7.4.2011 - Süddeutsche Zeitung

Abschied im Zorn

Statistiken kann man schönreden, mancher aus der katholischen Kirche hat das gern getan, wenn die Kirchenaustrittszahlen kamen: Es gab schon schlimmere Zeiten, 1992, als 193.000 Katholiken ihrer Kirche den Rücken kehrten - und 361.000 Protestanten. Steigende Zahlen hatten auch meist ihren Grund in der bundesdeutschen Steuerpolitik. 1991 kam der Solidaritätszuschlag und kostete die Leute ungefähr so viel wie die Kirchensteuer, die Zahl der Austritte stieg. Auch 2009 hieß es, nicht die Debatte um die traditionalistischen Piusbrüder habe die Leute vermehrt aus der Kirche getrieben, sondern die Abgeltungssteuer. Es gehen nur jene, die sowieso gehen wollten, hieß die unterschwellige Botschaft.

All dies zählt nicht mehr. Es sind 2010 fast so viele Katholiken gegangen wie im Rekordjahr 1991 – 180.000, fast 40 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Und diesmal hat keine Steuerpolitik sie fortgetrieben, sondern der Skandal, dass so viele Männer der Kirche Kindern und Jugendlichen sexuelle Gewalt angetan haben, dass so lange dieser Kirche der Schutz der Institution wichtiger war als Hilfe für die Opfer und Konsequenz gegenüber den Tätern.

Die Austrittswelle ist das dramatischste Zeichen dieser Krise. Sie hat nicht nur den Rand der Institution erfasst, sie ist tsunamigleich bis zum Kern vorgedrungen zu den Treuen und Engagierten. Es geht nicht mehr nur, wer ohnehin gehen wollte. Es geht auch, wer gläubig ist, aber es satt hat, an seiner Kirche zu leiden. Und wendet sich hohnlachend ab, wenn nun die Bischöfe sagen, wir brauchen mehr Dialog, aber weh tun darf er nicht. Es sind nicht mehr, wie so viele Jahre zuvor, Abschiede aus Gleichgültigkeit. Es sind Abschiede im Zorn. (mad)

Zuletzt geändert am 08­.04.2011