14.9.2018

Wunibald Müller: "Missbrauch ist nicht wiedergutzumachen"

Wunibald Müller über die Missbrauchsstudie und den Zölibat als Risikofaktor

Deutliche Worte findet der Würzburger Theologe Wunibald Müller zu den vorab
bekannt gewordenen Ergebnissen der Missbrauchsstudie, die 2014 von der
Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegeben wurde. Der Psychotherapeut,
der bis 2016 Leiter des Recollectio-Hauses der Abtei Münsterschwarzach (Lkr.
Kitzingen) war, fordert "eine echte Entschuldigung" der Bischöfe. Er weiß
jedoch, dass das alleine nicht hilft.

Frage: Sie haben 25 Jahre lang als Psychotherapeut Geistliche und kirchliche
Mitarbeiter betreut, kennen ihre Sorgen und Nöte. Was sagen Sie zum Ausmaß
sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche?

Wunibald Müller: Die Anzahl der Opfer und Täter ist erschreckend. Sie bestätigt,
dass Opfer zur Verschwiegenheit aufgefordert und Täter in eine andere Pfarrei
versetzt wurden. Die Studie belegt die systematische Vertuschung der Kirche -
die sie nun nicht mehr abstreiten kann.

Das Gesamtergebnis wird erst am 25. September bei der Herbst-
Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda vorgestellt.
Müller:
Gespannt bin ich, zu welchen Ergebnissen die Studie bei der
Fragestellung kommt, inwieweit institutionelle Gegebenheiten den Missbrauch
erleichtert oder gefördert haben. Dazu zählt zum Beispiel das hierarchische
System der Kirche. Zugleich habe ich meine Zweifel, ob das Forscherteam die
entsprechende Kompetenz hat, diese Gegebenheiten wirklich zu
durchschauen. Hier müssen auch theologische Vorstellungen mitgedacht
werden, die hinter einem klerikalen Verhalten beziehungsweise Klerikalismus
stehen.

Steckt hinter Missbrauch vor allem Machtverhalten?
Müller:
Ja. Man spricht heute deshalb auch eher von sexualisierter Gewalt. Der
Täter missbraucht seine Vorrangstellung, seine Macht, seinen Einfluss, um
seine Bedürfnisse zu befriedigen und Kontrolle über andere auszuüben.

Was sind weitere Risikofaktoren?
Müller:
Der Zölibat zählt für mich dazu, aber es ist sicher kein Grund für
sexuellen Missbrauch. Wenn ein Priester den Zölibat aber so versteht, dass
Sexualität damit in seinem Leben keine Rolle mehr spielt und er dieses Thema
dementsprechend vernachlässigt und es keine Auseinandersetzung mit ihr
gibt, kann sie ein Risikofaktor sein. Die Sexualität lässt sich nicht verdrängen,
sonst setzt sie sich in all ihrer Unreife in Szene.

Missbrauch ist auch ein Ergebnis von Unreife?
Müller:
Zumindest auch. Die Sexualität ist dann oft auf Stufe eines
Jugendlichen stehen geblieben. Sie können sie nicht kontrollieren. Außerdem
geht ihnen die Empathie ab, die sie davon abhalten könnte, anderen sexuelle
Gewalt anzutun.

Oft wird Homosexualität in der katholischen Kirche mit Missbrauch in
Verbindung gebracht.
Müller:
Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Homosexualität und
Missbrauch - mit einer Ausnahme: Die Tabuisierung der Homosexualität in der
Kirche kann dazu führen, dass unter den relativ vielen homosexuellen Priestern
sich die meisten nicht damit auseinandersetzen, also klar dazu stehen, dass
sie schwul sind. Diese Gruppe könnte in besonderer Weise dazu neigen,
Jugendliche sexuell zu missbrauchen.
Also brauchen alle Priesteramtskandidaten, ob hetero- oder homosexuell, auch
Aufklärungsunterricht?
Müller:
Sie müssen sich mit ihrer Sexualität auseinandersetzen. Vielleicht noch
mehr als Personen, die ihre Sexualität ausleben können. Nur so kommen sie in
die Lage, über ihre Sexualität und deren Gestaltung verfügen zu können. Und
nicht von ihrer Sexualität beherrscht zu werden.
Homosexuelle sind von der Weihe ausgeschlossen.
Müller:
Wenn es die katholische Kirche ernst meint mit der Prävention, dann
dürfen schwule Männer, die sich mit ihrer Sexualität auseinandergesetzt haben,
natürlich zu Priestern geweiht werden. Deshalb muss jene Passage in dem
vatikanischen Dokument "Das Geschenk der Berufung zum Priestertum"
gestrichen werden, in der die Zulassung von homosexuellen Männern zum
Priestertum untersagt wird.

Was erwarten Sie noch von der katholischen Kirche?
Müller:
Sie muss Konsequenzen ziehen und sich grundlegende Fragen stellen
wie: Fühlt sie sich auf dem richtigen Weg, zum Beispiel mit den Richtlinien und
der Präventionsordnung? Werden strukturelle Veränderungen überlegt? Es
muss eine offene Auseinandersetzung darüber geben, ob sexualisierte Gewalt
durch den Zölibat, die negative Einstellung zur Homosexualität und den
Klerikalismus gefördert wird.

Glauben Sie an Veränderungen?
Müller: I
ch glaube, dass es erneut wichtig sein wird, dass sich die Bischöfe, die
sich bislang nicht um die Opfer gekümmert und Täter einfach versetzt haben,
sich bei den Opfern entschuldigen. Es geht dabei nicht nur um eine
Entschuldigung für die sexuelle Gewalt, sondern für den Machtmissbrauch, der
durch Bischöfe, die sexuellen Missbrauch im Kontext der Kirche vertuscht
haben, ausgeübt wurde. Sie haben möglicherweise mit ihrem Verhalten dazu
beigetragen, dass die Täter weiterhin Kindern, Jugendlichen, erwachsenen
Schutzbefohlenen großes Leid zufügen. Auch geht es um Reue - bei Bischöfen
wie bei Tätern. Aber ich frage mich, ob die Bischöfe schon so weit und bereit
sind, Konsequenzen zu ziehen.

Erika Kerstner von der ökumenischen Arbeits- und Selbsthilfegruppe
"GottesSuche" meinte in einem Gespräch mit dieser Redaktion, dass Opfer
Entschuldigungen nicht mehr glauben können.
Müller:
Ich kann sie verstehen. Eine echte Entschuldigung muss mit einer
Wiedergutmachung einhergehen. Was aber an Furchtbarem im
Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch geschehen ist, ist nicht wieder
gut zu machen. Notwendig ist die Bitte um Vergebung. Und dann alles
menschlich Mögliche zu tun, was an finanzieller, menschlicher,
psychologischer und spiritueller Unterstützung zur Verbesserung der Situation
der Opfer beiträgt.

Zuletzt geändert am 14­.09.2018