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Sensus fidelium: Der Glaubenssinn des ganzen Gottesvolkes: Fromme Floskel oder erfahrbare Wirklichkeit?

von Sabine Demel

"So schön diese Formulierung klingt, so ineffektiv ist sie! Oder wo ist denn in der katholischen Kirche von diesem sog. Glaubenssinn aller etwas zu spüren? In der katholischen Kirche gibt doch nicht die Stimme des ganzen Gottesvolkes den Ausschlag, sondern Papst, Bischof und Pfarrer bestimmen, wo es lang geht und wie es zu funktionieren hat! Die Rede vom "Glaubenssinn des ganzen Gottesvolkes" ist also nichts anderes als eine schöne Floskel, die zu nichts taugt!" - Solche skeptischen Töne sind nicht selten in der katholischen Kirche zu hören. Sie sind die eine Seite. Die andere Seite lautet ganz entgegengesetzt. Für sie ist der "Glaubenssinn des ganzen Gottesvolkes" gleichsam ein Reizwort. Denn sie sieht darin eine Art kämpferische Parole, die von bestimmten Gruppen in der Kirche instrumentalisiert wird, um unter dem Etikett "Ausdruck des Glaubenssinnes" entweder der eigenen Meinung mehr Gewicht zu verleihen oder über Glaubensinhalte nach dem Mehrheitsprinzip abstimmen zu wollen.

Der Glaubenssinn des ganzen Gottesvolkes – nur eine fromme Floskel ohne jegliche Auswirkung auf das innerkirchliche Leben? Oder ein missbrauchtes Instrumentarium, um die Kirche nach weltlichen Vorstellungen von Machtverteilung, Demokratie und Mehrheitsverhältnissen umzustrukturieren? Wo liegt hier die Wahrheit?

1. Wo liegen die theologischen Wurzeln der Lehre vom Glaubenssinn des ganzen Gottesvolkes?

Sie liegen in der Tatsache, dass die Kirche einen doppelten Ursprung hat, nämlich Ostern und Pfingsten.

Die Kirche gründet in den Oster-Erscheinungen des Auferstandenen vor seinem vorösterlich gesammelten Jüngerkreis und zugleich in den Pfingst-Erfahrungen der Urgemeinde, den Gottesgeist zu empfangen, der zu einer neuen Sammlungsbewegung Gottes beruft. Die Kirche hat dadurch bleibend eine christologische und eine pneumatologische Dimension. Die christologische Dimension wird in besonderer (nicht: in ausschließlicher) Weise durch das geweihte Amt in der Kirche repräsentiert, die pneumatologische Dimension in besonderer (nicht: ausschließlicher) Weise durch die Vielzahl und Vielfalt der Geistbegabungen, der sog. Charismen in der Kirche. Beide Dimensionen gehören zusammen.

2. Was besagt die Lehre vom Glaubenssinn des ganzen Gottesvolkes?

In dem zentralen Dokument des II. Vatikanischen Konzils über das Wesen der Kirche "Lumen gentium" wird in Kapitel 12 Folgendes dargelegt:

"Das heilige Gottesvolk nimmt auch teil an dem prophetischen Amt Christi, in der Verbreitung seines lebendigen Zeugnisses vor allem durch ein Leben in Glaube und Liebe, in der Darbringung des Lobesopfers an Gott als Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen (vgl. Hebr 13,15). Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben (vgl. 1 Jo 2,20 u. 27), kann im Glauben nicht irren. Und diese ihre besondere Eigenschaft macht sie durch den übernatürlichen Glaubenssinn des ganzen Volkes dann kund, wenn sie von den Bischöfen bis zu den letzten gläubigen Laien ihre allgemeine Überzeugung in Sachen des Glaubens und der Sitten äußert. Durch jenen Glaubenssinn nämlich, der vom Geist der Wahrheit geweckt und ernährt wird, hält das Gottesvolk unter der Leitung des heiligen Lehramtes, in dessen treuer Gefolgschaft es nicht mehr das Wort von Menschen, sondern wirklich das Wort Gottes empfängt (vgl. 1 Thess 2,13), den einmal den Heiligen übergebenen Glauben (vgl. Jud 3) unverlierbar fest. Durch ihn dringt es mit rechtem Urteil immer tiefer in den Glauben ein und wendet ihn im Leben voller an."

Mehrere Aspekte sind hier bedeutsam:

1. Der Glaubenssinn wird auf das Wirken des Heiligen Geistes zurückgeführt. Deshalb gilt: Wie das Wirken des Heiligen Geistes eine nie gänzlich zu fassende Wirklichkeit ist, so auch der Glaubenssinn. Er ist somit auf jeden Fall mehr bzw. etwas anderes als nur die Meinung der Mehrheit.

2. Adressat des Glaubenssinnes ist nicht der/die einzelne Gläubige, sondern das Gottesvolk in seiner Gesamtheit. Damit wird zum Ausdruck gebracht: Der Glaubenssinn kann sich erstens nur in der Gemeinschaft der Glaubenden wesensgerecht entfalten und er ist zweitens wesentlich Sinn der Gläubigen, so dass das Miteinander das entscheidende Medium seiner Verwirklichung ist.

3. Es wird betont, dass der Glaubenssinn des Gottesvolkes auf die Leitung des kirchlichen Lehramtes angewiesen ist. Doch es wird nichts über die Zuordnung des Glaubenssinnes des ganzen Gottesvolkes zu der spezifischen Funktion des kirchlichen Lehramtes im Hinblick auf den Glaubenssinn ausgesagt. Als zwei Eckdaten können wohl gelten, dass das kirchliche Lehramt einerseits den Glaubenssinn nicht erst bewirkt, sondern vielmehr ermitteln muss, und andererseits als kritische Instanz die verschiedenen Glaubensäußerungen auf die Identität und Authentizität des Glaubens hin zu überprüfen hat (vgl. LG 12,2). Somit ist der Glaubenssinn einerseits neben Lehramt und Theologie eine eigenständige Erkenntnis- und Bezeugungsinstanz des Glaubens und ist zugleich auf die Überprüfung seiner Echtheit durch Lehramt und Theologie angewiesen.

4. Der Glaubenssinn führt zum Glaubenskonsens, also der sensus fidelium zum consensus fidei. Der Heilige Geist als Wirkprinzip des Glaubenssinnes wird nämlich die Übereinstimmung der Glaubenden im Glauben wachsen lassen. Dieser Wachstumsprozess wird in der Regel auch Spannungen, Meinungsverschiedenheiten und Streit beinhalten. Doch am Ende wird der Konsens stehen! Denn der Kirche ist verheißen, dass die Gesamtheit der Gläubigen nicht in die Irre gehen kann.

5. Die dezidierte Aussage des Konzils, dass "die Gesamtheit der Gläubigen … im Glauben nicht irren [kann]", macht in aller Klarheit deutlich, dass die Irrtumslosigkeit bzw. Unfehlbarkeit der Kirche eine Eigenschaft der Gesamtheit ist und nicht nur und nicht primär eine Eigenschaft des Papstes. Deshalb gilt: Die Kirche ist nicht unfehlbar, weil sie einen unfehlbaren Papst hat, sondern der Papst ist unfehlbar, wenn er und insoweit er den Glauben der Kirche verbindlich vorträgt. Folglich ist jede lehramtliche Entscheidung und Verkündigung auf einen Prozess der gemeinsamen Entscheidungsfindung und damit auf einen Dialog mit den Gläubigen verwiesen und angewiesen.

3. Wie ist die Lehre vom Glaubenssinn des ganzen Gottesvolkes in der Kirche rechtlich umgesetzt und abgesichert?

Im höchsten Maße unbefriedigend. Mehrere Belege können dafür angeführt werden:

1. Die Lehre vom Glaubenssinn des ganzen Gottesvolkes wird nur an einer einzigen Stelle angedeutet, und dazu noch in einem verkürztem Sinn. Innerhalb des Verkündigungsrechts ist in c.750 §1 davon die Rede, dass das universale und ordentliche Lehramt der Kirche offenkundig gemacht wird "durch das gemeinsame Festhalten der Gläubigen unter der Führung des heiligen Lehramtes". Mit dieser Formulierung wird der Eindruck vermittelt, dass die Gläubigen "von oben" über die Wahrheit des Glaubens belehrt werden, ohne dass vorher auch ein Hören auf das "von unten" und damit ein wechselseitiger Prozess zwischen Lehramt und Gottesvolk stattgefunden hat.

2. Die sog. Gremien der Mitverantwortung des ganzen Gottesvolkes wie z.B. Pfarrpastoralrat, Diözesanpastoralrat sind rechtlich unzureichend konzipiert. Denn für alle diese repräsentativen Einrichtungen des Glaubenssinnes ist ausschließlich eine Mitwirkung in der Form der Beratung vorgesehen. Damit ist ein Kommunikationsprozess von Papst, Bischof oder Pfarrer mit dem jeweiligen ihm zur Leitung anvertrauten Volk Gottes rechtlich nicht abgesichert, sondern hängt vom guten Willen des jeweiligen Papstes, Bischofs und Pfarrers ab.

3. Auch die rechtliche Ausgestaltung der kirchlichen Dienste und Ämter spiegelt die Lehre über den Glaubenssinn aller Gläubigen nicht wider. Fast alle Dienste und Ämter sind auf die Kleriker ausgerichtet und stehen nur in Ausnahmefällen – vor allem in Zeiten des Priestermangels -- den anderen Gläubigen offen.

4. Ebenso kommt der Glaubenssinn des Gottesvolkes fast überhaupt nicht bei der Besetzung wichtiger Ämter in der Kirche (wie z.B. Pfarr-, Bischofs-, Papstamt) zum Tragen, da hier Laien höchstens eine Mitwirkung in der Form der Beratung zugestanden wird.

4. Welche rechtlichen Reformen sind für die Lehre vom Glaubenssinn des gesamten Gottesvolkes notwendig?

Zum einen sind Begriff und Inhalt des "Glaubenssinnes" explizit ins kirchliche Gesetzbuch aufzunehmen; zum anderen muss der "Glaubenssinn" in der rechtlichen Ausgestaltung des kirchlichen Lebens institutionell abgesicherte Räume der Entfaltung erhalten.

4.1 Die rechtliche Normierung des Glaubenssinnes des ganzen Gottesvolkes

a) Da der Glaubenssinn die Befähigung ist, Gottes Wort zu hören und zu bezeugen, liegt es nahe, zu Beginn des Verkündigungsrechtes eine Legaldefinition des Glaubenssinnes einzuführen, und zwar in Anlehnung an den Text des II. Vatikanischen Konzils. Daher wäre es sinnvoll, die derzeitige Einleitungsbestimmung zum Verkündigungsrecht (c.747) um einen Paragraphen zu erweitern, der den vorhandenen beiden Paragraphen dieses c.747 vorgeordnet werden sollte. Dessen Text könnte im Wesentlichen dem Wortlaut von LG 12,1 entsprechen.

b) Die bisher rein reaktiv-passive Formulierung in c.750 §1, dass das universale und ordentliche Lehramt der Kirche "durch das gemeinsame Festhalten der Gläubigen unter der Führung des heiligen Lehramtes offenkundig" gemacht wird, muss ersetzt werden durch die aktivische Aussage: "durch den Glaubenssinn der Gläubigen".

c) Die allgemeine Gehorsamspflicht aller Gläubigen in c.212 §1 sollte um den Hinweis auf den Glaubenssinn aller Gläubigen ergänzt werden, so dass sich der zu leistende Gehorsam nicht mehr nur auf das bezieht, was die geistlichen Hirten bestimmen, sondern auf das, was die geistlichen Hirten unter Beachtung des Glaubenssinnes der Gläubigen bestimmen.

d) Wegen seiner fundamentalen Bedeutung muss der "Glaubenssinn" auch in den verfassungsrechtlichen Einleitungsbestimmungen des c.204 §1 und c.208 ergänzt werden. Hier ist explizit darauf hinzuweisen, dass die Gläubigen durch die Taufe nicht nur Christus eingegliedert und zum Volke Gottes gemacht sind, sondern auch mit dem Glaubenssinn begabt sind (c.204 §1), und dass die wahre Gleichheit unter allen Gläubigen in der Wiedergeburt in Christus und des darin geschenkten Glaubenssinnes gründet (c.208).

4.2 Institutionelle Räume zur Entfaltung des Glaubenssinnes aller Gläubigen

Die begriffliche Aufnahme des Glaubenssinnes in grundlegende Rechtsbestimmungen ist das Eine. Das Andere ist die Konkretisierung dieser neu akzentuierten Kernaussagen in die einzelnen Rechtbereiche hinein. Dazu sind die vielen klerikerzentrierten Rechtsbestimmungen auf eine Laienorientierung hin aufzubrechen:

a) Ausübungsrechte der Laien

Laien sind rechtlich wesentlich mehr kirchliche Aufgaben, Dienste und Ämter zu eröffnen als bisher. Viele davon sollten sie nicht nur in der Notsituation des Klerikermangels oder mit Ausnahmegenehmigung wahrnehmen können, sondern prinzipiell und unabhängig vom klerikalen Personalbestand, wie z.B.: Predigt in der Eucharistiefeier, Beerdigungsdienst, Richteramt in einem kirchlichen Gericht, Amt einer Caritasdirektorin, Leitung des katholischen Büros.

b) Mitspracherechte der Laien

Laien muss auf allen kirchlichen Ebenen und in allen zentralen Rechtsbereichen das Recht der Mitsprache zukommen. Das betrifft alle wichtigen Personalentscheidungen, Fragen der Gestaltung und Organisation des liturgischen Lebens, der pastoralen Schwerpunktsetzung und der ökumenischen Arbeit wie auch alle finanziellen Angelegenheiten. Verwirklicht werden sollte dieses durchgängige Mitspracherecht mit Hilfe des Instituts des Beispruchsrechts, das die Anhörung oder Zustimmung bestimmter Personen zur Gültigkeit der Amtshandlung verpflichtend vorschreibt (c.127 CIC/1983). Konkret: Die schon bestehenden Vertretungsorgane auf den verschiedenen kirchlichen Ebenen wie Pfarrpastoralrat (c.536), pfarrlicher Vermögensverwaltungsrat (c.537), Diözesanpastoralrat (cc.511 ff) und diözesaner Vermögensverwaltungsrat (cc.492ff) werden so mit Anhörungs- und Zustimmungsrechten ausgestattet, dass sowohl der Glaubenssinn der Laien ebenso deutlich zum Tragen kommt wie die Letztverantwortung der Kleriker.

c) Mitentscheidungsrechte der Laien

Laien sollten auch das Recht der aktiven und kreativen Mitbestimmung bzw. Mitgestaltung erhalten, indem (1.) der Anteil der Repräsentanten der Laien bei den verschiedenen Versammlungsformen der Kirche erhöht wird; (2.) alle TeilnehmerInnen mit entscheidendem Stimmrecht ausgestattet und (3.) die Einspruchsrechte der zuständigen kirchlichen Autorität auf ein notwendiges Mindestmaß beschränkt werden. Eine konkrete Umsetzung dieses Gedankens stellten bereits die Regelungen über die Beschlussfassung und Gesetzgebung der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland (1971-1975) dar. Diese Regelungen der Würzburger Synode sollten auf alle synodalen Einrichtungen übertragen werden, auf das Ökumenische Konzil (cc.337 ff) und die Bischofssynode (cc.342 ff) ebenso wie auf das Partikularkonzil (cc.439 ff), die Bischofskonferenz (cc.447 ff) und die Diözesansynode (cc.460 ff).

5. Der Glaubenssinn des ganzen Gottesvolkes als elliptisches Wechselspiel zwischen Laien und Klerikern

Alle sind begabt, niemand ist unbegabt! Deshalb müssen Kleriker und Laien wie zwei Brennpunkte einer Ellipse sein, für die ein grundlegendes Miteinander genauso wesentlich ist wie ein spezifisches Gegenüber, die Vielfalt der Charismen ebenso notwendig ist wie der Dienst der Einheit.

Auftrag und Charisma der Kleriker ist daher, Dienst an den Diensten der Glaubensgemeinschaft zu üben, d.h., die eigenen Charismen wie auch die Charismen der Laien, der Männer und Frauen wachsen zu lassen und zugleich auf die befreiende und heilende Ordnung des Evangeliums Jesu Christi auszurichten.

Aufgabe und Charisma der Laien ist es, nicht Objekte, sondern vielmehr Subjekte der kirchlichen Sendung zu sein, d.h., sich mit ihren je eigenen Begabungen und Persönlichkeitsprofilen für die Lebendigkeit der und in der kirchlichen Gemeinschaft zu engagieren.
Wir sind Kirche - Eichstätt
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Sensus fidelium: Der Glaubenssinn des ganzen Gottesvolkes: Fromme Floskel oder erfahrbare Wirklichkeit?

von Sabine Demel

"So schön diese Formulierung klingt, so ineffektiv ist sie! Oder wo ist denn in der katholischen Kirche von diesem sog. Glaubenssinn aller etwas zu spüren? In der katholischen Kirche gibt doch nicht die Stimme des ganzen Gottesvolkes den Ausschlag, sondern Papst, Bischof und Pfarrer bestimmen, wo es lang geht und wie es zu funktionieren hat! Die Rede vom "Glaubenssinn des ganzen Gottesvolkes" ist also nichts anderes als eine schöne Floskel, die zu nichts taugt!" - Solche skeptischen Töne sind nicht selten in der katholischen Kirche zu hören. Sie sind die eine Seite. Die andere Seite lautet ganz entgegengesetzt. Für sie ist der "Glaubenssinn des ganzen Gottesvolkes" gleichsam ein Reizwort. Denn sie sieht darin eine Art kämpferische Parole, die von bestimmten Gruppen in der Kirche instrumentalisiert wird, um unter dem Etikett "Ausdruck des Glaubenssinnes" entweder der eigenen Meinung mehr Gewicht zu verleihen oder über Glaubensinhalte nach dem Mehrheitsprinzip abstimmen zu wollen.

Der Glaubenssinn des ganzen Gottesvolkes – nur eine fromme Floskel ohne jegliche Auswirkung auf das innerkirchliche Leben? Oder ein missbrauchtes Instrumentarium, um die Kirche nach weltlichen Vorstellungen von Machtverteilung, Demokratie und Mehrheitsverhältnissen umzustrukturieren? Wo liegt hier die Wahrheit?

1. Wo liegen die theologischen Wurzeln der Lehre vom Glaubenssinn des ganzen Gottesvolkes?

Sie liegen in der Tatsache, dass die Kirche einen doppelten Ursprung hat, nämlich Ostern und Pfingsten.

Die Kirche gründet in den Oster-Erscheinungen des Auferstandenen vor seinem vorösterlich gesammelten Jüngerkreis und zugleich in den Pfingst-Erfahrungen der Urgemeinde, den Gottesgeist zu empfangen, der zu einer neuen Sammlungsbewegung Gottes beruft. Die Kirche hat dadurch bleibend eine christologische und eine pneumatologische Dimension. Die christologische Dimension wird in besonderer (nicht: in ausschließlicher) Weise durch das geweihte Amt in der Kirche repräsentiert, die pneumatologische Dimension in besonderer (nicht: ausschließlicher) Weise durch die Vielzahl und Vielfalt der Geistbegabungen, der sog. Charismen in der Kirche. Beide Dimensionen gehören zusammen.

2. Was besagt die Lehre vom Glaubenssinn des ganzen Gottesvolkes?

In dem zentralen Dokument des II. Vatikanischen Konzils über das Wesen der Kirche "Lumen gentium" wird in Kapitel 12 Folgendes dargelegt:

"Das heilige Gottesvolk nimmt auch teil an dem prophetischen Amt Christi, in der Verbreitung seines lebendigen Zeugnisses vor allem durch ein Leben in Glaube und Liebe, in der Darbringung des Lobesopfers an Gott als Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen (vgl. Hebr 13,15). Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben (vgl. 1 Jo 2,20 u. 27), kann im Glauben nicht irren. Und diese ihre besondere Eigenschaft macht sie durch den übernatürlichen Glaubenssinn des ganzen Volkes dann kund, wenn sie von den Bischöfen bis zu den letzten gläubigen Laien ihre allgemeine Überzeugung in Sachen des Glaubens und der Sitten äußert. Durch jenen Glaubenssinn nämlich, der vom Geist der Wahrheit geweckt und ernährt wird, hält das Gottesvolk unter der Leitung des heiligen Lehramtes, in dessen treuer Gefolgschaft es nicht mehr das Wort von Menschen, sondern wirklich das Wort Gottes empfängt (vgl. 1 Thess 2,13), den einmal den Heiligen übergebenen Glauben (vgl. Jud 3) unverlierbar fest. Durch ihn dringt es mit rechtem Urteil immer tiefer in den Glauben ein und wendet ihn im Leben voller an."

Mehrere Aspekte sind hier bedeutsam:

1. Der Glaubenssinn wird auf das Wirken des Heiligen Geistes zurückgeführt. Deshalb gilt: Wie das Wirken des Heiligen Geistes eine nie gänzlich zu fassende Wirklichkeit ist, so auch der Glaubenssinn. Er ist somit auf jeden Fall mehr bzw. etwas anderes als nur die Meinung der Mehrheit.

2. Adressat des Glaubenssinnes ist nicht der/die einzelne Gläubige, sondern das Gottesvolk in seiner Gesamtheit. Damit wird zum Ausdruck gebracht: Der Glaubenssinn kann sich erstens nur in der Gemeinschaft der Glaubenden wesensgerecht entfalten und er ist zweitens wesentlich Sinn der Gläubigen, so dass das Miteinander das entscheidende Medium seiner Verwirklichung ist.

3. Es wird betont, dass der Glaubenssinn des Gottesvolkes auf die Leitung des kirchlichen Lehramtes angewiesen ist. Doch es wird nichts über die Zuordnung des Glaubenssinnes des ganzen Gottesvolkes zu der spezifischen Funktion des kirchlichen Lehramtes im Hinblick auf den Glaubenssinn ausgesagt. Als zwei Eckdaten können wohl gelten, dass das kirchliche Lehramt einerseits den Glaubenssinn nicht erst bewirkt, sondern vielmehr ermitteln muss, und andererseits als kritische Instanz die verschiedenen Glaubensäußerungen auf die Identität und Authentizität des Glaubens hin zu überprüfen hat (vgl. LG 12,2). Somit ist der Glaubenssinn einerseits neben Lehramt und Theologie eine eigenständige Erkenntnis- und Bezeugungsinstanz des Glaubens und ist zugleich auf die Überprüfung seiner Echtheit durch Lehramt und Theologie angewiesen.

4. Der Glaubenssinn führt zum Glaubenskonsens, also der sensus fidelium zum consensus fidei. Der Heilige Geist als Wirkprinzip des Glaubenssinnes wird nämlich die Übereinstimmung der Glaubenden im Glauben wachsen lassen. Dieser Wachstumsprozess wird in der Regel auch Spannungen, Meinungsverschiedenheiten und Streit beinhalten. Doch am Ende wird der Konsens stehen! Denn der Kirche ist verheißen, dass die Gesamtheit der Gläubigen nicht in die Irre gehen kann.

5. Die dezidierte Aussage des Konzils, dass "die Gesamtheit der Gläubigen … im Glauben nicht irren [kann]", macht in aller Klarheit deutlich, dass die Irrtumslosigkeit bzw. Unfehlbarkeit der Kirche eine Eigenschaft der Gesamtheit ist und nicht nur und nicht primär eine Eigenschaft des Papstes. Deshalb gilt: Die Kirche ist nicht unfehlbar, weil sie einen unfehlbaren Papst hat, sondern der Papst ist unfehlbar, wenn er und insoweit er den Glauben der Kirche verbindlich vorträgt. Folglich ist jede lehramtliche Entscheidung und Verkündigung auf einen Prozess der gemeinsamen Entscheidungsfindung und damit auf einen Dialog mit den Gläubigen verwiesen und angewiesen.

3. Wie ist die Lehre vom Glaubenssinn des ganzen Gottesvolkes in der Kirche rechtlich umgesetzt und abgesichert?

Im höchsten Maße unbefriedigend. Mehrere Belege können dafür angeführt werden:

1. Die Lehre vom Glaubenssinn des ganzen Gottesvolkes wird nur an einer einzigen Stelle angedeutet, und dazu noch in einem verkürztem Sinn. Innerhalb des Verkündigungsrechts ist in c.750 §1 davon die Rede, dass das universale und ordentliche Lehramt der Kirche offenkundig gemacht wird "durch das gemeinsame Festhalten der Gläubigen unter der Führung des heiligen Lehramtes". Mit dieser Formulierung wird der Eindruck vermittelt, dass die Gläubigen "von oben" über die Wahrheit des Glaubens belehrt werden, ohne dass vorher auch ein Hören auf das "von unten" und damit ein wechselseitiger Prozess zwischen Lehramt und Gottesvolk stattgefunden hat.

2. Die sog. Gremien der Mitverantwortung des ganzen Gottesvolkes wie z.B. Pfarrpastoralrat, Diözesanpastoralrat sind rechtlich unzureichend konzipiert. Denn für alle diese repräsentativen Einrichtungen des Glaubenssinnes ist ausschließlich eine Mitwirkung in der Form der Beratung vorgesehen. Damit ist ein Kommunikationsprozess von Papst, Bischof oder Pfarrer mit dem jeweiligen ihm zur Leitung anvertrauten Volk Gottes rechtlich nicht abgesichert, sondern hängt vom guten Willen des jeweiligen Papstes, Bischofs und Pfarrers ab.

3. Auch die rechtliche Ausgestaltung der kirchlichen Dienste und Ämter spiegelt die Lehre über den Glaubenssinn aller Gläubigen nicht wider. Fast alle Dienste und Ämter sind auf die Kleriker ausgerichtet und stehen nur in Ausnahmefällen – vor allem in Zeiten des Priestermangels -- den anderen Gläubigen offen.

4. Ebenso kommt der Glaubenssinn des Gottesvolkes fast überhaupt nicht bei der Besetzung wichtiger Ämter in der Kirche (wie z.B. Pfarr-, Bischofs-, Papstamt) zum Tragen, da hier Laien höchstens eine Mitwirkung in der Form der Beratung zugestanden wird.

4. Welche rechtlichen Reformen sind für die Lehre vom Glaubenssinn des gesamten Gottesvolkes notwendig?

Zum einen sind Begriff und Inhalt des "Glaubenssinnes" explizit ins kirchliche Gesetzbuch aufzunehmen; zum anderen muss der "Glaubenssinn" in der rechtlichen Ausgestaltung des kirchlichen Lebens institutionell abgesicherte Räume der Entfaltung erhalten.

4.1 Die rechtliche Normierung des Glaubenssinnes des ganzen Gottesvolkes

a) Da der Glaubenssinn die Befähigung ist, Gottes Wort zu hören und zu bezeugen, liegt es nahe, zu Beginn des Verkündigungsrechtes eine Legaldefinition des Glaubenssinnes einzuführen, und zwar in Anlehnung an den Text des II. Vatikanischen Konzils. Daher wäre es sinnvoll, die derzeitige Einleitungsbestimmung zum Verkündigungsrecht (c.747) um einen Paragraphen zu erweitern, der den vorhandenen beiden Paragraphen dieses c.747 vorgeordnet werden sollte. Dessen Text könnte im Wesentlichen dem Wortlaut von LG 12,1 entsprechen.

b) Die bisher rein reaktiv-passive Formulierung in c.750 §1, dass das universale und ordentliche Lehramt der Kirche "durch das gemeinsame Festhalten der Gläubigen unter der Führung des heiligen Lehramtes offenkundig" gemacht wird, muss ersetzt werden durch die aktivische Aussage: "durch den Glaubenssinn der Gläubigen".

c) Die allgemeine Gehorsamspflicht aller Gläubigen in c.212 §1 sollte um den Hinweis auf den Glaubenssinn aller Gläubigen ergänzt werden, so dass sich der zu leistende Gehorsam nicht mehr nur auf das bezieht, was die geistlichen Hirten bestimmen, sondern auf das, was die geistlichen Hirten unter Beachtung des Glaubenssinnes der Gläubigen bestimmen.

d) Wegen seiner fundamentalen Bedeutung muss der "Glaubenssinn" auch in den verfassungsrechtlichen Einleitungsbestimmungen des c.204 §1 und c.208 ergänzt werden. Hier ist explizit darauf hinzuweisen, dass die Gläubigen durch die Taufe nicht nur Christus eingegliedert und zum Volke Gottes gemacht sind, sondern auch mit dem Glaubenssinn begabt sind (c.204 §1), und dass die wahre Gleichheit unter allen Gläubigen in der Wiedergeburt in Christus und des darin geschenkten Glaubenssinnes gründet (c.208).

4.2 Institutionelle Räume zur Entfaltung des Glaubenssinnes aller Gläubigen

Die begriffliche Aufnahme des Glaubenssinnes in grundlegende Rechtsbestimmungen ist das Eine. Das Andere ist die Konkretisierung dieser neu akzentuierten Kernaussagen in die einzelnen Rechtbereiche hinein. Dazu sind die vielen klerikerzentrierten Rechtsbestimmungen auf eine Laienorientierung hin aufzubrechen:

a) Ausübungsrechte der Laien

Laien sind rechtlich wesentlich mehr kirchliche Aufgaben, Dienste und Ämter zu eröffnen als bisher. Viele davon sollten sie nicht nur in der Notsituation des Klerikermangels oder mit Ausnahmegenehmigung wahrnehmen können, sondern prinzipiell und unabhängig vom klerikalen Personalbestand, wie z.B.: Predigt in der Eucharistiefeier, Beerdigungsdienst, Richteramt in einem kirchlichen Gericht, Amt einer Caritasdirektorin, Leitung des katholischen Büros.

b) Mitspracherechte der Laien

Laien muss auf allen kirchlichen Ebenen und in allen zentralen Rechtsbereichen das Recht der Mitsprache zukommen. Das betrifft alle wichtigen Personalentscheidungen, Fragen der Gestaltung und Organisation des liturgischen Lebens, der pastoralen Schwerpunktsetzung und der ökumenischen Arbeit wie auch alle finanziellen Angelegenheiten. Verwirklicht werden sollte dieses durchgängige Mitspracherecht mit Hilfe des Instituts des Beispruchsrechts, das die Anhörung oder Zustimmung bestimmter Personen zur Gültigkeit der Amtshandlung verpflichtend vorschreibt (c.127 CIC/1983). Konkret: Die schon bestehenden Vertretungsorgane auf den verschiedenen kirchlichen Ebenen wie Pfarrpastoralrat (c.536), pfarrlicher Vermögensverwaltungsrat (c.537), Diözesanpastoralrat (cc.511 ff) und diözesaner Vermögensverwaltungsrat (cc.492ff) werden so mit Anhörungs- und Zustimmungsrechten ausgestattet, dass sowohl der Glaubenssinn der Laien ebenso deutlich zum Tragen kommt wie die Letztverantwortung der Kleriker.

c) Mitentscheidungsrechte der Laien

Laien sollten auch das Recht der aktiven und kreativen Mitbestimmung bzw. Mitgestaltung erhalten, indem (1.) der Anteil der Repräsentanten der Laien bei den verschiedenen Versammlungsformen der Kirche erhöht wird; (2.) alle TeilnehmerInnen mit entscheidendem Stimmrecht ausgestattet und (3.) die Einspruchsrechte der zuständigen kirchlichen Autorität auf ein notwendiges Mindestmaß beschränkt werden. Eine konkrete Umsetzung dieses Gedankens stellten bereits die Regelungen über die Beschlussfassung und Gesetzgebung der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland (1971-1975) dar. Diese Regelungen der Würzburger Synode sollten auf alle synodalen Einrichtungen übertragen werden, auf das Ökumenische Konzil (cc.337 ff) und die Bischofssynode (cc.342 ff) ebenso wie auf das Partikularkonzil (cc.439 ff), die Bischofskonferenz (cc.447 ff) und die Diözesansynode (cc.460 ff).

5. Der Glaubenssinn des ganzen Gottesvolkes als elliptisches Wechselspiel zwischen Laien und Klerikern

Alle sind begabt, niemand ist unbegabt! Deshalb müssen Kleriker und Laien wie zwei Brennpunkte einer Ellipse sein, für die ein grundlegendes Miteinander genauso wesentlich ist wie ein spezifisches Gegenüber, die Vielfalt der Charismen ebenso notwendig ist wie der Dienst der Einheit.

Auftrag und Charisma der Kleriker ist daher, Dienst an den Diensten der Glaubensgemeinschaft zu üben, d.h., die eigenen Charismen wie auch die Charismen der Laien, der Männer und Frauen wachsen zu lassen und zugleich auf die befreiende und heilende Ordnung des Evangeliums Jesu Christi auszurichten.

Aufgabe und Charisma der Laien ist es, nicht Objekte, sondern vielmehr Subjekte der kirchlichen Sendung zu sein, d.h., sich mit ihren je eigenen Begabungen und Persönlichkeitsprofilen für die Lebendigkeit der und in der kirchlichen Gemeinschaft zu engagieren.