zu finden, die die Kirche seit Jahren erschüttert. Vielleicht waren die Erwartungen gerade aus Ländern wie Deutschland in der Tat zu hoch. Aber die Abschlussrede, die der Argentinier hielt, erstaunte dann doch viele. 

Gewiss, er setzte mit seiner Wortwahl starke Akzente gegen die "Abscheulichkeit" Missbrauch. Aber wo waren die konkreten Maßnahmen gegen Missbrauch durch katholische Geistliche, die er zu Beginn der Konferenz selbst verlangt hatte? Wo war der Blick auf das Machtsystem Kirche, das viele Experten für die Misshandlungen von Kindern mitverantwortlich machen? Wo war die klare Linie? 

"Wir haben dieses Bekenntnis, Missbrauch zu bekämpfen, schon oft gehört. Wann und wie, das ist es, was wir hören müssen - im Detail", twitterte die Irin Marie Collins, die selbst Opfer von Missbrauch wurde. Sie saß einst in der päpstlichen Kinderschutzkommission, bevor sie diese aus Frust über deren Wirkungslosigkeit verließ. Von einer "verpassten Chance" spricht auch Matthias Katsch von der deutschen Opferschutzvereinigung Eckiger Tisch, die in Deutschland die Enthüllungen vor rund zehn Jahren ins Rollen brachte. 

Abschluss der Konferenz bleibt vage

Zwar kündigte der Vatikan konkrete Konsequenzen an, die in den kommenden Tagen verkündet werden sollten. Dazu gehört ein "praktisches Handbuch", damit Bischöfen klar und deutlich vermittelt wird, dass auch sie Verantwortung tragen. Auch soll eine Task Force "kompetenter Personen" gebildet werden, die die Ortskirchen unterstützen sollen. Doch der Abschluss der Konferenz bleibt trotz allem vage. 

Statt sich sofort klar und deutlich mit der Schuld der Kirche zu beschäftigen, ging der Papst erst mal auf Missbrauch als gesamtgesellschaftliches Problem ein. Er sprach von Eltern, Sportlehrern und Verwandten, die sich des Missbrauchs schuldig machten. Dann spricht er von Sextourismus und dem Internet, in dem Pädophile Kindern nachstellten. Von der Kirche ist da immer noch keine Rede. 

Selbst wenn er dann auf die besondere Schwere der Schuld der Kirche als moralische Autorität eingeht, die sich doch eigentlich als liebende Mutter versteht: Der Diskurs über das globale Problem Missbrauch hat dennoch einen Beigeschmack. Das Signal an die Opfer: Erst spreche ich über das Problem woanders, bevor ich mich mit meinem eigenen beschäftige. 

Wie so oft kommt Franziskus auf "das Böse" zu sprechen, das hinter dem Missbrauch stecke. "Die gottgeweihte Person (...) lässt sich von ihrer menschlichen Schwäche oder ihrer Krankheit versklaven und wird so zu einem Werkzeug Satans." Missbrauch vergleicht der Papst mit dem heidnischen Ritual, Menschen zu opfern. Es gebe keine ausreichenden Erklärungen für Missbrauch von Kindern, meint der Papst. 

Weiterhin klüngelde Männerbünde in der Kirche

Für viele Kritiker gibt es allerdings schon Erklärungen: Die Machtstruktur, die klüngelden Männerbünde in der Kirche, die fehlende Einbeziehung von Laien, Frauen und Nicht-Klerikern bei den Ermittlungen oder die oft institutionalisierte Geheimhaltung, die Vertuschung begünstigt. Wenn überhaupt, streift der Papst diese Themen. Auch spricht er die zentrale Forderung vieler Opfer nicht an, schuldige Priester umgehend aus dem Klerikerstand zu entlassen. 

Stattdessen spricht er von einem "Gerechtigkeitswahn, der von den Schuldgefühlen aufgrund der vergangenen Fehler und dem Druck der medialen Welt hervorgerufen wird". Journalisten legt er "Kalkül" nahe und wirft ihnen vor, die "von den Kleinen durchlebten Dramen" für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.

"Meine Erwartungen gingen gegen Null - aber auch die wurden unterschritten", sagte Thomas Schüller, Direktor am Institut für Kanonisches Recht an der Universität Münster. Er sieht das gesamte Pontifikat von Franziskus "am Ende", "in dem Sinne, dass Franziskus nicht als Reformpapst in die Geschichte eingehen wird, sondern als Bewahrer". Seinen erzkonservativen Kritikern bot Franziskus bei dem Gipfel nicht die Stirn. 

 
 

Für die Kirche in Deutschland bot das Treffen die Erkenntnis, dass man in anderen Ländern noch sehr hinterherhinkt und dass diese Kluft nun vielleicht aufgearbeitet wird. Es war von vorneherein klar, dass in Deutschland heiß diskutierte Themen wie der Zölibat oder die Sexualmoral der Kirche auf dem Gipfel nicht zur Debatte stehen. 

Schritt in die richtige Richtung?

Auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, hatte immer wieder auf unrealistische Erwartungen hingewiesen. Sein Vortrag zum Thema Transparenz wurde mit großem Lob in der internationalen Presse bedacht. Er sprach offen Aktenvernichtung in der Kirche an, legte konkrete Forderungen nach mehr Offenheit vor. Das päpstliche Geheimnis müsse beim Thema Missbrauch auf den Prüfstand. Zwar erklärte Marx am Sonntag, er ziehe nach dem Treffen eine "positive Bilanz". Aber auch ihm wird klar sein, dass sich viele Gläubige bei ihm zuhause mehr erhofft hatten. 

Die deutsche Kirche könne man nun nur ermutigen, Missbrauch "konsequenter als der Papst" entgegenzutreten und "Elite" zu sein, so Kirchenrechtler Schüller.

Die Laienbewegung Wir sind Kirche sieht trotz allem einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung. "Papst Johannes Paul II. hatte das Thema noch ganz negiert. Joseph Ratzinger hatte dann versucht, alles unter Geheimhaltung zu stellen und in der Glaubenskongregation zu bündeln", heißt es in einer Mitteilung. "Nun ist Franziskus der erste Papst, der so offensiv wie keiner seiner Vorgänger und gegen viele Widerstände auch in der eigenen Kirche das aufzuarbeiten versucht, was jahrzehntelang unter den Teppich gekehrt worden ist." 

https://www.stern.de/panorama/gesellschaft/missbrauchsgipfel--warum-der-papst-eine-chance-vertan-hat-8594680.html

Zuletzt geändert am 24­.02.2019