16.5.2011 - www.pro-konzil.de

José Comblin: Das Problem der römischen Kirchenleitung

José Comblin (1923-2011) starb im März im Alter von 88 Jahren und gilt als einer der wichtigsten Befreiungstheologen. Autor vieler Bücher. Belgier von Geburt, lebte und arbeitete Comblin seit 1958 in verschiedenen Ländern Lateinamerikas: in Talca, Chile, zusammen mit Dom Larrain, in Riobamba, Ecuador, mit Dom Proaño, in Brasilien mit Dom Helder Câmara in Recife und Dom José Maria Pires in Paraiba und zuletzt mit Dom Cappio in Barra, wo er zuletzt lebte…

Wir danken Conrad Berning vom Projekt konzilsvaeter.de für das Zur-Verfügung-Stellen und die Übersetzung des Textes.


„Ich höre die Reformvorschläge, die mir entgegengebracht werden, um neue Formen für die Ausübung des Petrusamtes zu finden, welche einer neuen Situation gegenüber offen sein sollen, ohne dabei auf das Wesentliche seiner Mission zu verzichten“. (Johannes Paul II, Ut unum sint, 1995, Nr. 95)

In der Enzyklika Ut unum sint spricht Papst Johannes Paul II ein fundamentales Problem an, welches darauf hindeutet, dass er sich des Problems sehr wohl bewusst ist. Bereits Paul VI hatte seine diesbezüglichen Sorgen bekundet. Aber gar nichts ist auf Grund dieser Sorgen, die inzwischen zu Sorgen der ganzen Weltkirche geworden sind, geschehen. Die zentrale römische Kirchenleitung funktioniert nicht gut. Statt die Kirche in die neue Welt von heute hineinzuführen, bleibt sie in ihrer Vergangenheit stehen. So vieles müsste in der Kirche reformiert werden, damit sie Antworten auf die Nöte der Zeit geben könnte. Jedoch der Apparat der kirchlichen Leitung behindert jegliche Änderung. Das System steht Änderungen im Wege. Niemand hat die Macht, Entscheidungen zu treffen. Der Papst ist nicht in der Lage, notwendige Entscheidungen zu treffen. In folgenden Punkten wird das ein wenig deutlicher:

1. Die Papstwahl

Zunächst die Wahlberechtigten. Das gegenwärtige System entstammt Zeiten, in denen der Papst sich nur wenig außerhalb der Diözese Roms und der Nachbardiözesen einmischte. Die Kardinäle gehörten zum Klerus Roms und der Nachbarstädte. Heutzutage entscheidet der Papst über die ganze Welt und benötigt dazu eine große Verwaltung mit tausenden Angestellten. Der Papst sollte eigentlich gewählt werden von Vertretungen aller Kontinente. Die Kardinäle repräsentieren nicht einmal die Kirchen ihrer Länder, weil sie vom Papst selbst ausgesucht wurden. Sie repräsentieren keine einzige Ortskirche.

Wenn der Papst von einer wahren Vertretung der universellen Kirche gewählt würde, besäße er viel mehr Kraft, die ihm zum Rückhalt würde gegen die Macht der römischen Kurie. So jedoch macht er sich von der Kurie abhängig. Im Falle einer Wahl durch die Kirche, könnte er das Gewicht der Kirche in die Waagschale legen gegen das Gewicht der zentralen Verwaltung. Die Vorsteher der Bischofskonferenzen beispielsweise hätten mehr repräsentativen Charakter. So wie es jetzt läuft, sind sehr viele Kardinäle Angestellte der Kurie und vertreten keine einzige Kirche; sie sind nur Verwaltungsbeamte.

An zweiter Stelle das Wahlverfahren. Es gibt zwei Gruppen von Wahlberechtigten: die Kurienkardinäle. Sie kennen sich untereinander und bilden Geheimgruppen. Das sind diejenigen, die Intrigen schmieden für eine Papstwahl. Sie bilden Parteien und arbeiten hinten rum, damit ihre Partei gewinnt. Siehe die letzten Wahlen. Dann gibt es -neben diesen Kurienkardinälen- die Kardinäle von außerhalb. Die kennen sich nicht. Sie treffen im Konklave ein und kennen sich nicht. Sie wissen nichts von den Intrigen der Kurienkardinäle (mit deren Ratgebern!). Die Bischofskonferenz eines Landes weist bei (politischen) Wahlen die Katholiken darauf hin, ihre Kandidaten und deren Programme besser kennen zu lernen, so dass sie ihre Stimme sehr bewusst abgeben können. Jedoch die Kardinäle im Konklave haben keine Möglichkeit, sich ein eigenes Urteil zu bilden, weil sie weder die Kandidaten- noch deren Programme wirklich kennen.

Nach der Wahl von Johannes Paul II stellten wir die Frage an Kardinal Silva von Santiago de Chile, warum er seine Stimme dem polnischen Papst gegeben habe. Er sagte: „Wir kannten ihn nicht, aber man sagte uns, dass er ein guter Kandidat sei; also stimmten wir für ihn“. Würde ein Gläubiger so zu seinem Pfarrer sprechen, würde dieser ihm fehlende Aufklärung vorwerfen.

Wir wissen auch, wer es war, der ihn als guten Kandidaten darstellte. Es war Kardinal König, Erzbischof von Wien, Österreich. König genoss einen guten Ruf und als kluger Mann hatte er ein großes internationales Ansehen. Aber er war sehr dem Opus Dei verbunden, welches eine große Wahlkampagne gemacht hatte. Wir wissen, dass er es war, weil er selbst vor seinem Tod bedauerte, es getan zu haben. Kardinal Silva wusste nicht, dass der polnische Kardinal ein Gegner des Zweiten Vatikanischen Konzils war.

Die Wahlberechtigten müssen Zeit zum gegenseitigen Kennenlernen haben, um zu wissen, wer die von ihren Kollegen vorgeschlagenen Kandidaten sind und welche Programme diese haben. Wenn das alles schon bei normalen Volkswahlen als Voraussetzung gilt, sollte man meinen, dass in der Kirche diese Forderungen natürlichen Rechts noch viel mehr Gültigkeit besäßen. In der Praxis jedoch geben die Kardinäle ein Vertrauensvotum ab, also genau das, was sie bei politischen Wahlen missbilligen. Der Wähler weiß nicht, was- und wie derjenige denkt, dem er seine Stimme gibt. Nur gut, dass unser gläubiges Volk nicht weiß, wie es bei der Papstwahl zugeht. Es würde sich dafür schämen! Ich verstehe, dass die Bischöfe sich darüber in Schweigen hüllen. Aber diese Situation darf so nicht weiter gehen. Am schlimmsten noch, wenn behauptet wird, dass der Hl. Geist die Wahl lenkt. Wir wissen doch all zu gut, was geschehen ist, und es gab keinen einzigen Moment des sichtbaren Wirkens des Hl. Geistes. Warum werden die Gläubigen getäuscht, als seien sie alle unmündige Kinder?

2. Die De-Zentralisierung

Eine zentralisierte Verwaltung will unvermeidlich ihre eigene Macht verteidigen und vermehren. Solche Zentralverwaltung sucht an erster Stelle ihr eigenes Wohlergehen, und das bedeutet die Verstärkung ihrer Macht: mehr Gesetze müssen her, mehr Verpflichtungen, mehr Formulare, mehr Papier, mehr „Notwendiges“.

In der Kirche ist das nicht anders. Die Verwaltung zieht immer mehr Macht an sich. Das Wohl der Kirche ist nur ein Vorwand. Das gehört zur menschlichen Natur, und selbst wenn alle Angestellten der Kurie Heilige wären, würde das Problem fortbestehen. Es wäre noch schlimmer, weil, wenn sie heiliger wären, würden sie noch mehr arbeiten wollen und würden den anderen auch noch mehr abverlangen. Das Prinzip der Subsidiarität gilt für alle Menschen, und wenn jemand zu Priester oder Bischof geweiht wird, ändert sich seine menschliche Natur nicht. Notwendig ist, zu de-zentralisieren: Bischofsernennungen, das kanonische Recht, die Liturgie, die Ausbildung der Kleriker, die Organisierung der Unterweisung, die Werke der Nächstenliebe und andere Werke. All das, zum Beispiel, kann organisiert werden in jedem Kontinent oder in jedem kulturellen „Raum“. In den ersten Jahrhunderten war die Kirche organisiert in Patriarchaten, das waren kulturell zusammenhängende Lebensräume. Die Existenz innerhalb der katholischen Orthodoxie verschiedener orientalischer Riten zeigt, dass das sehr gut funktionieren kann. Die derzeitige Zentralisierung ist ein Ergebnis rein historischer Begebenheiten.

Das heutige System in der Kirche ist immer noch die Fortsetzung der Kolonialisierung. Als Johannes Paul II zur lateinamerikanischen Generalversammlung der Bischöfe nach Puebla kam, verurteilte er die Basisgemeinden, verurteilte er die Bibelbewegung, verurteilte er die lateinamerikanische Theologie. Als Folge: in den 30 Jahren kehrten allein in Brasilien 30 Millionen Katholiken der katholischen Kirche den Rücken zu, um sich anderen Kirchen und Pfingstbewegungen zuzuwenden, Ergebnis der von Rom auferlegten Pastoral. Der Papst hörte auf jene Ratgeber, die ganz klar abgesteckte politische Intentionen hatten. Er hatte kein Ohr für andere und ließ sich nicht von mehr repräsentativen Vertretungen beraten. Er dachte, das Problem wäre der Kommunismus, aber um den Kommunismus ging es gar nicht. Er hätte die Möglichkeit gehabt, bessere Informationen zu bekommen. Einige hätten ihn informieren könnten, dass Lateinamerika nicht Polen sei und noch weniger Europa. Wir standen da und mussten zusehen, was geschah. Es war uns nicht die Möglichkeit gegeben, uns einzubringen. Kardinal Aloisio Lorscheider hatte einen klaren Kopf und erkannte immer umgehend, was da geschah. Er versuchte zu retten, hatte aber zu wenig Gewicht und besaß nicht das Vertrauens des Papstes.

3. Diktatur

Ein Regierungssystem, in dem eine einzige Person alles alleine entscheidet, ohne die Möglichkeit des Einbringens einer öffentlichen Debatte und ohne stimmberechtigte Instanzen, nennt man Diktatur. Ein System, welches die wahren Beweggründe seiner Entscheidungen verbirgt, entspricht ganz sicher nicht den Erfordernissen des natürlichen Rechtes. Die Bürger haben ein Recht auf Transparenz der getroffenen Entscheidungen. Zum Beispiel, als Paul VI die künstlichen Empfängnisverhütungsmittel verbot, erfuhr niemand, dass die konsultierten Kardinäle in ihrer Mehrheit anderer Meinung waren, und auch die eigens durch den Papst ernannten Studienkommissionen hatten anders gestimmt. Ich erinnere mich noch gut an die darauf folgenden Kommentare meines damaligen Bischofs, Kardinal Suenens.

Und dann noch dies: eine Generation später ergeht vom Rat für die Familie eine Mitteilung an die Bischöfe. Darin heißt es, dass bei einer Beichte keine Fragen an den reuigen Menschen über dessen Praxis bei der Geburtenbeschränkung gestellt werden dürfen. Wenn keine Fragen gestellt werden dürfen, wird es also folglich nicht mehr als Sünde betrachtet. Der Kurienkardinal Afonso Lopez Trujillo selbst hatte diesen geheimen Widerruf der Enzyklika Humanae Vitae den Bischöfen mitzuteilen. Aber warum macht man das alles nicht öffentlich? Die Mehrheit der Katholiken weiß bis heute nicht um diese Aufhebung, auch wenn das Verbot sie wenig interessiert. Die Katholiken kennen die Methoden der römischen Kurie nicht. Sie wissen nicht, dass niemals der Widerruf einer vorher getroffenen Entscheidung öffentlich gemacht wird. Stattdessen das Verbot „weiterer Fragen“ an den Beichtenden.

Bis zum Papst Benedikt XIV im 18. Jahrhundert hatte man niemals die Verurteilung von Zinsgewinnen aus Geldanlagen widerrufen, womit ja verboten war, dass Katholiken in Banken arbeiteten. Aber der Papst sagte damals den Beichtvätern, es sollten diesbezügliche Fragestellungen fortan unterbleiben.

Warum gibt man nicht zu, dass jetzt die Autorität anders entscheidet? Warum dürfen die Frauen nicht wissen, dass die Kirche nicht mehr die künstlichen Mittel zur Geburtenkontrolle verdammt? Viele glauben immer noch, dass die Kirche sie weiterhin verurteilt und als Sünderinnen ansieht. Das sind Praktiken aus Diktaturen. In einer Diktatur irrt die Regierung nie. Nie gibt sie einen Irrtum zu. In der Kirche gibt man ihn erst nach vier Jahrhunderten zu. Gäbe es mit-beratende und mit-entscheidende Gremien, würden viele Irrtümer verhindert und später gäbe es keine Schwierigkeiten, Fehler einzuräumen.

So lange diese Reformen nicht stattfinden, wird es keinerlei andere pastorale Reformen geben können. Alles hängt von der Zentrale ab, alles hängt vom Papst ab. Paul VI wusste das, und Johannes Paul II wusste es auch. Vom jetzigen Papst wissen wir noch nicht, wie er dazu steht. Aber es sieht nicht danach aus, als denke er diesbezüglich anders als sein Vorgänger.

Es ist nicht eine Frage der Heiligkeit. Papst Pius X war ein Heiliger. Aber er beging kolossale Fehler in Bibelfragen, welche großenteils heute die aktuellen Probleme der Kirche inmitten der Welt erklären! Das Problem ist, dass der Papst auch nur Mensch ist und die gleichen Begrenzungen der menschlichen Natur hat. Menschliche Intelligenz erschuf Regierungsgebilde, zugeschnitten auf diese menschliche Begrenztheiten. Jesus machte sich für kein einziges Regierungssystem stark. Und wir leben nicht mehr in der Zeit Gregors VII. Das Problem besteht darin, dass alles abhängig ist von einer einzigen Person!

Die Reformen können Jahrhunderte dauern, wenn nicht eines Tages ein Papst auftritt, der die Entscheidung selbst in die Hand nimmt, diese Art der obersten Kirchenleitung des Petrusdienstes zu ändern. Prinzipiell müsste es ein jüngerer Mensch sein. Schluss mit dem Vorurteil, dass ein älterer Mann besser ist, weil er dann nicht so lange an der Spitze steht. Es gäbe für die Papstdauer ein anderes Kriterium: der Papst könnte die gleiche Altersgrenze für sich beanspruchen, die er auch den Bischöfen auferlegt. Früher wurden die Menschen nicht so alt, sie lebten wenige Jahre, im Schnitt um die 30. Heute ist das auf 80 und mehr gestiegen. Es ist nicht normal, dass eine so komplexe Institution wie die Kirche noch von einem alten Mann mit über 80 geleitet wird.

Wie viele Gläubige unserer Kirche denken so. Vielleicht sind sie weiser als ich, wenn sie sich damit abfinden, dass sie ja doch nichts ändern können und es wohl besser ist, keine Energie zu verschwenden mit einem Fall, der von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist. Mich tröstet allerdings, dass ich doch nicht alleine da stehe. Es gibt viele, die diese Dinge auch schreiben.

(Übersetzung aus dem Portugiesischen: Conrad Berning)

Einen Artikel über José Comblin finden Sie au f http://www.itpol.de/?p=461

http://www.pro-konzil.de/?p=409

Zuletzt geändert am 20­.05.2011