7/8. Juli 2001 - Süddeutsche Zeitung

Ratzingers Lerche

In dem Augenblick, als Kardinal Michael von Faulhaber ihm die Hände auflegte, entsinnt sich Ratzinger, habe er
"ein Vöglein - vielleicht eine Lerche - vom Hochaltar des Doms aufsteigen sehen, die ein kleines Jubellied trällerte. Das war mir doch wie ein Zuspruch von oben: Es ist gut so, du bist auf dem rechten Weg."

"Wissenschaftlicher Kommentar"

Der religionsgeschichtliche Kontext (katholisch-kirchliche Berufungstradition im Rahmen einer mysterisch-sakramentalen Priesterkonzeption) und der interne Kotext (Zuspruch von oben) legen es nahe, bei dem erwähnten "Vöglein" an den Heiligen Geist zu denken, der neutestamentlich (Taufe Jesu!) mit einer Vogelgestalt (Taube) verbunden ist.
Die vom Betroffenen selbst eingeführte, alternative Deutung ("eine Lerche") hat nur potentiellen Charakter ("vielleicht") und ist nicht weiter zu verfolgen, da die Lerche als Symbol in einen anderen Assoziationsraum verweist.
So steht in Shakespeares "Romeo und Julia" die Lerche für das Ende der Liebesnacht (3. Akt, 4. Szene), was im beschriebenen Kontext kaum passend wäre – doch nicht Ratzinger! Nein! - Erklären lässt sich der Verweis auf die Lerche als (eher spielerischer) Demutsgestus, der gerade in seinem Wegweisen auf das Lerchenmotiv die Rezipienten auf das implizit gegebene Motiv der Geist-Taube hinweist.
Diese höchst kunstvolle, ja verfeinert- poetische Konstruktion weist freilich aus bibelwissenschaftlicher Sicht eine schwere Störung auf:
Immer dort, wo der göttliche Geist gegeben wird, kommt die Vogelgestalt herabsteigend von oben (vgl. Mk 1,10; Mt 3,16; Lk 3,22; Joh 1,32). Im vorliegenden Erinnerungstext liegt eine gegenläufige Vogelbewegung ("aufsteigen") vor, die neutestamentlich-exegetisch höchst problematisch erscheint, ja eine crux interpretum darstellt.

Quelle: http://www.uni-bayreuth.de/departments/kath-theologie1/quer.htm

Zuletzt geändert am 28­.07.2007