Nein, die katholische Kirche hat sich im Umgang mit dem sexuellen Missbrauch in ihren Reihen wirklich nicht mit Ruhm bekleckert. Dem jahrzehntelangen Schweigen, Vertuschen und Abwiegeln folgte in den letzten Jahren eine kirchliche "Aufarbeitung", die ihren Namen kaum verdient hat. Nun hat sich der frühere Papst Benedikt zu Wort gemeldet und der 68er Bewegung die Schuld am Missbrauch in der Kirche gegeben - eine Argumentation, die so falsch wie gefährlich und eklig ist.

Doch zuvor ein Blick zurück: Als im Sommer 2018 die Bischofskonferenz in Fulda zusammentraf, um sich über das Ausmaß des Missbrauchs in der Kirche informieren zu lassen, wurden den Geistlichen erschreckende Zahlen präsentiert: Zwischen 1946 und 2014 sollen mindestens 1670 katholische Kleriker 3677 meist männliche Minderjährige missbraucht haben. Allein imErzbistum Bamberg wurden 88 Opfer identifiziert.

Fast jeder 20. Kleriker ist ein Sexualstraftäter

Damit sind unglaubliche 4,4 Prozent aller Kleriker in Deutschland in diesem Zeitraum mutmaßliche Sexualstraftäter. Doch selbst in kirchennahen Verbänden herrscht Zweifel daran, dass die Kirche den Ernst der Lage begriffen hat: Derzeit sei sie "offenbar nicht in der Lage, einen einheitlichen Weg in der Aufarbeitung und in der Prävention zu gehen", sagte Christian Weisner von der katholischen Reformbewegung "Wir sind Kirche" im Herbst 2018 gegenüber der dpa. Es gebe noch immer "viel zu wenige in der Kirchenleitung, die den Ernst der Lage erkennen und auch wirklich bereit sind, die grundlegenden Debatten zu führen, die jetzt notwendig sind."

Und der Papst? Der hatte im Nachgang der weltweiten Debatten die Christen weltweit zu einem täglichen Gebet für die katholische Kirche aufgefordert. Nicht etwa für die Opfer, nein, für die Institution Kirche. "Wir haben es mit einem sehr hierarchisch geführten System zu tun, mit einem männerbündischen System an Klerikern. Immer noch heißt das Motto: Auf die Kirche als heilige Institution, die Jesus gewollt hat, darf nicht der geringste Schatten fallen", sagte Kirchenrechtler und Theologie-Professor Thomas Schüller anlässlich der Bischofskonferenz.

Eine Ansammlung kruder Thesen und eine Missachtung der Opfer

Man sollte diesen Ausspruch Schüllers im Hinterkopf behalten, wenn man die kruden Theorien von Joseph Ratzinger, dem emeritierten Papst Benedikt XVI, näher betrachtet. Auf dem Internetauftritt der katholischen Nachrichtenagentur CNA kann man Benedikts Aussagen im Wortlaut nachlesen. Doch das sollte man sich genau überlegen: Manchmal wirken einzelne Aussagen ja überspitzt, wenn man sie aus dem Zusammenhang reißt. In diesem Fall ist es jedoch andersherum: Beim Lesen von Benedikts Einlassungen kommt man aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus.

"Zu den Freiheiten, die die Revolution von 1968 erkämpfen wollte, gehörte auch diese völlige sexuelle Freiheit, die keine Normen mehr zuließ", sagt Benedikt alias Ratzinger da. Denn für ihn ist der Missbrauch in der Kirche - entgegen aller Daten - ein neues Phänomen: "Die Frage der Pädophilie ist, soweit ich mich erinnere, erst in der zweiten Hälfte der 80er Jahre brennend geworden." Benedikt erinnert sich zurück: Im Gedächtnis ist mir auch geblieben, wie ich am Karfreitag 1970 in die Stadt (Regensburg) kam und dort alle Plakatsäulen mit einem Werbeplakat verklebt waren, das zwei völlig nackte Personen im Großformat in enger Umarmung vorstellte."

Und die "Auswüchse" in der Kleidung hätten damals ein Lernen in der Schule fast unmöglich gemacht. Zwischen den Zeilen sagt er damit: Wer so von Nacktheit bombardiert wird, kann ja gar nicht anders, als Kinder zu missbrauchen. Die gleiche Argumentation fand sich in Skandal-Prozess in Irland im Herbst 2018: Dort wurde ein Vergewaltiger unter anderem deshalb freigesprochen, weil das 17-jährige Opfer einen Tanga trug.

Hauptsache die Kirche wird geschützt

Diese Rechtfertigung der Täter und die Missachtung der Opfer zieht sich wie ein roter Faden durch Ratzingers Text. Zwei Dinge sind ihm in Hinblick auf die Aufarbeitung des Missbrauchs wichtig: Das Rechts des Angeklagten auf einen fairen Prozess und der Schutz der Kirche. Denn man müsse "auch den Glauben schützen, der ebenfalls ein wichtiges Rechtsgut ist." Mehr noch: "Wir müssen alles tun, um das Geschenk der heiligen Eucharistie vor Missbrauch zu schützen." Man merke: Die Eucharistie, nicht die Menschen.

Wenn Benedikt überhaupt von den Opfern spricht, dann nur, weil sie den Glauben verlieren könnten: "Eine junge Frau, die als Ministrantin Altardienst leistete, hat mir erzählt, dass der Kaplan, ihr Vorgesetzter als Ministrantin, den sexuellen Missbrauch, den er mit ihr trieb, immer mit den Worten einleitete: 'Das ist mein Leib, der für dich hingegeben wird.' Dass diese Frau die Wandlungsworte nicht mehr anhören kann, ohne die ganze Qual des Missbrauchs erschreckend in sich selbst zu spüren, ist offenkundig."

Werfen wir noch einmal einen Blick zurück in den Herbst 2018: Da sagte der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Marx: "Allzu lange ist in der Kirche Missbrauch geleugnet, weggeschaut und vertuscht worden. Für dieses Versagen und für allen Schmerz bitte ich um Entschuldigung."

Menschen verlieren Vertrauen - und zwar zu Recht

Doch Worte der Entschuldigung reichen eben nicht. Es muss eine wirklich ernst gemeinte Auseinandersetzung mit den Strukturen der Kirche (nicht der 68er) her, die zukünftige Straftaten verhindert, statt sie im Nachgang aufzuarbeiten. Doch davon ist man in der katholischen Kirche scheinbar weiter entfernt, als der Teufel vom Himmel. Stattdessen zieht man sich zurück auf Plattitüden: "Nur der Gehorsam und die Liebe zu unserem Herrn Jesus Christus kann den rechten Weg weisen."

Kein Wunder also, dass die Menschen den Glauben an den Aufklärungswillen der Kirche verlieren: Im Frühjahr 2019 veröffentlichte das Meinungsforschungsinstitut YouGov eine Umfrage, nach der 59 Prozent der Deutschen nicht daran glaubten, dass die Kirche an einer Aufklärung der Fälle und einer Verhinderung neuer Taten interessiert sei. Liest man die Aussagen von Joseph Ratzinger, kann man nur sagen: Zu recht. Die katholische Kirche manövriert sich immer mehr ins gesellschaftliche Abseits. Und wenn es nicht endlich ein Umdenken in der Kirche gibt, ist das vielleicht die einzig richtige Entwicklung.

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