29.11.2009 - NZZ am Sonntag

«Den Pflichtzölibat abschaffen»

Oberster Schweizer Bischof für Verheiratete als Priester

Interview: Stefan Bühler, Markus Häfliger

NZZ am Sonntag: Ihr Wahlspruch lautet «Im Dienste unserer Hoffnung». Welches ist Ihre grösste Hoffnung?

Norbert Brunner: Meine grösste Hoffnung ist, dass alle Getauften ihren Glauben wirklich leben, nicht nur durch Gebet und Sonntagsgottesdienst, sondern auch im täglichen Leben. Doch viele Menschen schliessen gerade diesen Glauben aus gewissen Bereichen des Alltags aus.

Welche Bereiche meinen Sie?

Zwei Beispiele: In der Wirtschaft kommen kirchlich-ethische Werte zu kurz. Und auch in der Sexualität missachten viele Menschen die christlichen Grundsätze.

Unethisches Verhalten in der Wirtschaft, was meinen Sie damit genau?

Übertriebene Löhne zum Beispiel sind sehr fragwürdig. Oder wenn Mitarbeiter entlassen werden, nur weil Investoren mehr Profit wollen. Sicher, es gibt Firmen, die umstrukturieren müssen, aber auch dann kann man sich für die Arbeitnehmer einsetzen.

Was denken Sie über einen bekennenden Katholiken wie Daniel Vasella, der über 20 Millionen Franken verdient?

Die Spitzenlöhne vieler Manager sind unverhältnismässig. Die Beurteilung einer konkreten Situation im Lichte der allgemeinen ethischen Grundsätze könnte jedoch nur in Kenntnis aller Umstände erfolgen.

Worum sorgen Sie sich am meisten, wenn Sie die heutige Gesellschaft sehen?

Ich sehe drei Bereiche. Ein erster ist der übertriebene Individualismus. Viele Menschen orientieren sich am eigenen Nutzen: Was gibt mir die Gesellschaft? Was habe ich davon, wenn ich in die Messe gehe? Sie fragen nicht, was sie der Gesellschaft, der Kirche geben können. Ein zweiter Bereich ist der Schutz des Lebens, von der Empfängnis an bis zu seinem natürlichen Ende, aber auch dazwischen, zum Beispiel in der Arbeitswelt. Dabei bereitet mir zunehmend auch die Beihilfe zum Suizid im Alter grosse Sorgen. Eveline Widmer-Schlumpf plant, dieser Entwicklung einen gesetzlichen Rahmen zu geben.

Sie sind gegen den Gesetzesvorschlag?

Wenn die Suizidbeihilfe gesetzlich geregelt wird, kann das als indirekte Anerkennung verstanden werden. Nach christlicher Lehre dürfen wir nicht über das Leben verfügen.

Und wenn eine Person dies wünscht?

Nicht einmal die Person kann über ihr eigenes Leben verfügen. Die Alternative ist die Palliativmedizin: So können die Menschen bis zum Tod begleitet werden. Zudem muss das Leben nicht um jeden Preis künstlich verlängert werden.

Und welches ist der dritte Bereich, der Ihnen Sorgen bereitet?

Der Geburtenrückgang. Ich sehe hier einen direkten Zusammenhang mit dem Individualismus. Die Weltbevölkerung wächst enorm, und auch in der Schweiz verzeichnen wir derzeit eine starke Zunahme. Unser Bevölkerungswachstum verdanken wir fast ausschliesslich der Zuwanderung von Ausländern. Wir sind im sozialen und wirtschaftlichen Bereich auf Ausländer angewiesen. Selbst in der U-17-Nationalmannschaft hat es nicht mehr viele Schweizer.

Wer in der Nationalmannschaft spielt, muss zwingend Schweizer sein.

Natürlich. Aber die meisten haben einen Migrationshintergrund. Es gab immer Migration, und es wird sie immer geben. Aber in Westeuropa geht die Kinderzahl so stark zurück, dass eine Auffrischung fast nur noch, ich sage fast, durch Zuzug ausländischer Familien erfolgt. Das hat dann vom Kulturellen, vom Menschlichen her Auswirkungen und führt zu Problemen, etwa im Umgang mit anderen Religionen.

Was meinen Sie damit?

Ich nenne als Beispiel die Minarett-Initiative. Man gab vor, mit einem solchen Verbot Probleme wie Zwangsheirat, Genitalverstümmelung bei Frauen oder die Scharia lösen zu können. Diese Probleme sind real, ein Minarettverbot löst aber kein einziges von ihnen.

Sie würden sich also nicht gegen ein Minarett in der Bischofsstadt Sitten wehren, etwa neben Ihrer Kathedrale?

Ich würde mich nicht wehren, wenn das Minarett den lokalen Bauvorschriften entspräche. Wichtiger wäre für mich die ästhetische Frage: Passt das Minarett architektonisch in unsere Gegend, zu unserer Kultur?

Soll man muslimische Religionsgemeinschaften staatlich anerkennen?

Für eine öffentliche Anerkennung sehe ich eine Hürde: Es gibt unterschiedliche muslimische Richtungen und Gruppierungen. Würden sich die Muslime stärker koordinieren, dann würde dies den Kontakt sowohl gegenüber den Kirchen als auch gegenüber dem Staat erleichtern.

Die EVP plant eine Volksinitiative, um das Christentum als Leitkultur in der Bundesverfassung zu verankern.

Gemäss der letzten Volkszählung bezeichnen sich 80 Prozent der Schweizer als Christen. Damit ist das christliche Umfeld durch die Realität klar definiert. Wenn alle Getauften das Christentum leben, ist die christliche Leitkultur doch dadurch gegeben.

Ein immer wieder heiss diskutiertes Thema in der katholischen Kirche ist der Zölibat. Wie sehen Sie das?

Ich halte es für möglich, den Pflichtzölibat für Priester abzuschaffen. Denn es gibt keine Wesens-Verbindung zwischen dem Zölibat und dem Priestertum. Als eine mögliche Lebensform für Priester muss der Zölibat zwar bestehen bleiben – als ein besonders starkes Zeichen der Nachfolge Christi. In der Geschichte der Kirche wurde der Zölibat von Beginn weg als die privilegierte Form des priesterlichen Seins betrachtet. Daneben sollte es aber auch die Möglichkeit geben, verheiratete Männer zu Priestern zu weihen.

Das halten Sie für möglich?

Ja, und ich habe es auch mehrmals in Rom vorgebracht. Das Problem ist jedoch, dass ein solcher Schritt nicht für eine Region oder ein Land gesondert vollzogen werden kann. Diese Frage muss für die Gesamtkirche geregelt werden.

Wie stehen Sie mit dieser Meinung innerhalb der Schweizer Bischofskonferenz da?

Ich glaube, dass die Bischofskonferenz ziemlich einhellig der Meinung ist, dass es in der Schweiz möglich sein sollte, verheiratete Männer zu Priestern zu weihen.

Gibt es Anzeichen, dass sich auch Rom in dieser Frage bewegen könnte?

Im Moment nicht.

Wenn dieses Interview erscheint, ist der 1. Advent, der Auftakt zur Weihnachtszeit und zum dazugehörigen Rummel. Ein Tipp von Ihnen: Was ist ein gutes Weihnachtsgeschenk?

Weihnachten erinnert uns daran, dass Gott in seinem Sohn Jesus Christus für uns Mensch geworden ist und uns so seine Liebe ausgedrückt hat. Daran sollen sich unsere Geschenke orientieren. Wenn wir sie nicht bloss um des Schenkens willen machen, sondern als Ausdruck und als Zeichen dieser Liebe Gottes, dann ist ein Geschenk ein gutes Geschenk.







Klarstellung

- In der „NZZ am Sonntag“ ist am 29. November ein Interview mit dem designierten Präsidenten der SBK, Bischof Norbert Brunner, erschienen. Er musste feststellen, dass in Bezug auf die Frage des Zölibats Titel und Anriss des Interviews nicht mit dessen Inhalt übereinstimmen, und dass in verschiedenen (vor allem französischsprachigen) Medien wesentliche Aussagen falsch berichtet wurden.

Der Bischof von Sitten sieht im Zölibat nach wie vor die privilegierte Form des Priestertums. Er dankt darum, zusammen mit den anderen Mitgliedern der SBK, allen Priestern für ihre priesterliche Treue. Er betrachtet jedoch auch die Weihe von verheirateten Männern („viri probati“) als Möglichkeit.

Luzern, 2. Dezember 2009

Schweizer Bischofskonferenz SBK, 03.12.2009

Zuletzt geändert am 03­.12.2009