18.8.2023 - SZ Süddeutsche Zeitung Landkreise Dachau

„Die Kirche darf Missbrauch nicht mehr totschweigen“

Christian Weisner ist Mitbegründer der Bewegung "Wir sind Kirche", die sich schon seit Jahrzehnten für Reformen einsetzt. Im Interview erklärt er, welche Erfolge sie in der katholischen Kirche erzielt hat - und wo er noch Nachholbedarf sieht.

Interview von Marie Kermer

Christian Weisner, geboren 1951 in Kiel, ist Mitinitiator von „Wir sind Kirche“ – einer Kirchenvolksbewegung, die sich seit 1995 für einen Wandel in der römisch-katholischen Kirche einsetzt. Zu ihrem Reformkatalog gehören die Aufhebung des Pflichtzölibats, eine positive Sexualmoral und die gleichen kirchlichen Ämter für Frauen wie für Männer. Seit 2005 lebt Weisner mit seiner Frau und Tochter in Dachau. Für Weisner zeigt das Leben in der Stadt Dachau, wie notwendig es ist, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Im Interview spricht der ehemalige Stadtplaner über die Herausforderungen für die Kirche und die sich anbahnenden Umbrüche.

Herr Weisner, was bedeutet Kirche für Sie persönlich?

Christian Weisner: Die Kirche habe ich in meinem Leben immer wieder als einen Ort erlebt, an dem ich Spiritualität, Antworten auf Lebensfragen und Gemeinschaft erfahren habe und das in der Kirchengemeinde und weltweit. Dieses Wir-Gefühl ist auch für eine Gesellschaft ganz wichtig. Es gibt Hoffnung und ermöglicht Solidarität. Wir können die Weltprobleme wie Klimawandel und Armut nur gemeinsam lösen. Unsere Gesellschaft darf nicht im Egoismus versinken.

Im vorigen Jahr sind laut Kirchenstatistik mehr als 520 000 Menschen aus der katholischen Kirche in Deutschland ausgetreten. Allein in Bayern waren es mehr als 150 000. Wie erklären Sie sich das?

Kirchenaustritte hat es immer gegeben. Viele wissen gar nicht, dass sie durch die Taufe Mitglied der Kirche werden, bis ihnen die Kirchensteuer vom ersten Gehaltszettel abgezogen wird. Die Selbstverständlichkeit, dass man zur Kirche gehört und Kirchensteuer zahlt, ist aber vorbei. Die katholische und auch die evangelische Kirche erleben seit Jahrzehnten den Trend der Säkularisierung – sie verlieren an Ansehen, obwohl sie wichtige soziale Einrichtungen in unserem Land betreiben wie Kindergärten, Krankenhäuser und Altenheime. Seit Jahren leidet der kirchliche Ruf auch an der schleppenden Aufklärung der Missbrauchsfälle. Ich denke, das Verhalten von Joseph Ratzinger, dem verstorbenen Papst Benedikt, hat viele besonders enttäuscht. Zunächst leugnete er, dass er in den 1970er Jahren als Münchner Erzbischof einen Missbrauchspriester – der Fall Peter H. – weiter in der Jugendarbeit hat arbeiten lassen.

Verurteilen Sie, dass es zu wenig Aufklärung über sexuelle Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche gegeben hat?

Ja, man hat das Problem viel zu lange unter der Decke gehalten. Als Kardinal in der römischen Glaubensbehörde hat Joseph Ratzinger im Jahr 2001 alle Missbrauchsfälle weltweit unter das sogenannte päpstliche Geheimnis gestellt – das war eine Aufforderung zur Vertuschung. Erst später, im Jahr 2010 hat er dann zugelassen, dass die Kirche mit den staatlichen Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeitet. Das kam aber viel zu spät.

Hat die katholische Kirche nach wie vor ein Problem mit sexuellem Missbrauch?

Im Herbst 2018 hat eine Missbrauchsstudie im Auftrag der deutschen Bischöfe unser Land erschüttert. Diese Studie hat Risikofaktoren für Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt in der Kirche und deren Vertuschung festgestellt. Dazu gehört, dass Priester nicht heiraten dürfen und einen geschlossenen Männerbund bilden, den Klerikerstand. Frauen sind ja generell ausgeschlossen. Auch die persönliche Sexualität von Priestern wurde früher in der Ausbildung nicht thematisiert, sondern als Sünde dargestellt. Vor allem Ministranten, mit denen Priester leicht ein Vertrauensverhältnis aufbauen können, werden so zu Opfern von sexueller Gewalt. Problematisch war auch, dass Vorgesetzte einen Straftäter oft in eine andere Gemeinde versetzten, ohne dort über seine Straftat aufzuklären. Die Kirche darf das Thema nicht mehr totschweigen.

Welche Forderungen stellen Sie in Ihrer Reformbewegung „Wir sind Kirche“?

Wir brauchen eine geschwisterliche Kirche, gleiche Rechte und Ämter für Frauen, die Aufhebung des Heiratsverbots für Priester und eine Sexualmoral, die den Erkenntnissen der Humanwissenschaften entspricht. Das sind die zentralen Forderungen, die nach den Missbrauchsvorwürfen gegen den Wiener Kardinal Hans Hermann Groër im Jahr 1995 in Österreich formuliert wurden. Daraus entstand die weltweite Kirchenvolksbewegung „Wir sind Kirche“. Diese Punkte greift auch der Synodale Weg in Deutschland auf, den die Bischöfe 2019 begonnen haben. Das sehen wir als Erfolg auch unserer jahrzehntelangen Arbeit. Und wir haben auch den Boden für manche Betroffenen-Initiativen und andere Reformgruppen wie Maria 2.0 oder „OutInChurch“ bereitet.

Sie kämpfen für eine Reform der katholischen Kirche. Trotzdem steigen die Austrittszahlen weiter, auch in der evangelischen Kirche. Frustriert Sie das?

Die Austrittszahlen sind schmerzlich für beide großen Kirchen, denen mittlerweile weniger als die Hälfte der Menschen in Deutschland angehören. Das schwächt ihren gesellschaftlichen Einfluss und auch die finanziellen Möglichkeiten der Kirchen. Uns geht es darum zu vermitteln, dass der christliche Glaube ein wichtiges „Lebensmittel“ für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft sein kann.

In Ihrem Reformprogramm fordern Sie, die Rolle der Frau in der Kirche zu stärken. Ist da schon was passiert? Wo sehen Sie noch Verbesserungspotential?

Die Benachteiligung von Frauen ist ein Weltproblem – weit über die Kirche hinaus. Wenn alle Frauen aufgrund ihrer Enttäuschungen, die verständlich sind, aus der Kirche austreten, bleiben alte falsche Traditionen bestehen. Deswegen appellieren wir an alle: lieber auftreten statt austreten. Es ist ein langwieriger Prozess des Umdenkens, nun muss aber auch die Umsetzung folgen. Bei „Wir sind Kirche“ fordern wir, dass Frauen die gleichen Rechte in der Kirche haben sollten. Sie sollten auch Priesterin sein und Gemeinden leiten können.

Auf Ihrer Website verweisen Sie auf eine Schwangerschaftskonfliktberatung eines katholischen Vereins. Wie vereinbaren Sie das mit den Normen der katholischen Kirche?

Wir sind nicht für Schwangerschaftsabbrüche. Nach der jetzigen gesetzlichen Regelung in Deutschland sind Schwangerschaftsabbrüche nicht legal, aber straffrei, wenn es davor eine ausführliche Beratung der Frau gab. Da werden den Frauen alternative Wege aus ihren Sorgen und oft auch finanziellen Nöten angeboten. „Wir sind Kirche“ und das Zentralkomitee der Katholiken in Deutschland haben sich in den 1990er Jahren für diese ergebnisoffene Beratung von schwangeren Frauen eingesetzt. Das führte zu einer zehnjährigen intensiven Auseinandersetzung des Vatikans mit den Bischöfen in Deutschland. Offizielle katholische Einrichtungen dürfen seitdem keinen Beratungsschein an schwangere Frauen ausstellen. Aber wir konnten erreichen, dass unser Verein „Frauenwürde“ und vom Zentralkomitee „donum vitae“ als von katholischen Frauen und Männern getragene Vereine schwangere Frauen ergebnissoffen beraten und auch den Beratungsschein ausstellen.

Wie war im März 2023 Ihre Reaktion, als Sie erfahren haben, dass es in der katholischen Kirche in Deutschland nun bald Segnungsfeiern für homosexuelle Paare geben soll?

Wir haben das sehr begrüßt. Auch hier ist jetzt einiges im Fluss, wie zum Beispiel die Erfolge von „OutInChurch“ zeigen. Nach offizieller kirchlicher Lehre ist homosexuellen Menschen zwar Mitgefühl entgegenzubringen, ihre Sexualität gilt aber weiterhin als Sünde. Nach dem neuen kirchlichen Arbeitsrecht führt das zwar nicht mehr automatisch zur Entlassung, zum Beispiel von Kindergärtnerinnen, Pflegekräften in kirchlichen Einrichtungen. Aber soeben ist ein Priester im Erzbistum Köln abgemahnt worden, der auch homosexuelle Paare öffentlich gesegnet hat.

Reicht der Synodale Weg, um den Reformprozess zum Erfolg zu führen?

Der Synodale Weg in Deutschland war und bleibt ein wichtiger Anfang, auch für den weltweiten Synodalen Prozess, den Papst Franziskus eingeleitet hat. Die Kirche muss sich immer ändern mit dem Wandel der Gesellschaften. Es muss immer wieder gemeinsam überlegt werden, wie die christliche Botschaft in der heutigen Zeit umgesetzt werden kann. Es gibt immer wieder neue Herausforderungen, denen sich die Kirche stellen muss.

Warum braucht es Kirche noch, wie kann sie das Leben der Menschen im 21. Jahrhundert bereichern?

Wir brauchen gerade heute einen breiteren Blick, um die Frage nach unserer geistigen Heimat zu beantworten. Wir brauchen eine Beteiligung der Menschen, sowohl in der Politik als auch in der Kirche. Das kirchliche Leben kann und sollte einen wichtigen Beitrag für eine solidarische Gemeinschaft geben – ein Wir-Gefühl. Kirchen sind wichtige Einrichtungen, um den Menschen Trost zu spenden und Hilfe anzubieten. Sie ermöglichen Zusammenhalt in der Gemeinschaft. Auch die ganz großen Probleme wie Armut und Klimawandel können wir nur gemeinsam lösen.

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Am 24. August 2023 erschien das Interview auch in der Gesamtausgabe der Süddeutschen Zeitung.

Zuletzt geändert am 28­.08.2023