11.1.2011- ORF.at

Rekord bei Kirchenaustritten



Die Zahl der Kirchenaustritte in Österreich ist auf einem neuen Rekordhoch: 87.393 Personen haben 2010 die römisch-katholische Kirche verlassen. 2009 waren es 53.269 gewesen. Das ergeben die vorläufigen Zahlen der Diözesen, die am Dienstag veröffentlicht wurden.

Die Zahl der Austritte stieg somit um rund 64 Prozent gegenüber 2009. Als Hauptgrund für diesen Höchststand seit 1945 nennt die Kirche das Bekanntwerden der teilweise Jahrzehnte zurückliegenden Missbrauchsfälle. Mit Stichtag 31. Dezember 2010 gab es rund 5,45 Mio. Katholiken in Österreich. Ein Jahr zuvor zählte die Kirche noch 5,53 Mio. Mitglieder. Die meisten Austritte gab es nach Angaben der Diözesen in der ersten Jahreshälfte.

Die große Erzdiözese Wien war naturgemäß mit den meisten Kirchenaustritten in absoluten Zahlen konfrontiert. Insgesamt 25.314 Personen traten aus, was einen Anstieg gegenüber dem Vorjahr von 53,2 Prozent bedeutet. Die höchste prozentuelle Steigerung verzeichnete die Diözese Gurk-Klagenfurt mit rund 94 Prozent. Allerdings hat sich die Kirchenflucht in Kärnten über die Jahre in Grenzen gehalten.

Schönborn: Zeichen neuer Freiheit

Überraschend drastische Worte hatte der Wiener Erzbischof Kardinal Schönborn im Dezember zur gegenwärtigen Situation in der katholischen Kirche gewählt: „Wir hatten seit der Nazi-Zeit nicht mehr so eine Austrittswelle.“ Schönborn sprach am Dienstag von einem „Zeichen neuer Freiheit“ und sieht eine Wende vom Traditonschristentum zum Entscheidungschristentum.

Er verwies im Gespräch mit dem Pressedienst der Erzdiözese Wien auch auf die Bedeutung des Kirchenbeitrags: „Man muss sich jedes Jahr entscheiden: Ist es mir wert, dabei zu sein, wenn ich die Einladung bekomme, meinen Solidarbeitrag für die Glaubensgemeinschaft zu zahlen?“ Zugleich betonte er, dass jeder einzelne Austritt „schmerzlich“ sei.

„Ursachen meist tiefer“

Der innerkirchliche Missbrauchsskandal habe die hohe Zahl an Kirchenaustritten im Jahr 2010 sicherlich mit bedingt, die Ursachen für einen solchen Schritt würden letztlich aber meist viel tiefer liegen, so Schönborn weiter. Schon 2009 waren 53.216 Katholiken aus der Kirche ausgetreten. Ein gewichtiger Grund dürfte damals die missglückte Ernennung des erzkonservativen Gerhard Maria Wagner zum Linzer Weihbischof gewesen sein.

Der Grazer Bischof Egon Kapellari zeigte sich in einer Aussendung „betroffen“. Er wies darauf hin, dass für nicht wenige Ausgetretene diese Entscheidung nur der letzte Schritt einer schon lange in Gang befindlichen Entfernung gewesen sei. Sie hätten den Eindruck, die Kirche werde heute nicht mehr gebraucht und habe wenig Relevanz für das eigene Leben. Kapellari: „Solche Entscheidungen haben wir zu respektieren.“

Aktion „Treten Sie ein“

In Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen in den Reihen der Kirche befürwortete der Bischof einmal mehr einen „radikal ehrlichen Umgang“. Wachsamkeit bleibe ein Dauerauftrag. „Ich hoffe inständig, dass die Kirche aus dieser Krise geläutert hervorgehen wird“, so Kapellari. Die Erzdiözese Salzburg will die verloren gegangenen Mitglieder indes aktiv zum Eintritt bewegen. Für das Frühjahr ist dort die Aktion „Treten Sie ein“ geplant, die in vielen Pfarrgemeinden durchgeführt wird.

Die Plattform „Betroffene Kirchlicher Gewalt“ sieht die Austrittswelle als „Solidaritätsbarometer mit Missbrauchsopfern, als starkes Zeichen der Zivilcourage der österreichischen Bevölkerung“. Für die Plattform „Wir sind Kirche“ trägt die Kirchenleitung die Verantwortung für die hohen Austrittszahlen. Diese verhindere Reformen, verweigere den Dialog und habe zudem Gewalt und sexuelle Übergriffe an Kindern vertuscht, hieß es am Dienstag. Die Plattform fordert eine „ernstzunehmende Ursachenforschung“ sowie abermals Reformen.

Erste Sparmaßnahmen

Seit Beginn der „konservativen Wende in Österreich“, also der Ernennung Hanns Hermann Groers zum Wiener Erzbischof, hätten rund eine Million Menschen der katholischen Kirche den Rücken gekehrt, erinnerte „Wir sind Kirche“. Aus „jährlichen Beteuerungen“, um jeden Austritt tue es der Kirchenleitung leid, würden keinerlei praktische Konsequenzen gezogen.
Finanzielle Konsequenzen haben die Austritte unterdessen allerdings: Mehr als 5,7 Millionen Euro entgehen der Kirche durch die Austrittswelle, berichtete das Ö1-Radio am Dienstag - mehr dazu in oe1.ORF.at. Die ersten Diözesen kündigten am Dienstag bereits Sparmaßnahmen an.

http://orf.at/stories/2035707/2035701/

Zuletzt geändert am 13­.01.2011