22.1.2013 - Main-Post

Gastbeitrag von Bernhard Rasche: Opfer werden nicht gehört

Ein Betroffener über die Aufklärungspraxis der katholischen Kirche bei Missbrauchsfällen

Der aktuelle Streit um die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der Kirche macht mich sprachlos und wütend. Wütend machen mich vor allem die Ausführungen des Würzburger Bischofs Friedhelm Hofmann. Er spricht von transparenter Aufarbeitung, von einem beispiellosen finanziellen Entgegenkommen. Das ist lächerlich, wenn man bedenkt, dass ein Opfer einmalig 4000 Euro Entschädigung bekommt und der Täter ein Ruhestandsgehalt von monatlich 6000 Euro. Ein Missbrauchsopfer bekommt nicht formlos eine Entschädigung oder einen Zuschuss für eine Therapie. Man muss einen Fragebogen ausfüllen und seinen Therapieplan offenlegen. Das ist absolut unzumutbar. Mein Therapieplan geht niemanden etwas an. Soviel zum Thema Datenschutz, der der Kirche ja angeblich so wichtig ist. In Wahrheit geht es ihr dabei nicht um den Schutz der Opfer, sondern um den der Täter.

Abgründe tun sich auf

Zudem sorgt sich die Kirche nicht wirklich um unser Wohl. Ich spreche hier nicht von harmlosen Befindlichkeiten, sondern von Menschen, deren Leben kaputtgemacht worden ist. Von Kindern, die erst als Erwachsene merken, woher ihre Ängste, ihre Probleme, ihr Scheitern kommen. Manchmal braucht es nur einen kleinen Anlass, und sie brechen komplett zusammen. Dann tun sich plötzlich Abgründe auf.

Wir reden hier über Verbrechen. Nicht über empfindliche Zeitgenossen und ihr Unvermögen, Dinge vergessen zu können. Wir sprechen über Menschen, deren Leben und Zukunft in der Kindheit zerstört wurden. Über Menschen, die sich das Leben nehmen wollten – und es getan haben. Über Menschen, die auch nach 30 Jahren nicht darüber sprechen können, was ihnen widerfahren ist. Verstummt durch grenzenlose Scham, durch Angst vor Repressalien, wenn sie im Dienst der Kirche stehen. Es sind keine Einzeltäter, es sind keine Einzelfälle, von denen wir hier reden. Dazu gibt es viel zu viele Opfer. Wenn die Kirche glaubt, es reiche, sich von Forensikern bestätigen zu lassen, dass der Zölibat nicht unmittelbar im Zusammenhang steht mit pädophilen Handlungen, dann ist das der völlig falsche, ja, ein irreführender Ansatz. Es geht nicht um Pädophilie. Es geht um Macht. Und um Machtmissbrauch. Schutzbefohlene wurden nicht nur sexuell missbraucht. Sie wurden auch brutal zusammengeschlagen. Der Supergau für die Kirche ist doch nicht das Leid, das sie den Menschen zugefügt hat. Der Supergau war der befürchtete Machtverlust. Und jetzt, bei der Aufarbeitung, geht es um einen Machterhalt um jeden Preis. Wir Opfer werden abgespeist mit spärlichen Gesprächen, bei denen es nie um die Struktur des Geschehenen oder um Mitwisserschaft geht. Dabei wünschen wir uns Gespräche, die von der Sorge um uns als Menschen getragen sind, Gespräche, die vermitteln, wir sind bedingungslos bei dir, wir sind und bleiben an deiner Seite, wir teilen dein Leid. Es geht stattdessen immer nur darum, zu verzeihen. Das nutzt uns nichts. Und es bringt die Aufarbeitung keinen Schritt weiter. Im Gegenteil. Den Opfern wird eine weitere Last aufgebürdet. Erst wenn du verzeihst, können sich alle wieder lieb haben. Das ist pervers. Und dient nur dem Wohl der Kirche, in keinster Weise entlastet es die Opfer.

Ich spreche aus Erfahrung. Ich war zwölf Jahre alt, als der Missbrauch begann. Er fand in den Schlafsälen statt. Wir waren zu neunt im Saal und fast jeden Abend kam der Pater Präfekt zu uns und begann unter die Decken zu greifen. Blieb man verschont, dann wurde man Zeuge vom Missbrauch des Bettnachbarn. Wir haben es alle gewusst. Keiner hat etwas gesagt. Geschlagen wurde auch. Zum Teil krankenhausreif. Spätestens, als ein Junge ins Krankenhaus musste, wusste die Ordensleitung Bescheid. Doch niemand hat etwas unternommen. Mehr noch: Bis heute weigern sich die im Orden Verantwortlichen, Verantwortung für uns zu übernehmen. Meine Anzeige des Missbrauchs 2008 führte zu neuem Leiden: Keines der Opfer wurde von der Untersuchungskommission gehört. Die Bitten der Opfer um ein Treffen mit anderen Betroffenen wurden abgelehnt. Aus Gründen des Datenschutzes. Meine Bitte um die Übersendung des Untersuchungsberichts: abgelehnt. Der Missbrauch in Lebenhan ging über zehn Jahre und er war systematisch. Missbrauch wird immer wieder geschehen, und das ist schlimm genug. Was aber nicht geschehen durfte, nie geschehen darf, ist, dass die Verbrechen und die Verbrecher den Schutz des Ordens genießen.

Leitlinien unzureichend

Meine Bitte damals an den Bischof von Würzburg um ein Wort und um Seelsorge: abgelehnt. Meine Bitte an die Diözese Würzburg nach Seelsorge: abgelehnt. Und immer wieder: Wir sind nicht verantwortlich. Auch in den Leitlinien, die die Bischofskonferenz verabschiedet hat, spielen die Opfer keine Rolle. Die Verfahren können in Gänze ohne die Beteiligung von Opfern durchgeführt und abgeschlossen werden.

Zu meinen Forderungen an die Kirche gehören neue Leitlinien, die in konkretem Handeln münden: Keine Beförderung von Personen, die sich durch Schweigen, Ignorieren, Vertuschen oder mehr an Menschen schuldig gemacht haben, ein Täter-Opfer-Ausgleich und eine grundsätzliche Übernahme aller Behandlungskosten ohne Formulare. Es muss zudem klar benannt werden, dass es hier um „strukturelle Sünde“ geht, in der die ganze Kirche verwoben ist.

Und die Hinweise müssen aufhören, dass der Missbrauch in der Kirche nicht viel anders sei als anderswo. In meiner Bibel geht Jesus dem verlorenen Schaf nach und verweist nicht darauf, dass in anderen Herden auch Tiere verloren gehen. Wenn die Kirche sich nicht auf die Seite der Opfer stellt und die Gerechtigkeit und die Barmherzigkeit des Mannes aus Nazareth nicht zur eigentlichen Handlungsmaxime macht, ist sie nicht Kirche! Sondern bestenfalls eine Versicherungsgesellschaft mit einem sehr hohen Restrisiko.

Bernhard Rasche

Der Diplom-Theologe Bernhard Rasche, Jahrgang 1958, stammt aus Bischofsheim in der Rhön. Rasche wohnt heute in Neumarkt in der Oberpfalz und arbeitet in der Softwareentwicklung. Mit zwölf Jahren kam er ins Internat Lebenhan (Bad Neustadt an der Saale), wo er von einem Präfekten sexuell missbraucht wurde. Rasche hat den Missbrauch 2008 beim Bistum Würzburg und beim Orden der „Missionare der heiligen Familie“ angezeigt. Der beschuldigte Pater hat gestanden, 16 Schüler missbraucht zu haben. Er wurde des Amtes enthoben, durfte aber unter Auflagen im Orden verbleiben. FOTO: Melanie Jäger

Von unserem Gastautor Bernhard Rasche

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Zuletzt geändert am 23­.01.2013