19.1.2011 - Eßlinger Zeitung

„Ich liebe sie und ich leide an ihr“

ESSLINGEN: Eine Gruppe Gläubiger will die katholische Kirche von innen heraus erneuern - Initiative vor einem Jahr gegründet

Zahlreiche Missbrauchsfälle haben die katholische Kirche im vergangenen Jahr in eine tiefe Krise gestürzt. Doch auch schon viele Jahre zuvor hatte der lautlose Austritt vieler Gläubiger begonnen, die sich mit ihrer Kirche nicht mehr identifizieren konnten. Der Esslinger Pastoralreferent und Krankenhausseelsorger Wolfgang Kramer hat deshalb mit anderen Gläubigen die Initiative Pro Concilio gegründet, die sich für eine Erneuerung der Kirche einsetzt. Doris Brändle hat mit ihm gesprochen.Können Sie Ihr Verhältnis zur katholischen Kirche in einem Satz beschreiben?

Vor einem Jahr haben Sie die Initiative Pro Concilio gegründet. Gab es einen konkreten Anlass?

Kramer: Ja, das kann man genau datieren. Das war der 25. Januar 2009. An diesem Tag höre ich mittags im Radio, dass Papst Benedikt XVI. die vier Bischöfe der Piusbruderschaft - darunter den Holocaust-Leugner Williamson - wieder in die Kirche aufgenommen hat. Das war zu viel für mich. Es hat dann noch ein Jahr bis zur Gründung von Pro Concilio gedauert.

Im vergangenen Jahr sind in der Diözese Rottenburg-Stuttgart 17 000 Katholiken aus der Kirche ausgetreten. Haben Sie selbst mal darüber nachgedacht?

Kramer: Nur dieses eine Mal vor zwei Jahren. Da habe ich einige Wochen nachgedacht, was ich machen soll. Und da habe ich eine ganz klare Lebensentscheidung getroffen: Ich werde für den Rest meiner Jahre all meine Kraft in die Erneuerung der Kirche investieren.

Was ist Ihr Hauptkritikpunkt?

Kramer: In einem Wort: die Unglaubwürdigkeit. Das lässt sich an vielen Feldern aufzeigen. Nehmen wir den Zölibat. Leider gibt es eine ganze Reihe von Priestern, die den Zölibat nicht so leben können, wie er gedacht ist. Anderes Beispiel: Die Kirche verlangt nach wie vor von ihren Gläubigen, dass sie sexuellen Kontakt erst haben, wenn sie vor dem Traualtar waren. In Deutschland halten sich keine zwei Prozent daran. Die Schere zwischen kirchlicher Lehre und Wirklichkeit ist sehr weit aufgegangen.

Meinen Sie also, dass die Kirche ihre Ideale und Werte herunterschrauben müsste, um sich an die Gläubigen anzupassen?

Kramer: Zu den Idealen der Kirche, die sich von der Bibel her begründen, sage ich zu fast allem ja. Aber es gibt auch in der Bibel unglaublich viel Zeitbedingtes. Die Ideale an sich können bleiben, aber der Weg dahin muss auch von Realismus geprägt sein.

Die katholische Sexualmoral halten Sie also nicht für einen Kerninhalt der christlichen Lehre?

Kramer: Sexualethik muss sein. Aber die Kirche muss einige ihrer Lehren revidieren. Heutige wissenschaftliche Erkenntnisse können nicht negiert werden, wenn die Kirche die Vernunft als Größe anerkennt - wie Papst Benedikt zu Recht sagt. Wenn man zum Beispiel das heutige Wissen über Homosexualität ernst nimmt, ist absolute Akzeptanz gegenüber homosexuell geprägten Menschen unabdingbar.

Wagen Sie eine Prognose: Wann fällt der Zölibat?

Kramer: Ich hoffe, dass der Pflichtzölibat innerhalb der nächsten zehn Jahre fällt. Ich muss dazu sagen: Ich halte den frei gewählten Zölibat für eine wunderbare Lebensform - aber nur für die, die den inneren Ruf verspürt haben. Dass die Kirchenleitung alle Menschen ausklammert, die in ihrem Herzen zwar die Berufung für den priesterlichen Dienst erfahren haben, aber nicht zugleich für den Zölibat - das ist ein Skandal. Gott allein ist es, der beruft. In nicht allzu ferner Zeit wird der Druck so groß werden, dass er fällt. Mit dem Frauenpriestertum wird es länger dauern.

Warum tut sich die katholische Kirche mit den Frauen so schwer?

Kramer: Da gibt es viele Erklärungen. Aber der tiefenpsychologische Hintergrund ist, dass wir Männer ganz tief spüren, dass der Schöpfer das weibliche Geschlecht ganzheitlicher ausgestattet hat und wir Männer meinen, diesen Mangel mit dem Anspruch auf das alleinige Amt ausgleichen zu müssen.

Glauben Sie an große Reformen noch unter Benedikt XVI.?

Kramer: Nein. Ich bin aber kein Benedikt-Gegner: Ich habe noch ein Jahr bei ihm in Tübingen studiert, ich habe sogar mal in seinem Wohnzimmer seine Katze gestreichelt. Dem Ausspruch von Habermas, er sei ein Gigant des Geistes, stimme ich voll und ganz zu. Was ihm fehlt, sind langjährige konkrete Erfahrungen in der Seelsorge.

Pro Concilio stellt aber nicht das Papsttum infrage?

Kramer: Nein, wir sind nicht gegen das Papsttum als solches. Aber wir setzen uns für seine Einbettung in synodale Strukturen ein.

Sie würden also die Hierarchie aufweichen.

Kramer: Ja. Wir sagen, dass das hierarchische Prinzip mit dem synodalen in Balance gebracht werden muss. Mehr Transparenz, echte Teilhabe der Bischöfe am weltweiten Leitungsdienst, Mitwirkungsmöglichkeiten von Laien, demokratische Formen in den Abläufen der kurialen Behörden, weiterer Abbau von höfischem Zeremoniell: Das muss möglich sein

Hat die Struktur der Kirche die Missbrauchsfälle begünstigt?

Kramer: Ja, aber auf einer anderen Ebene. Der Zölibat an sich führt nicht zum Missbrauch. Aber die Gesamtauffassung der Kirche zur Sexualität kommt hier doch auch zum Tragen. Bestimmte Persönlichkeitstypen meinen, sie könnten hier eine Lebensmöglichkeit finden. In versucherischen Situationen kommen ihre latenten, nicht verarbeiteten Wünsche zum Vorschein. Ein Generalverdacht ist aber völlig unbegründet.

Halten Sie aktiven Ungehorsam der deutschen Bischöfe gegenüber dem Vatikan für angeraten? Zum Beispiel was das gemeinsame Abendmahl mit Protestanten betrifft?

Kramer: Was in der Kirche fehlt, ist Kreativität. Man muss nicht immer gegen etwas sein, sondern neue Formen entwickeln. Der Bischof muss etwas Neues machen, so dass die anderen das Problem haben, nein zu sagen. Da könnten die Bischöfe deutlich mutiger sein. Das Argument, die anderen in der Konferenz ziehen nicht mit, akzeptiere ich nicht. Was kann einem Bischof denn schon passieren?

In welchen Punkt ist Bischof Fürst Ihrer Meinung nach zu zögerlich?

Kramer: Erzbischof Zollitsch hat alle Gläubigen eingeladen, sich an einem zweijährigen Dialogprozess zu beteiligen, der im Jahr 2012, genau 50 Jahre nach Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils, in eine neue, zeitgemäße Standortbestimmung der Kirche münden soll. In diesem Prozess wird auch Bischof Fürst Farbe bekennen. Er hat sich ja in seiner Neujahrsbotschaft schon weit aus dem Fenster gewagt und beispielsweise das Thema Geschiedene und Wiederverheiratete angesprochen. Wichtige Themen wie Sexualethik, Zölibat, Frauenordination und Ämterverständnis hat er aber ausgeklammert. Das muss diskutiert werden. Wir werden da an unserem Bischof dran bleiben wie eine Klette.

Auf welche Reaktionen ist Ihre Initiative innerhalb der Kirche, auch hier vor Ort, gestoßen?

Kramer: Wir haben klein angefangen und bewusst vermieden zu provozieren. Mit wenigen Ausnahmen waren die Reaktionen positiv. Selbst der Bischof hat uns durch seinen persönlichen Referenten schon zweimal die Nachricht zukommen lassen: Macht weiter so. Das große Problem ist eher, dass die große Masse der Kirchenmitglieder derart gleichgültig gegenüber den großen existenziellen Fragen geworden ist und sich für Kirche gar nicht mehr interessiert.

Aber gibt es nicht auch treue Kirchgänger, die sich längst an diese Spaltung zwischen Anspruch und Wirklichkeit gewöhnt haben?

Kramer: Ja, da gibt es sicher noch einen hohen Prozentsatz von Leuten, denen die Schönheit der Rituale ausreicht. Aber wenn der Dialogprozess wie das Hornberger Schießen endet, wird es eine erneute Austrittswelle geben. Bei den Menschen in den mittleren Jahrgängen bricht die Kirche am stärksten ein. Bei Leuten, die im Beruf intellektuell gefordert sind und dann vor einer Kirche stehen, in der sie sich wie unmündige Kinder vorkommen.





Pro Concilio
Die Initiative wurde am 23. Januar 2010 mit zunächst 33 Mitgliedern in Esslingen gegründet. Das Datum war bewusst gewählt: Am 25. Januar 1959 hatte Papst Johannes XXIII. für viele überraschend zum „Zweiten Vatikanischen Konzil“ gerufen. Die Mitglieder von Pro Concilio sehen sich dem Geist des Konzils verbunden. Sie halten viele Entwicklungen innerhalb der Kirche für rückwärtsgewandt und wollen von unten auf eine Erneuerung der Kirche hinwirken. Die Vertrauenskrise der katholischen Kirche durch die Missbrauchsfälle hat der Initiative Zulauf beschert: Inzwischen hat sie 75 Mitglieder. Darunter sind auch einige Gemeinde- und Pastoralreferenten. Insgesamt engagieren sich vor allem Akademiker in der Initiative, obwohl die Mitglieder betonen, für alle offen zu sein.

Der Name der Initiative, die inzwischen ein eingetragener Verein ist, weist darauf hin, dass die Gruppe ein weiteres Reformkonzil für erforderlich hält. Viele der notwendigen Reformen können ihrer Meinung nach nur von einem Konzil beschlossen werden.

Einige der Kernziele der Initiative sind: eine lebendige Streitkultur, eine stärker am Menschen orientierte Seelsorge, Neubesinnung der kirchlichen Sexualmoral, Aufhebung des Pflichtzölibats, längerfristig die Ordination von Frauen (als ersten Schritt die Weihe zu Diakoninnen), größere Eigenständigkeit der Ortskirchen, Ökumene und gegenseitige Anerkennung des Abendmahls und der Eucharistiefeier.

In den kommenden Wochen will der Verein Basisgruppen für Jugendliche im Dekanat gründen.

Pro Concilio arbeitet mit anderen Reformbewegungen wie „Wir sind Kirche zusammen“, will aber ein eigenes, ganzheitliches Profil entwickeln.

Zweites Vatikanisches Konzil: Die Kirchenkonferenz fand von 1962 bis 1965 im Petersdom statt. Damals versammelten sich dort 2540 „Konzilsväter“ unter der Leitung des Papstes. Das Konzil war eng mit der Hoffnung auf eine Erneuerung der Weltkirche verknüpft. Beraten wurde über die Religionsfreiheit, die Reform der Liturgie, die Ökumene sowie über Dienst und Leben der Priester. Das Konzil bedeutete am Ende für die katholische Kirche zwar eine gewisse Öffnung in die Neuzeit. Dennoch blieben etliche der Konzilsanregungen zur Enttäuschung vieler Katholiken bis heute unerfüllt.

http://www.esslinger-zeitung.de/lokal/esslingen/esslingen/Artikel656190.cfm

Zuletzt geändert am 20­.01.2011