1.11.2019 - welt.de

Der tragische Papst

Von Alan Posener

Zeit seines Lebens war es Joseph Ratzingers Aufgabe, die Kirche und ihre Werte zu bewahren. Als Papst Benedikt XVI. führte er die katholische Kirche in die größte Krise, die sie je erlebte.

Aufklärung oder Manipulation? „Verteidiger des Glaubens“, Christoph Röhls Film über Joseph Ratzinger und den Missbrauch in der Kirche, reißt die unheilbaren Wunden wieder auf.

Papst Benedikt XVI. ist wieder da. Im Dezember hat der Film „Zwei Päpste“ von Fernando Meirelles auf Netflix Premiere. Es geht um die Auseinandersetzung zwischen Jorge Mario Bergoglio, dem späteren Papst Franziskus, gespielt von Jonathan Pryce, und dem deutschen Papst Benedikt, dargestellt von Anthony Hopkins, besser bekannt als Hannibal Lecter. „Unsere Narben haben die Angewohnheit, uns daran zu erinnern, dass die Vergangenheit Realität war“, sagt Lecter irgendwo. Dieser Tage kommt Christoph Röhls Dokumentation über Joseph Ratzinger und den Missbrauchsskandal in die Kinos. „Verteidiger des Glaubens“ heißt der Film, der in der Kirche wieder Narben aufreißt.

Schon vor dem offiziellen Kinostart am 31. Oktober – sinnigerweise dem Reformationstag – tourt Röhl mit seinem Film durch Deutschland. Er verspüre überall „große Erleichterung unter Katholiken, dass jemand das Thema angesprochen hat“, sagt Röhl am Telefon. Viele Priester und Nonnen würden die Vorstellungen besuchen, die teilweise von Pfarrern oder katholischen Laienorganisationen wie „Wir sind Kirche“ mitorganisiert werden. Im Rheinland, in Frankfurt, wo der Film im „Haus am Dom“ gezeigt wurde, und ganz besonders in Regensburg, wo Ratzinger jahrelang als Theologe lehrte, sei das Interesse „riesig“ gewesen. In Berlin allerdings, wo der Film in Gegenwart von Thomas Sternberg, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, gezeigt wurde, störten ultrakonservative Katholiken um den schwulen Publizisten David Berger die anschließende Diskussion. In Starnberg, wo Stadtpfarrer Andreas Jall die Patenschaft für die Veranstaltung übernommen hatte, musste die Diskussion nach Pöbeleien aus dem Publikum sogar abgebrochen werden.

Papst-Intimus Georg Gänswein gab bei einer Veranstaltung des Deutschen Ordens in Frankfurt den Ton der Kritik vor. Röhls Film sei „ganz übel“, erklärte der Erzbischof. Besonders übel stieß dem nicht uneitlen Erzbischof auf, dass er zwar lange von Röhl befragt wurde, im Film aber nur „Schnipsel“ aus dem Interview erscheinen, während andere viel länger zu Wort kämen. Dass Röhl, wie schon in seinen Filmen über den Missbrauch an der Odenwaldschule, vor allem die Perspektive der Opfer einnimmt, bringt ihm vonseiten der Benedikt-Getreuen den Vorwurf der Manipulation ein – und die Unterstellung, Propaganda für jene „einschlägigen Kreise“ zu betreiben, die „seit 50 Jahren eine andere Kirche wollen“, wie die konservative Netzzeitung „Kath.net“ schrieb. „Für Beobachter außerhalb von Deutschland ist es ganz und gar erstaunlich, in welchem Maße die Diskreditierung des deutschen Papstes in Deutschland auch innerkirchliches Projekt darstellt“, so „Kath.net“ weiter. „In Kreisen glaubenstreuer Katholiken“ sei man über die kirchliche Werbung für Röhls Film empört. „Ein derart absichtsvoll diskreditierender Film über Papst Johannes Paul II. wäre in Polen in keiner kirchlichen Einrichtung gezeigt und schon gar nicht so einladend beworben worden.“

Nun ist Röhls Film gewiss parteiisch, aber nicht „absichtsvoll diskreditierend“. Röhls Interviewpartner sind wie Gänswein gläubige Katholiken, darunter prominente Theologen wie Hermann Häring oder Ratzingers ehemaliger Weggefährte Wolfgang Beinert, Priester wie der Jesuit und frühere Leiter des Berliner Canisius-Kollegs Klaus Mertes und der irische Redemptorist Tony Flannery, ehemalige Mitglieder charismatischer Orden wie Xavier Léger von den „Legionären Christi“ oder Doris Wagner von „Das Werk“, der amerikanische Kirchenrechtler Thomas Doyle und Missbrauchsopfer, die darum ringen, an der Kirche nicht zu verzweifeln, die sie im Stich ließ.

Wenn „Kath.net“ davon spricht, „seit 50 Jahren“ wollten bestimmte „Kreise“ eine andere Kirche, so ist das eine Anspielung auf das Zweite Vatikanische Konzil von 1962 bis 1965. Damals gehörte Joseph Ratzinger zu den jungen, vornehmlich deutschen Theologen, die mit provokativen Thesen das „Aggiornamento“, die Modernisierung der Kirche, vorantrieben. 1968 erschrak Ratzinger vor der Kulturrevolution, die seiner Meinung nach das Konzil mit ausgelöst hatte, und wurde zum konservativen „Verteidiger des Glaubens“, der Tradition und der Hierarchie.

Röhl sieht Ratzinger, wie er in der jesuitischen Zeitschrift „Stimmen der Zeit“ schrieb, als tragische Gestalt. Er habe die Kirche, die er aufrichtig liebe, vor Angriffen von außen bewahren wollen und gerade dadurch bewirkt, dass sich das tödliche Gift des Missbrauchs im Innern ausbreiten konnte. Als ihm das Ausmaß seines Versagens bewusst wurde, habe Benedikt durch den Jahrtausendschritt des Rücktritts die Konsequenz gezogen.

Freilich weigern sich Gänswein und die Benedikt-Anhänger, die sich mit der Selbstbezeichnung als „glaubenstreue Katholiken“ von Franziskus und der Amtskirche absetzen, das Scheitern ihres Projekts der „benedettinischen Wende“ einzugestehen. Es geht ihnen im Sinne Benedikts darum, die „Diktatur des Relativismus“, also den Pluralismus innerhalb und außerhalb der Kirche, zu überwinden und eine Reconquista der „nachchristlichen“ westlichen Gesellschaft vorzubereiten. Den Missbrauchsskandal bezeichnet Gänswein in seinem neuen Buch als „‚9/11‘ der Kirche“. Gerade so, als sei er von außen – von „1968“ her, wie Benedikt kürzlich behauptet hat – über die Kirche gekommen, und nicht in ihrem Schoß entstanden. Gerade so, als seien die verantwortlichen Kirchenoberen die eigentlichen Opfer. In einer kaum verhüllten Aufforderung zum Widerstand gegen Franziskus sieht Gänswein in der Kirche die „Stunde der souveränen Laien gekommen“, die sich wie weiland die Benediktinermönche angesichts der Barbarenüberfälle der Spätantike in Zellen zusammenschließen müssten, um das kommende „dunkle Zeitalter“ zu überstehen.

Röhl sieht aber gerade in der Vorstellung, selbst im Besitz unhinterfragbarer Wahrheit zu sein, die tiefste Ursache für Benedikts Versagen. Weil er die Wahrheit der Kirche über das Mitgefühl mit den Opfern stellte, wurde Joseph Ratzinger Teil von jener Kraft, die zwar das Gute will, doch stets das Böse schafft.

https://www.welt.de/kultur/kino/article202819848/Verteidiger-des-Glaubens-Der-tragische-Papst-Filmstart-und-Trailer.html

 

Zuletzt geƤndert am 02­.11.2019