17.7.2010 - FAZ

Katholische Kirche. Krise einer moralischen Instanz

In den meisten westeuropäischen Ländern ist die Kirche auf dem besten Weg, nicht nur als Kulturmacht zu implodieren, sondern auch als Institution. An die Stelle des Respekts ist abgrundtiefes Misstrauen getreten. Benedikt hat ein Erbe angetreten, das die Probleme eher befördert denn gemildert hat.

Von Daniel Deckers

Gut fünf Jahre sind seit dem Tod Papst Johannes Pauls II. vergangen. Damals, im April 2005, erwiesen dem Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche so viele Staatspräsidenten und Religionsführer wie noch nie die letzte Ehre, Heroen des Geistes erkannten in dem Papst aus Polen das „Gewissen der Welt“, das einfache Volk deklamierte „Santo subito“ - Heiligsprechung jetzt.

Mittlerweile ist die Erinnerung an den Frühling 2005 verblasst. Und das Pendel der Geschichte scheint in atemberaubender Geschwindigkeit von dem einen Extrem in das andere ausgeschlagen zu sein: An die Stelle des öffentlichen Respekts, wenn nicht gar der Hochachtung für die Kirche als eine faszinierende gesellschaftliche Institution zeit- und raumübergreifender Transzendenz ist vielerorts abgrundtiefes Misstrauen, wenn nicht blanker Hass getreten, weil sich mit ihrem Wissen und in ihrem Schutz Geistliche jeden Ranges über Jahrzehnte unbehelligt an Kindern und Jugendlichen vergreifen konnten.

„Pathologien (in) der Religion“

Beide Wahrnehmungen zogen und ziehen ihre Überzeugungskraft indes aus der Begrenztheit der jeweiligen Perspektive. Weder ist die katholische Kirche eine Zusammenrottung männlicher Erwachsener zum Zweck der sexuellen Erniedrigung Heranwachsender noch eine Versammlung von Heiligen inmitten einer sündigen Welt. In Frage steht vielmehr, wie es die katholische Kirche als Institution mit jenen „Pathologien der Religion“ hält, von deren Existenz Papst Benedikt XVI. nicht weniger überzeugt ist als von der Existenz von Pathologien der Vernunft.

Freilich hat Benedikt sowohl in seinem Gespräch, das er noch als Kardinal mit Jürgen Habermas über das Verhältnis von Glauben und Vernunft führte, als auch in der legendären „Regensburger Vorlesung“ offengelassen, welche Phänomene er unter den einprägsamen Begriff „Pathologien (in) der Religion“ zu fassen gedenkt. Auch das auf einer seiner jüngsten Reisen geäußerte Erschrecken darüber, „dass die größte Verfolgung der Kirche von Feinden nicht von außerhalb kommt, sondern aus der Sünde innerhalb der Kirche entsteht“, hat er mit der Öffentlichkeit nicht so weit geteilt, dass man wüsste, was der Papst mit „der Sünde“ gemeint haben könnte.

Habituelle Verweigerung gegenüber dem Leid der Opfer

Das Schuldbekenntnis, das zu Beginn jedes Gottesdienstes gebetet wird, kennt sittliche Verfehlungen nicht nur in Gestalt bösen Tuns, sondern auch als Unterlassung des Guten. Auf diese Art der Sünde beziehen sich denn auch die meisten Vorwürfe, denen sich die katholische Kirche im Zuge der Enthüllungen über die Untaten von Geistlichen ausgesetzt sieht: So schwer die persönlichen Verfehlungen Einzelner auch wiegen, so sehr konnten die Täter nicht nur im Einzelfall, sondern im Grundsatz auf mehr Mitgefühl rechnen als ihre Opfer - wenn diese überhaupt in den Blick gerieten.

Diese habituelle Verweigerung gegenüber dem Leid der Opfer ist jedoch nur die eine Seite eines Phänomens, das der katholische Soziologe Franz-Xaver Kaufmann als „moralische Lethargie in der Kirche“ noch zurückhaltend beschrieben hat. Es ist vielmehr nach den strukturellen Bedingungen zu fragen, die ein Klima in der Kirche begünstigen, in dem die institutionellen Abwehrreflexe nach wie vor weitaus stärker sind als die Bestrebungen, sich jenen moralischen Ansprüchen zu unterwerfen, welche die Kirche gegenüber ihren Mitgliedern wie auch gegenüber der Gesellschaft erhebt.

Kirche ohne Klerus

Dieses Paradox wird durch niemanden so sehr personifiziert wie durch Papst Johannes Paul II.: nach außen ein charismatischer Anwalt von Menschenrechten, nach innen mit Hilfe des damaligen Kardinals Ratzinger ein Verfechter theologischer Tabuzonen und ein Exponent höfisch-zentralistischer Tendenzen, in deren Gefolge das Lebensgefühl vieler Katholiken und das Selbstverständnis der Kirche in einen kaum noch zu überbrückenden Gegensatz geraten. Als Papst haben Ratzinger nicht nur die kognitiven Dissonanzen mit voller Wucht eingeholt, die während des vorangegangenen Pontifikats erzeugt worden sind. Mit einer Kurie, die angesichts der Globalisierung der Kirche strukturell rückständiger ist denn je, und einem Bischofskollegium, das gerade in den Kardinalsrängen intellektuell ausgezehrt ist wie seit Jahrzehnten nicht, hat Benedikt ein Erbe angetreten, das die Probleme, vor denen die Kirche steht, eher befördert denn gemildert hat.

Daher ist auch nicht erkennbar, ob und, wenn ja, woher der Institution Kirche in ihrer gegenwärtigen Lage neue Kräfte zuwachsen können. Im Gegenteil: In den meisten westeuropäischen Ländern ist die Kirche auf dem besten Weg, nicht nur als Kulturmacht zu implodieren, sondern auch als Institution. Der Mangel an Priestern hat Ausmaße angenommen, die das Selbstverständnis der katholischen Kirche alltagspraktisch dementieren, mittels ihrer Sakramente Zeichen des Heils in dieser Welt zu setzen. Eine Kirche ohne Klerus, in der nicht nur jedes Sakrament, sondern mit dem Kirchenrecht von 1983 jede Jurisdiktion an das Weiheamt gebunden ist, führt sich selbst ad absurdum.

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Zuletzt geändert am 19­.07.2010