24.5.2019 - Göttinger Tageblatt

Bischof fordert Reform der Kirche

Hannover. Solche Sätze könnten in einem modernen Managerseminar fallen: „Eine Führungspersönlichkeit ist jemand, der andere Menschen dazu bringt, etwas zu tun, was sie nie täten, wenn man es ihnen befehlen würde“, sagt Heiner Wilmer. Und: Eine Führungspersönlichkeit ist jemand, der andere aufrichtet.“ Dabei spricht er nicht über Management, sondern über Moses. Über den Mann, der die Israeliten in die Freiheit führte. Nicht jeder Theologe kann so weite Bögen von den uralten Schriften in die Gegenwart schlagen.

Mehr als 300 Menschen sind in die Marktkirche gekommen, um Wilmer zu erleben. Seit vergangenem September ist der 58-Jährige Bischof von Hildesheim, und seither ist er zur Lichtgestalt der liberalen Katholiken geworden. Wilmer hört zu, plädiert für einen neuen Kurs der Kirche. Er prangerte ein Versagen seiner Vorgänger im Umgang mit Missbrauchsfällen an – und musste sich für manche Äußerung von konservativen Kollegen öffentlich zurechtweisen lassen.

„Gott kennen wir nicht“

Eigentlich soll er in der Marktkirche sein Buch „Hunger nach Freiheit“ (Herder, 224 Seiten, 20 Euro) vorstellen. Er beschäftigt sich darin mit dem biblischen Moses, den er als den Prototypen des modernen Menschen sieht – eine widersprüchliche, gebrochene Figur. Doch statt zu lesen, stellt Wilmer sich vor den mattgoldenen Altar – und erzählt von der Macht des Wortes und dem Wert der Freiheit. Er spricht frei und ruhig und druckreif, mehr als eine Stunde lang.

Im Gespräch mit Moderator Rüdiger Wala berichtet der gebürtige Emsländer dann davon, dass er selbst als Kind stotterte („eine schlimme Erfahrung“) – und er skizziert eine ebenso mystische wie bescheidene Theologie: „Die eigentliche religiöse Wahrheit lautet: Gott kennen wir nicht.“

Plädoyer für mehr Gleichberechtigung in der Kirche

In der Diskussion möchte eine Besucherin wissen, warum Frauen in den Religionen so oft benachteiligt würden. Wilmer bricht eine Lanze für mehr Gleichberechtigung in der Kirche: „Da muss sich was verändern, so geht es nicht weiter“, sagt er – und erntet spontanen Applaus. Ein anderes Thema, das ihn umtreibt, sind die Missbrauchsfälle in seinem Bistum: „Alle Akten beschuldigter Priester sind bei der Staatsanwaltschaft“, versichert er. „Es geht dabei nicht um das Image der Kirche, sondern um Gerechtigkeit für die Betroffenen.“

Entschieden tritt er für Neuerungen ein. „Wir brauchen eine Reform in der Kirche“, sagt Wilmer. Diese müsse sich im Sinne Jesu wieder den Schwachen zuwenden. „Wir haben ein institutionelles Problem“, konstatiert er. In der Öffentlichkeit werde Kirche als Ansammlung „alter, grauer Männer“ wahrgenommen. „Die eigentliche Kirche sind aber Sie!“, ruft er den Besuchern zu. Und da widerspricht ihm in der Marktkirche niemand.

Von Simon Benne

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Zuletzt geändert am 28­.05.2019