9.3.2011 - Süddeutsche Zeitung

Das römische System muss fallen

Ja, die katholische Kirche ist noch zu retten. Nicht aber ihr überkommener Absolutismus

Von Hans Küng

Autokraten sind Selbst-Herrscher, Allein-Herrscher, die in ihrem Bereich unumschränkte Gewalt beanspruchen. Ungeteilt liegt die Macht in der Hand eines einzelnen Herrschers, Kontroll- und Mitspracherechte von Institutionen und Versammlungen werden nicht toleriert. Autokraten nannten sich die oströmisch-byzantinischen Kaiser; Autokraten waren die machiavellistisch regierenden Renaissancefürsten und die absolutistischen europäischen Herrscher, denen die Französische Revolution ein Ende bereitete. Autokraten nannten sich die russischen Zaren, die von der kommunistischen Revolution weggefegt wurden. Autokraten waren die arabischen Präsidialdiktatoren, die nun vom Volk hinweggefegt wurden. Was aber oft übersehen wird: Autokraten sind seit dem 11. Jahrhundert auch die römischen Päpste, gegen deren Alleinherrschaft in der Kirche weder die spätmittelalterlichen Reformkonzilien, noch die protestantische Reformation, noch die Französische Revolution, noch die Krisen des 19. und 20. Jahrhunderts ankamen. Laut Dekret des Ersten Vatikanischen Konzils von 1870 besitzt der Papst die „ganze Fülle der höchsten (ordentlichen und unmittelbaren) Gewalt über die gesamten und einzelnen Kirchen wie über die gesamten und einzelnen Hirten und Gläubigen“.

Die päpstlichen Autokraten haben seitdem behauptet, sie seien selbstverständlich gebunden an die Gebote der Sittlichkeit und der Religion. Sie regierten nicht nach dem Willen des Volkes – so doch durch die Gnade Gottes. Aber sie alle maßen sich die Macht an zu definieren, wie diese Gebote und Rechte zu interpretieren seien. Ja, die Päpste (und sie allein unter den Fürsten) beanspruchen seit dem Ersten Vatikanum sogar eine „Unfehlbarkeit bei endgültigen Entscheidungen in Glaubens- und Sittenlehren“, sie fordern gegenüber der monarchischen „Obrigkeit“ eine unbedingte Gehorsamsbindung, die für Staats- wie für Kirchendiener, ja für alle „Untertanen“ gilt. Die negativen Folgen: administrative Bevormundung der Bürger, Privilegierung der staats- oder kirchentragenden Schicht, Übersteigerung des Macht- und Ordnungsdenkens, weitgehende Reglementierung von Wissenschaft, vor allem von Recht und Theologie.

Wer könnte vor diesem Hintergrund nicht die Freude eines Theologen verstehen, der seit fünf Jahrzehnten Reformen in der katholischen Kirche anmahnt, in der Konzilszeit der 1960er Jahre mit einem gewissen Erfolg, in der Nachkonzilszeit aber oft als einsamer Rufer in der Wüste: Derzeit zeichnet sich – nach der Enthüllung der sexuellen Missbrauchsskandale und deren weltweiter Vertuschung durch das Versagen des Episkopats – ein erfreuliches Erwachen des Reformgeistes ab.

Eine jüngere Generation von Theologen und vor allem Theologinnen hat mutig ein Memorandum mit sechs im Grunde selbstverständlichen Reformforderungen formuliert und sofort die Gefolgschaft von Hunderten weiterer Theologen gefunden. Vorausgegangen waren ihnen katholische Laien – darunter Bundestagspräsident Lammert und die ehemaligen Ministerpräsidenten Teufel, Vogel und Althaus – mit der (im Memorandum leider nicht klar formulierten) Forderung der Abschaffung des Zölibatsgesetzes. Auch führende katholische Publizisten haben sich dem angeschlossen.

Wie schade, dass Walter Kardinal Kasper, früher einmal ein Reformtheologe, sich auch noch als Emeritus zum Apologeten des römischen Systems erniedrigt und sich zu den Dialog- und Reformverweigerern gesellt! Dabei ist es genau dieses römische System, unter dem die katholische Kirche krank geworden ist. Auch der katholische Soziologe Franz Xaver Kaufmann spricht jetzt von einer „pathogenen Situation“: „In Deutschland geht es den Kirchen in jeder Hinsicht gut, mit der einen Ausnahme, dass sie den Kontakt zur Seele der meisten Menschen verloren zu haben scheinen. Hier wird man durchaus von Krankheitssymptomen auch auf der Systemebene sprechen dürfen.“

Wenn Kaufmann jedoch versichert, die Institution „wird überleben“, so darf man das für die katholische Kirche als Gemeinschaft erhoffen, sofern sie auf dem Felsen des Christusglaubens gegründet ist. Nicht aber für das mittelalterliche römische Herrschaftssystem, das auf Sand gebaut ist, auf römischem Macht- und Wahrheitsmonopol, auf Juridismus und Klerikalismus, Sexual- und Frauenfeindlichkeit und geistlich-ungeistlicher Gewaltanwendung. Dieses System war hauptverantwortlich schon für die drei großen Spaltungen der Christenheit: die erste zwischen Ost- und Westkirche im 11. Jahrhundert, die zweite in der Westkirche zwischen katholischer und protestantischer Kirche im 16. Jahrhundert, die dritte zwischen römischem Katholizismus und aufgeklärter moderner Welt im 18. und 19. Jahrhundert.

Die Situation der katholischen Kirche hat sich dramatisch verschlechtert. Der Wiener Theologe Paul Zulehner sagt zu Recht: „Die Zeit des Resolutionismus ist vorüber, Reformpapiere bringen nichts“. Was es jetzt braucht, sind entschiedene Reformen oder – bei deren Ausbleiben – aktiver Widerstand. Für die Unterstützung der von Rom und Episkopat schon des längeren ignorierten Reformforderungen ist Voraussetzung eine klare Analyse der tausendjährigen Pathogenese (Krankheitsgeschichte) dieses Systems.

Mein Beitrag zur Unterstützung der Reformer und zu dem von den deutschen Bischöfen geforderten, aber bereits hinausgezögerten „Zukunftsgespräch“ (Verschiebung des für Herbst 2010 versprochenen Hirtenbriefes wegen Uneinigkeit auf Frühjahr 2011) lautet: Notwendig ist eine gründliche und detaillierte Analyse, die nicht auf Oberflächensymptome, sondern auf die wahren Ursachen zielt. Konkret: Der Papst muss sich um die Gemeinschaft bemühen. Die römische Kurie zwar nicht zerstören, aber reformieren. Statt Günstlingswirtschaft zu betreiben, Fachpersonal suchen. Glasnost und Perestroika für die Kirchenfinanzen einführen. Die Inquisition nicht reformieren, sondern abschaffen. Alle Formen von Repression beseitigen. Das Kirchenrecht nicht nur verbessern, sondern gründlich neu gestalten. Priestern und Bischöfen die Ehe erlauben. Den Frauen alle Ämter öffnen. Abendmahlgemeinschaft mit den Kirchen der Reformation nicht länger verwehren, Wahrhaftigkeit ohne Ausreden und Verschweigen.

Von der – kurzfristigen, mittelfristigen und langfristigen – Realisierung konkreter Reformmaßnahmen wird es abhängen, ob und inwieweit die katholische Kirche überlebt.


Hans Küng ist emeritierter Professor für ökumenische Theologie an der Universität Tübingen und Präsident der Stiftung Weltethos. Sein neues Buch heißt: Ist die Kirche noch zu retten?

Zuletzt geändert am 10­.03.2011