10.11.2010 - Grenz-Echo (deutschsprachige Tageszeitung in Ostbelgien)

»Der Papst sollte sein Mea Culpa sprechen«

Von Martin Klever

Der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche zieht immer weitere Kreise. Auch hierzulande wurden in jüngster Vergangenheit regelmäßig neue Fälle von Kindesmissbrauch durch Geistliche bekannt. Ein Ende der Fahnenstange scheint nicht in Sicht. Statt jedoch verstärkt nach den Ursachen der Problematik zu fragen, verschließt sich die Kurie weiterhin einem offenen Diskurs.

Das Grenz-Echo sprach mit dem renommierten Tübinger Theologen Hans Küng über den Zusammenhang zwischen Zölibat und sexuellem Missbrauch, den gegenwärtigen Zustand der katholischen Kirche und die Schuld, die Papst Benedikt XVI. hieran trägt.

Herr Küng, Sie haben mehrfach erklärt, dass es in der katholischen Kirche wohl kaum einen Mann gibt, der aufgrund seiner Ämter so viel über die Missbrauchsfälle gewusst habe wie Joseph Ratzinger. Wie erklären Sie das?

Bei keinem anderen Menschen gingen in der Tat so viele Missbrauchsfälle über den Schreibtisch wie bei ihm. Acht Jahre lang war er Theologieprofessor in Regensburg: Aufgrund der engen Verbindung mit dem Domkapellmeister, seinem Bruder Georg, war er unter anderem über die Verhältnisse bei den Regensburger Domspatzen bestens informiert. Dann war er fünf Jahre Erzbischof von München: Aus dieser Zeit sind weitere Missbrauchsfälle eines in Ratzingers Bistum versetzten Priesters bekannt. Anschließend war er 24 Jahre Präfekt der Glaubenskongregation: Hier wurden und werden alle schweren Sexualdelikte von Klerikern aus der ganzen Welt unter strengster Geheimhaltung gesammelt und behandelt. Joseph Ratzinger hatte noch am 18.Mai 2001 als Präfekt in seinem Schreiben an alle Bischöfe über die so genannten schweren Vergehen die Missbrauchsfälle erneut unter »päpstliche Geheimhaltung« gestellt, deren Verletzung unter Kirchenstrafe steht.

Auf ein Schuldeingeständnis des Pontifex wartet man bislang vergebens, oder?

In der Tat. Immerhin ist Joseph Ratzinger schon mehr als fünf Jahre im Amt, ohne an der verhängnisvollen Praxis etwas geändert zu haben. Die Wahrhaftigkeit würde es verlangen, dass der Mann, der seit Jahrzehnten die Hauptverantwortung für die weltweite Vertuschung der Missbrauchsfälle trägt, sein eigenes Mea culpa spricht. Man hatte eigentlich erwartet, dass er dies in der Karwoche tun würde, aber stattdessen hat er sich am Ostersonntag auf dem Petersplatz von Kardinaldekan Angelo Sodano seine Solidarität und Unschuld bezeugen lassen. Das war schon eine peinliche Zeremonie.

In den vergangenen Jahren sind in den USA und in Irland für Opfer von Missbrauchsfällen Entschädigungsfonds in Milliardenhöhe aufgelegt worden. Ist das der ungelenke Versuch der Kurie, ihre Schuld einzugestehen?

Nicht unbedingt, immerhin hat der Papst vor allem auf Reisen die Schuld von einzelnen Mitgliedern des Klerus eingestanden. Dass nun Entschädigungsfonds eingerichtet werden, ist einerseits eine juristische Angelegenheit, andererseits aber auch eine Frage der ethischen Verpflichtung.

Unfehlbarkeitsanspruch hin oder her: Müsste nicht gerade der Papst mit gutem Beispiel vorangehen und angesichts seiner Involvierung in die Missbrauchsfälle seinen Stuhl räumen?

Es gibt Personen, die das verlangen - ich gehöre aber nicht dazu. Es geht jedoch auch nicht an, dass der Papst etwa die Bischöfe Irlands kritisiert, ohne selber einzugestehen, dass er für die Vertuschung eine wesentliche Verantwortung trug und die Bischöfe gar dazu aufgefordert hat. So läge es in meinen Augen daher an den Bischöfen, den Papst an die eigene Verantwortung zu erinnern - und nicht einfach stumm zu schweigen, wenn ihnen einseitig Vorwürfe gemacht werden.

Insbesondere der Zusammenhang zwischen Zölibat und Missbrauchsfällen wird von vielen Kirchenoberen vehement bestritten. Ist diese Haltung als konsequente Leugnung der Tatbestände oder als reiner Selbstschutz zu verstehen?

Die Koordination zwischen dem sexuellen Missbrauch Jugendlicher durch Kleriker und dem Zölibatsgesetz wird in der Tat immer wieder geleugnet. Aber man kann doch - wenn man nicht blind sein will - die Zusammenhänge nicht übersehen. Die zwangszölibatäre und monosexuelle Kirche konnte zwar die Frauen aus allen Kirchenämtern, aber nicht die Sexualität aus den Menschen vertreiben, wie der bekannte katholische Religionssoziologe Franz-Xaver Kaufmann ausführt. Auf diese Weise hätte diese Kirche eben das Risiko der Pädophilie in Kauf genommen. Und das bestätigen ja auch zahlreiche Psychotherapeuten und Psychoanalytiker: Das Zölibatsgesetz verpflichte die Priester, sich ewiger sexueller Aktivität zu enthalten, aber deren Impulse blieben nunmal virulent, und es bestehe die Gefahr, dass sie in eine Tabuzone abgedrängt und dort kompensiert werden. Die zölibatäre Lebensform - besonders die zu dieser hinführenden Sozialisation in Internaten und Priesterseminaren - könne pädophilen Neigungen Vorschub leisten. Selbstverständlich ist das nicht misszuverstehen: Das ist kein Generalverdacht. Der Einzelne mag das gut machen, aber es ist ein Unterschied, ob dies ein Zwangszölibat oder eine freiwillige Berufung ist.

Wie könnte eine vernünftige Diskussion über das Zölibatsgesetz in Ihren Augen aussehen?

Man müsste meines Erachtens ganz einfach wieder auf das Neue Testament zurückgehen und fragen, was dort überhaupt steht. Es ist doch eindeutig, dass in der Bibel nun gerade das Gegenteil geschrieben steht, was von der Kirche propagiert wird: Jesus und Paulus haben Ehelosigkeit für den Dienst an den Menschen exemplarisch vorgelebt, aber zugleich dem Einzelnen diesbezüglich die volle Freiheit gewährt. Ehelosigkeit kann vom Evangelium her nur als frei ergriffene Berufung und nicht als allgemein verbindliches Gesetz vertreten werden. Paulus hat sich entschieden gegen diejenigen gewendet, die schon damals die Ansicht vertraten, »dass es für einen Mann gut sei, keine Frau zu berühren«: »Wegen der Versuchungen zur Unzucht soll jeder Mann seine Frau und jede Frau ihren Mann haben« (1 Kor. 7, 1f). Nach dem ersten Brief an Timotheus soll »der Bischof Mann nur einer (nicht keiner!) Frau sein« (3,2). Petrus und die übrigen Apostel waren in ihrem Dienst verheiratet.

Welche Kursänderung könnte einen Ausweg aus der gegenwärtig festgefahrenen Situation der katholischen Kirche darstellen?

Es käme darauf an, dass als konkrete Norm für die Kirche nicht mehr ein selbstfabriziertes Kirchenrecht angesetzt wird, das zu einem schönen Teil aus dem Mittelalter stammt, sondern dass man als Norm den in der heiligen Schrift skizzierten Weg von Jesus Christus selber nimmt. Von Jesus von Nazareth her sind viele Dinge eindeutig beantwortet - nicht nur die Zölibatsfrage.

http://www.grenzecho.net/zeitung/aktuell/schlagzeilen_detail.asp?a={7365D4AC-AFF3-40D1-BEA5-EAD8848F4C88}

Zuletzt geändert am 12­.11.2010