10.10.2011 - Tagblatt.de

Klare Worte beim Tag der Katholischen Kirche

Sie traf den Nerv der Tübinger Katholiken: Die frühere Grünen-Bundestagsabgeordnete Christa Nickels fordert von ihrer Kirche, Errungenschaften wie Gleichberechtigung, Rechtsstaatlichkeit oder Glaubens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit zu respektieren.

Renate Angstmann-Koch

Tübingen. „In der früheren DDR ist die Stasi weg. Aber wir haben in Deutschland eine innerkatholische Stasi, die jeden Priester, der es wagt, frei zu denken, in Rom denunziert.“ Das sagte Christa Nickels, Mitgründerin der Grünen und seit 2001 Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, gestern Vormittag in der Hermann-Hepper-Halle.

Pfarrer Alois Krist, der Vorsitzende der Katholischen Gesamtkirchengemeinde, hatte nach einem vom Jugendchor St. Paulus und St. Petrus begleiteten Morgenlob in die Podiumsdiskussion mit Nickels und Weihbischof Reinhard Hauke aus Erfurt eingeführt. Ihr Motto: „Weiter sehen als wir sind.“ – „Wir suchen Impulse für eine Situation in Westdeutschland, die sich der Lage der Kirche im Osten immer mehr annähert“, sagte Pfarrer Krist.

Die frühere Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung Nickels beklagte vor rund 450 Gläubigen ein Klima der Angst in ihrer Kirche. Sie warnte davor, „am Bild des zölibatären männlichen Priesters“ festzuhalten. Viele Männer und Frauen seien zum Priesteramt berufen, wollten jedoch auch in einer Liebesbeziehung leben. Die katholische Kirche sei „von Frauen getragen, aber von Männern geleitet“, kritisierte sie: „Das kann nicht im Geist Jesu Christi sein.“ Die Überlastung vieler Pfarrer, die von Gottesdienst zu Gottesdienst hetzten und bis ins hohe Alter arbeiten müssten, sei menschenverachtend. Wenn der Klerikerstand aussterbe, müsse die Kirche ihre Ämter mit Laien besetzen. „Dann haben wir wenig Eucharistiefeiern“, bedauerte Nickels. Immer wieder erhielt die resolute Nordrhein-Westfälin bei der vom bischöflichen Pressesprecher Thomas Broch moderierten Diskussion spontanen Applaus.

Im Wirkungsfeld des Erfurter Weihbischofs Reinhard Hauke leben zu acht Prozent Katholiken, zu 23 Prozent Evangelische und zu 70 Prozent Menschen, die sich nicht als Christen verstehen. Bekannt wurde Hauke dadurch, dass er eine Segensfeier für nichtchristliche Jugendliche als Alternative zur Jugendweihe einführte. Er plädierte für einen gelassenen, „nicht ängstlichen Umgang mit Menschen, die noch keine Christen sind. Sie hatten noch keine Chance dazu.“

Hauke schilderte weitere Projekte für Nichtkatholiken in Erfurt: eine Feier an Heiligabend, da die Kirchen regelmäßig überrannt würden, wenn die Kneipen schließen; eine Valentinsfeier „für Verliebte und alle, die partnerschaftlich unterwegs sind“; Gottesdienste für Kranke („auch Nichtchristen werden krank“) und Totenfeiern, da eine allgemeine Begräbniskultur fehle. Wollten Ungetaufte in der Kirche gesegnet werden, solle man nicht lange fragen, empfahl er unter Beifall: „So etwas muss nicht immer gleich weltkirchlich gelöst werden.“

Auch sonst riet Hauke zu Gelassenheit. Zwar sei auch ihm „die eucharistische Zentrierung“ wichtig. Doch er sei „ein wenig sorglos“, da sich immer Lösungen fänden, sagte er mit Blick auf Frankreich. „Warum sollte man nicht einigen kleinen Gruppen die Erlaubnis geben, ein Tabernäkelchen im Wohnzimmer zu haben?“ Entscheidend sei, „ob wir als Christen Antworten auf die Fragen der Menschen und auf ihre Sehnsucht etwa nach Geborgenheit“ haben – „eine Herausforderung“.

Der Nachmittag in der Hepper-Halle und den benachbarten Schulgebäuden war geprägt von Workshops wie Offenem Singen oder Porträtzeichnen, aber auch von Spielangeboten für Kinder und einer Reihe von Diskussionsforen. Zuvor gab es einen Pendel-Busverkehr zum gemeinsamen Mittagessen in der Mensa Wilhelmstraße, später auch Kaffee und selbst gebackenen Kuchen in der Hepper-Halle.

An der Gestaltung des Tages wirkten auch evangelische Christen mit. Dekanin Marie-Luise Kling-de-Lazzer kam am Nachmittag zu Besuch. Prof. Karl-Artur Kovar, der zweite Vorsitzende der Katholischen Gesamtkirchengemeinde, zeigte sich „mehr als zufrieden“. Der Tag, bei dessen Gestaltung ihn 75 Helferinnen und Helfer unterstützten, sei als Versuchsballon gedacht gewesen, die Podiumsdiskussion ein Beitrag dazu, „den Dialog in und außerhalb der Kirche“ weiterzuentwickeln. Er könne sich durchaus vorstellen, eine solche Veranstaltung in einigen Jahren ökumenisch auszurichten: „Das ist das Gebot der Stunde.“

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Zuletzt geändert am 13­.10.2011