24.6.2010 - Die Zeit

Gläubig, aber kirchenfern

Nur jeder zweite Katholik fühlt sich der Amtskirche verbunden

Stirbt die Kirche in Deutschland allmählich aus? Wer hundert Jahre zurück schaut in die Geschichte, wird feststellen, dass der Anteil der Kirchenmitglieder, evangelischer wie katholischer, in der Bevölkerung sich prozentual erheblich verringert hat. 1910 waren 51,4 Prozent der Deutschen katholische und 46,9 Prozent evangelisch. Mittlerweile sind es nur noch jeweils um die 30 Prozent, die zumindest formell einer der beiden großen Kirchen angehören.

169 000 Protestanten und 121 000 Katholiken kehrten 2005, so die bislang letzten verfügbaren Zahlen, ihrer Kirche den Rücken. Diese Zahlenverhältnisse haben sich in den vergangenen Jahren nicht nennenswert verändert. Austritte sind beim schleichenden Rückgang der Kirchenmitglieder allerdings nur ein Faktor. Wer wissen will, wie. sehr die Kirchen wirklich schrumpfen, muss die Austritte mit der Zahl der Taufen, Wiederaufnahmen, Übertritte und Beerdigungen verrechnen.

Seit der Wiedervereinigung, ermittelte kürzlich der Münchner Theologie-Professor Friedrich Wilhelm Graf, ergibt sich auf katholischer Seite bis Ende 2005 eine Verlustbilanz von 2,2 Millionen Gläubigen - das mag ein Problem sein, ist aber nicht existenzbedrohend angesichts von heute immer noch mehr als 25 Millionen Katholiken in Deutschland. „In der evangelischen Kirche lassen sich analoge Prozesse beobachten“, schreibt Graf. Von 1990 bis Ende 2008 hätten 3,8 Millionen Menschen die evangelische Kirche verlassen - bleiben noch immer 24,5 Millionen Protestanten in Deutschland.

Derzeit trifft jedoch besonders die katholische Kirche eine hohe Zahl von Austritten. Noch weiß man nicht, wie viele Katholiken wegen der Skandale um sexuellen Missbrauch oder um den Augsburger Bischof Walter Mixa ihre Kirche seit Anfang des Jahres verlassen haben. Allerdings lassen Stichproben aus dem ersten Quartal schwere Zeiten erahnen. Das lässt die Frage aufkommen, ob sich das Größenverhältnis bei den Austritten umkehrt: Könnten 2010 im Jahresvergleich erstmals mehr Katholiken als Protestanten ihre Kirche verlassen?

Viel hängt dabei von den Austrittsgefährdeten ab. Gleich zwei Umfragen ermittelten dazu beunruhigende Werte, zumindest für die katholische Kirche: Fast ein Viertel aller deutschen Katholiken, das ergab eine Forsa-Umfrage im Frühjahr, denkt über einen Kirchenaustritt nach, darunter sogar 19 Prozent derjenigen, die sich in der Umfrage selbst als „tiefgläubig“ bezeichnen. Und erst vergangene Woche präsentierte das Meinungsforschungsinstitut Allensbach eine Studie im Auftrag der Kirche, wonach selbst unter eingetragenen Katholiken nur noch gerade mal gut die Hälfte, 54 Prozent, sich ihrer Kirche verbunden fühlen. Darin sind neben den 17 Prozent „gläubigen Kirchennahen“ bereits die 37 Prozent „kritisch Kirchenverbundenen“ eingerechnet.

Besonders besorgniserregend für die katholische Kirche: Die Untersuchung entstand bereits Ende vergangenen Jahres, also noch vor Ausbruch der großen Missbrauchsdebatte.

DZ

Zuletzt geändert am 29­.06.2010