6.1.2011 - Neue Zürcher Zeitung

Das spanische Gespenst geht um in Polen

Der Dominikanerpater Ludwik Wisniewski fordert eine Reformation der Kirche von unten

In Polen ist der Katholizismus auch nicht mehr das, was er einmal war. Die Gesellschaft säkularisiert sich rasch, und die Kirche verschanzt sich hinter Wahrnehmungsverweigerung, Fundamentalismus und Hass. Jetzt probt ein Dominikanerpater die Reformation von unten.

Adam Krzeminski

Kurz vor Weihnachten wurde in der polnischen katholischen Kirche eine Reformation von unten geprobt. Ludwik Wisniewski, ein in der Bürgerbewegung der siebziger Jahre hochverdienter Dominikanerpater, schlug seine sieben Thesen über den bedrückenden Zustand des polnischen Katholizismus zwar nicht etwa an die Pforte des Paulinerklosters in Tschenstochau, Polens katholischer Hochburg, vielmehr richtete er seinen Klagebrief an den päpstlichen Nuntius in Warschau, und eine Kopie übergab er der liberalen Zeitung «Gazeta Wyborcza».

Der Befund des Dominikaners ist niederschmetternd. Fünf Jahre nach dem Tod des päpstlichen Übervaters von Polen, Johannes Pauls II., verliert sich die polnische Kirche seiner Ansicht nach in eitlem Triumphalismus. Zwanzig Jahre nach dem Sieg über den Kommunismus erscheine sie nur nach aussen als gewaltig, imposant und vielfarbig. In Wahrheit erinnere sie an einen aufgeblasenen Luftballon. Das spanische Gespenst, eine rasante Säkularisierung der Gesellschaft, verbunden mit einer massiven Kirchenflucht der jungen Generation, werde bald auch Polen erreichen.

Kreuze wie Totem

Und schuld daran, schreibt der Kritiker, seien konservative Bischöfe, die sich hinter den Mauern eines tumben Konservatismus verschanzten und geradezu heidnische, hasserfüllte Aktivitäten nationalkatholischer Fundamentalistengruppen autorisierten, die Kreuze wie ein Totem ihrer politischen Gesinnung missbrauchten. Zugleich verunglimpfe Radio Maryja aufgeschlossene Priester ständig als linksradikale und liberale Kirchenschädlinge, und während manche Bischöfe ein Blatt wie «Nasz Dziennik», das ständig per Gericht zu Gegendarstellungen gezwungen wird, mit ihren Beiträgen beehrten, hielten es andere für «tief unchristlich».

Mehr als die Hälfte der Priester, so schätzt Pater Wisniewski, ist xenophob und nationalistisch «infiziert» und sehr viele verwischen die Grenze zwischen dem Evangelium und der Politik, indem sie während der Gottesdienste bestimmte Parteien und Politiker hochjubeln, andere dagegen verdammen. Der sensus catholicus schwinde in Polen dahin. Die lautstarken Fundamentalisten unter den Laien – die sich zum einzig wahren Gesicht des polnischen Katholizismus aufspielten – trügen Chaos und moralische Verwüstung ins öffentliche Leben hinein. Ihr Furor wirke auf viele junge Polen abstossend, so dass immer mehr von ihnen der Kirche den Rücken kehrten. Und die Bischöfe wollten das nicht wahrhaben. Vielleicht, weil sie sich zu selten in die Beichtstühle zwängten und daher nicht wüssten, was die Menschen wirklich dächten.

Zermürbt und gespalten, so der Befund des Paters, sind sie ausserstande, auch nur ein einziges der brenzligen Probleme der polnischen Kirche zu lösen: Ein der Pädophilie bezichtigter Bischof wird – trotz der Empörung der Gläubigen – immer noch bei diversen Feierlichkeiten im Fernsehen exponiert. Ungeklärt ist die Stasi-Verstrickung vieler Priester, ebenso wie die Gründe, warum so viele Bischöfe überhaupt auf die Liste der IM gerieten. Ungelöst sei auch das immer verwickeltere Problem Radio Maryja, das den Zuhörer einerseits das Gebet, andererseits aber Fanatismus und Hass gegenüber Andersdenkenden beibringe.

Was nottut: Debatten

Die «Achillesferse» der polnischen Kirche und der Bischofskonferenz sei ihre Unfähigkeit, sich in einer demokratischen Gesellschaft zurechtzufinden. Doch Pluralismus sei eine Chance, allerdings nur dann, wenn auch Menschen miteinander kommunizierten, die verschiedene Ansichten und Werte verträten. Die Bischofsernennungen der letzten zwanzig Jahre – also noch zur Zeit des polnischen Papstes – verwunderten oft, weil sie Würdenträgern «nicht von dieser Welt» galten, die zwar in Rom ein gutes Standing, aber keinen Kontakt zum eigenen Kirchenvolk hatten und dem Prinzip jedweder Kollegialität abgeneigt waren. Laut Wisniewski befindet sich das Land mitten in einer gesellschaftlichen Revolution. Junge Polen reisen massenhaft ins Ausland. Viele verlieren den Halt, doch mit «heiligen Phrasen», mit einer ständigen Verdammung des «verfaulten» Westens und der «Verschwörung» zur Vernichtung des Christentums werde man sie nicht erreichen. Die polnische Kirche brauche heute weniger Überväter wie nach 1945 Kardinal Wyszynski und nach 1978 den polnischen Papst, sondern vielmehr Kirchenmänner, die an ihrer Sprache arbeiteten und die junge Generation erreichten.

Deswegen empfiehlt der Dominikaner grosse Debatten in der Kirche. In sechs Arbeitskreisen könnte der Episkopat zusammen mit den Laien die Vor- und Nachteile der polnischen EU-Mitgliedschaft und des Übergangs vom Kommunismus zur Demokratie bewerten – immerhin habe die Kirche 1989 den «runden Tisch» autorisiert, insofern dürfe man die damaligen Akteure nicht einseitig verunglimpfen. Vor allem aber müssten die Beziehungen zwischen Staat und Kirche, das Niveau des Religionsunterrichtes, die Positionierung von Radio Maryja sowie der Dialog mit der orthodoxen Kirche einer kritischen Analyse unterzogen werden. Möge der Nuntius helfen, einige Bischöfe für dieses Unterfangen zu gewinnen.

Ob Wisniewskis Thesen-Anschlag tatsächlich eine Reform im polnischen Katholizismus einleiten wird, bleibt abzuwarten. Die reformorientierten Bischöfe unterstützen den Dominikaner vorsichtig. Nur sind sie zurzeit entweder an den Rand gedrängt oder gar ausgebootet. Der stockkonservative Vorsitzende der Bischofskonferenz, Erzbischof Jozef Michalik, wies die Aufforderung zum öffentlichen Dialog über den Stand des polnischen Katholizismus als eine unzulässige Einmischung zurück und machte – sinnigerweise in einem Interview für «Nasz Dziennik» – die üblichen Verdächtigen aus. Der Staat habe kein Recht, in die Inhalte der Predigten und des Religionsunterrichtes einzugreifen. Und die Mär von einer Kirchenspaltung verursache nur die Schwächung und die Beseitigung der Kirche aus der Öffentlichkeit. Der Dominikanerpater hätte sich zuerst an die eigene Brust schlagen und dann «den Bruder unter vier Augen ermahnen» sollen. Er wolle aber lieber in den Medien glänzen, was «nicht ekklesiastisch» sei. Die Kirche lasse ausserdem verschiedene Stimmen zu. Neben dem für die Stärkung des Glaubens so verdienten Radio Maryja gebe es eben auch den Krakauer «Tygodnik Powszechny».

Als ob die mächtig Hauspostille der Konservativen, der Radio- und Fernsehsender sowie 100 000 Exemplare des in vielen Kirchen frei ausgelegten «Nasz Dziennik» medial dasselbe Gewicht hätten wie der ehrwürdige «Tygodnik». In den sechziger Jahren begleitete dieser die Konzilsreform, in den siebziger Jahren war er das Hausblatt Karol Wojtylas und in den achtziger Jahren ein Hort der im Kriegszustand gemassregelten Journalisten der Solidarnosc. Nach 1990 dann wurde «Tygodnik» abrupt als zu linksliberal aus den meisten Kirchen entfernt, und jetzt dümpelt er mit einer verkauften Auflage von 30 000 Exemplaren vor sich hin.

Die Katakombenkirche als Plot Die Lufthoheit in den subventionierten auflagestarken katholischen Medien haben heute die Fundamentalisten. Trotzdem gerieren sie sich wie eine belagerte Festung der letzten Gerechten, die – um den wahren Glauben in einer feindlichen Welt des moralischen Relativismus zu retten – eine neue Katakombenkirche zu errichten bereit sind. Die Simplen und Erwählten würden dann der neuen Sintflut des EU-Totalitarismus widerstehen, der den liberalen Kirchenreformern in die Hände spiele.

Das ist kein Kabarettwitz – das ist der Plot eines Zukunftsromans, «Unternehmen <Das Tuch>» von Tomasz Terlikowski. Der Autor, ein Kritiker von Wisniewskis Thesen-Anschlag, entwirft darin eine EU in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts, in der Libertinismus, Euthanasie und politische Korrektheit zur Pflicht geworden sind, während der wahre Glaube polizeilich verfolgt wird. Dessen Symbol ist das Grabtuch von Turin, das – seit dem Abfall Italiens – in einer Warschauer Kirche aufbewahrt wird. Als die EU-Behörde (sic!) es beseitigen will, schmuggelt es eine Handvoll katholischer Outlaws nach Afrika, wohin der Papst geflohen ist und wo sich die wahren Katholiken sammeln. In Warschau dagegen gehen die entrechteten Gläubigen zu einer permanenten Freilichtmesse auf die Strasse. Das Ende des EU-Jericho ist somit in Sicht. Keineswegs also ein Marcin Luterski. Das Tuch allein macht es möglich.

http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/das_spanische_gespenst_geht_um_in_polen_1.9003024.html

Zuletzt geändert am 07­.01.2011