19.2.2010 - kathweb.at

P. Henri Boulad S.J.: "Kirche muss sich von Grund auf erneuern"

Ägyptischer Mystiker und Buchautor spricht in persönlichem Brief an Papst Benedikt XVI. von einer dramatischen Krise der Kirche und plädiert für die Einberufung einer Generalsynode auf der Ebene der Weltkirche

> Wortlaut des Briefes "SOS für die Kirche von heute"
in: Imprimatur 43 (2010) 49-52. - Februar 2010 (deutsche Übersetzung Werner Müller)

Kairo, 19.02.2010 (KAP) "Nur im entschiedenen Blick nach vorn und nicht zurück wird die Kirche ihren Auftrag, Licht der Welt, Salz der Erde und Sauerteig zu sein, erfüllen können": Das schreibt der ägyptischer Mystiker und Buchautor P. Henri Boulad SJ in einem nun bekannt gewordenen persönlichen Brief an Papst Benedikt XVI. und spricht von einer dramatischen Krise der Kirche: "Mir blutet das Herz, wenn ich sehe, wie unsere Kirche dabei ist, im Abgrund zu versinken." In seinem Schreiben kritisiert Boulad die seiner Meinung nach vorherrschende "Vogel-Strauß-Politik" und plädiert für die Einberufung einer Generalsynode auf der Ebene der Weltkirche, um Wege aus der Krise zu suchen.

Boulad führt in seinem Schreiben eine Reihe von Entwicklungen an, die ihm größte Sorgen bereiteten: So spricht er beispielsweise davon, dass sich die religiöse Praxis in Europa in einem permanenten Niedergang befinde. Die Priesterseminare und Noviziate würden sich leeren und die Berufungen seien "im freien Fall". Zudem sei die Sprache der Kirche "überholt, anachronistisch, langweilig, sich ständig wiederholend, moralisierend und völlig unzeitgemäß".

Boulad: "Es geht keineswegs darum, mit dem Strom zu schwimmen und in Demagogie zu machen, denn die Botschaft des Evangeliums muss in seiner ganzen herausfordernden Anstößigkeit vorgestellt werden. Was vielmehr nötig ist, ist jene 'neue Evangelisierung', zu der uns Johannes Paul II. eingeladen hat." Dazu brauche es eine neue Sprache, "die den Glauben treffend und bedeutsam für die Menschen von heute ausspricht". Man müsse feststellen, "dass unser Glaube sehr verkopft, abstrakt, dogmatisch ist und wenig das Herz und den Leib anspricht", so Boulad. Er fordert als Konsequenz eine tiefgehende Erneuerung der Theologie und Katechese.

Kritik an lehramtlichen Erklärungen

Der Jesuit kritisiert weiters, dass die Stellungnahmen des kirchlichen Lehramtes zu Themen wie Ehe, Empfängnisverhütung, Abtreibung, Euthanasie, Homosexualität, Priesterehe oder wiederverheiraten Geschiedenen niemanden mehr berühren würden und nur mehr ein "müdes Lächeln und Indifferenz" hervorriefen. Moralische und pastorale Probleme würden aber mehr verdienen als unumstößliche lehramtliche Erklärungen. Sie bedürften einer pastoralen, soziologischen, psychologischen, humanen Herangehensweise, auf einer mehr dem Evangelium gemäßen Linie, so Boulad.

Die Kirche brauche deshalb neben einer theologischen und katechetischen Reform auch eine pastorale und spirituelle Reform. Zum einen müssten überkommene Strukturen von Grund auf neu konzipiert werden, zum anderen brauche es eine neue Spiritualität, "um die Mystik wieder zu beleben und die Sakramente neu zu verstehen, ihnen existenziellen Sinn zu geben und ins Leben einzubeziehen".

Die Kirche sei heute zu formal und zu formalistisch. Boulad: "Man gewinnt den Eindruck, dass die Institution das Charisma erstickt und dass letztlich nur die äußere Stabilität, eine respektable Oberfläche, die Fassade zählen."

Trügerische kirchliche Vitalität

Der ägyptische Jesuit warnt auch davor, zu große weltkirchliche Hoffnungen in die scheinbare Vitalität der Kirchen der Dritten Welt zu setzen. Das sei trügerisch, denn aller Wahrscheinlichkeit nach würden diese jungen Kirchen früher oder später dieselben Krisen wie die alte europäische Christenheit durchmachen, meint Boulad.

Die Moderne seit unumgehbar, so der Jesuit, der in seinem Brief eindringlich appelliert, nicht mehr hinter das Zweite Vatikanische Konzil (1962-65) zurückzugehen. "Das Zweite Vatikanum hat versucht, vier Jahrhunderte Rückstand aufzuholen, doch man gewinnt den Eindruck, dass die Kirche die damals aufgestoßenen Türen langsam wieder schließt." Boulad verweist auf Papst Johannes Paul II., der immer wieder betont hatte, dass es zum Konzil keine Alternative gebe.

Persönliches Schreiben an den Papst

Der Jesuit schrieb den Brief als persönliches Schreiben an den Papst bereits im Juli 2007; Benedikt XVI. wurde das Schreiben angeblich aber nicht vorgelegt, teilte die "Weizer Pfingstvision" mit, der P. Boulad seit langem eng verbunden ist. Schließlich schickte Boulad den Brief 2009 vertraulich an einen persönlichen Freund in Kanada, der den Brief dann allerdings im Internet veröffentlichte. Als Boulad davon erfuhr, hielt er es für fair, den Brief nun auf offiziellem Weg über die Nuntiatur von Kairo an den Papst zu schicken, was im September 2009 geschah. P. Boulad entschuldigte sich auch für die Umstände der Veröffentlichung.

Geboren 1931 in Alexandria, studierte Boulad Theologie im Libanon, Philosophie in Frankreich und Psychologie in den USA. Von 1983 bis 1995 war er Direktor der Caritas in Ägypten, vier Jahre davon auch Vizepräsident der Caritas Internationalis. Derzeit leitet er das Kairoer Jesuitenkolleg mit seinen 1.600 Schülern, wovon mehr als die Hälfte Muslime sind. In seinen vielen Büchern - zwölf davon sind auf Deutsch erschienen - plädiert er für eine Mystik, die mit dem Engagement für Benachteiligte und Notleidende verbunden ist. Auf seinen zahlreichen Virtragsreisen besuchte er auch Österreich oft, Boulad ist mit einigen heimischen Bischöfen in Kontakt und war dreimal zu Pfingsten in Weiz.

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Zuletzt geƤndert am 29­.05.2018