Menschenrechte – ein Maßstab auch innerhalb der Kirche?
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Seit Papst Franziskus im Amt ist, scheint sich der Ruf der katholischen Kirche zu verbessern. Der Papst stimmt einen neuen Ton an und vermag es, Menschen wieder für die Anliegen der Kirche zu interessieren, die sich längst distanziert hatten. Von Barmherzigkeit ist mehr die Rede als von Gehorsam und Gesetz.
Wenn sich der Fokus der Aufmerksamkeit ändert, ist das zunächst sicherlich gut, weil man den Blick für verschütt gegangene Potentiale und Ressourcen wiedergewinnt. Schlimm aber wäre es, wenn auf die ausgelassene Feier der Kater am Morgen folgen würde. Mit anderen Worten: Wenn sich herausstellen sollte, dass mit dem neuen Ton keine substantiellen Veränderungen in der täglich erlebten Realität der Kirche verbunden sind; wenn deutlich wird, dass etwa die dogmatische Grundverfassung der Kirche es nicht erlaubt, diesen neuen Geist auch strukturell und dauerhaft erfahrbar werden zu lassen.
Eine zentrale Perspektive für diese Frage ist die Bedeutung der Menschenrechte innerhalb der Kirche. Damit ist gemeint, ob man als Kirche die Menschenrechte nicht nur nach außen vertritt, sie also bei anderen einfordert, sondern ob man sich auch selbst als eine Organisation versteht, die die Menschenrechte zum verbindlichen Maßstab macht.
Sprecherin
Weshalb sind die Menschenrechte überhaupt ein Prüfstein für die wirkliche Wandlungsfähigkeit der Kirche? Ganz einfach: Die Menschenrechte sind nicht nur irgendein Modethema der Moderne oder einer der unzähligen Trends, denen sich die Kirche bitte nicht auch noch anpassen muss. Die Diskussion um die Menschenrechte zwingt zu einer Entscheidung: Woran macht sich unbedingte ethisch-moralische Geltung fest?
Mit der Moderne hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass es nicht mehr plausibel ist, solche Geltung von übergeordneten Autoritäten – etwa einer eindeutig lesbaren Natur, einem für alle glaubbaren Gott – abzuleiten, sondern dass eben der Mensch selbst mit seiner Fähigkeit zur vernünftigen Selbstgesetzgebung dieser letzte Maßstab sein sollte. Die Menschenrechte sind so etwas wie die konsequente politische Schlussfolgerung dieser bereits mit der Renaissance anhebenden Grundüberzeugung von der Qualität und der unvergleichlichen Würde des Menschen. Als Rechte formulieren sie verbindliche Standards, wie mit dem Menschen umzugehen ist. Ob das nun im politischen Gemeinwesen – dem Staat – oder in Zusammenschlüssen wie etwa einer Glaubensgemeinschaft der Fall ist, spielt bei Lichte besehen keine Rolle: Denn wenn es eine moralische Überzeugung ist, die den Menschenrechten zugrunde liegt, nämlich die von der unveräußerlichen und gleichen Menschenwürde jedes Menschen, dann müssen Menschen überall nach diesem Maßstab behandelt werden, ganz gleich, in welche Kollektivität sie eingebunden sind.
Diese Überzeugung fiel nicht vom Himmel – sie hat sich peu à peu durchgesetzt, zum Teil gegen den erbitterten Widerstand der christlichen Kirchen, aber auch gegen autoritäre politische Herrschaftsansprüche oder gegen die Beschleunigungsdynamiken einer ausbeuterischen, menschenfeindlichen Wirtschaftsweise. Das Ergebnis dieses Prozesses ist umso erstaunlicher: Die Menschenrechte sind zu einem Signum des moralischen Anspruchs der Moderne geworden. Der Soziologe Hans Joas spricht von der „Sakralität der Person“, die dem Menschen in der Moderne zugesprochen wird. Damit kommt zum Ausdruck: Die Würde des Menschen zu respektieren und dies in den Menschenrechten politisch festzuschreiben, ist heute ein unhintergehbarer moralischer Standard.
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Für die Kirche war es ein langer Weg, bis sie die Menschenrechte wertschätzen konnte, trotz der Spuren, die bereits in der biblischen Botschaft gelegt waren und die es ihr eigentlich hätten leicht machen sollen, den Respekt des Menschen auch zum Kriterium der politischen Ordnung zu erklären. Mit der Enzyklika „Pacem in terris“ vor 60 Jahren, vor allem aber mit dem Konzilsbeschluss zur Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“ ist dies dann bis Mitte der 1960er-Jahre gelungen – vorerst.
Denn so sehr sich die Kirche seitdem glaubwürdig gegenüber autoritären Staaten und angesichts globaler Ungerechtigkeit für die Menschenrechte einsetzt, so umstritten ist weiterhin, ob die Menschenrechte auch im Innern der Kirche, also für die eigenen Mitglieder, gelten sollen: Wie viel Freiheitsrechte werden den Gläubigen eigentlich zugestanden? Die Frage taucht an vielen Stellen auf. Der Journalist und Theologe Stefan Orth erläutert:
Sprecherin
„Das beginnt mit der Frage nach den Rechten der so genannten Laien innerhalb der Kirche, insbesondere der Frauen, denen der Zugang zu vielen Leitungsaufgaben schon qua Geschlecht verbaut ist. Aber beispielsweise auch der Umgang mit Homosexualität wird faktisch als Diskriminierung und damit als Verletzung der Menschenrechte erlebt. Nicht erst am Ende steht das Problem mangelnder Kontrollmöglichkeiten innerhalb der Kirche, weil es weder eine echte Gewaltenteilung noch ein entsprechendes Gerichtswesen gibt, vor dem nach den heute üblichen rechtlichen Standards Entscheidungen überprüft werden könnten.“
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Die Beschreibung der Spannungen ließe sich fortsetzen. Viele Menschen, die sich der Kirche verbunden fühlen, aber auch mit beiden Beinen in der Welt von heute stehen, haben das Gefühl, sie lebten in zwei Welten – hier die Kirchenwelt, in der sie ihre Kompetenzen und ihren Mitbestimmungswillen unterordnen müssen, und dort Berufsleben und Gesellschaft, in denen gerade diese Eigenschaften gefragt sind und geschätzt werden. Das eine Mal zählen Freiheit, Selbstbestimmung und Teilhabe, das andere Mal müssen sie offenbar mühsam erstritten und ständig gerechtfertigt werden!
Nun drängt sich die Frage auf: Woran liegt es, dass sich die Kirche so schwer damit tut, den Anspruch der Menschenrechte für ihre Mitglieder anzuerkennen? Die Antwort ist komplex; denn die Kirche hat es ja geschafft – wie gewichtige Enzykliken und Dokumente des Konzils es zeigen – die Menschenrechte nicht nur „pragmatisch-strategisch“, sondern von innen heraus zu würdigen. Der Konzilsbeschluss zur Religionsfreiheit spricht davon, dass die Gewissensfreiheit als ein Menschenrecht zutiefst auch christlich-religiöser Überzeugung entspricht. Als Kirche könne man gar nicht anders, als diese Freiheit des Individuums und sein Recht auf religiöse Wahl anzuerkennen. Denn: Der christliche Glaube wäre als ein verordneter, erzwungener, als ein einfach unkritisch übergestülpter Glaube gar nichts wert.
Betrachten wir noch einmal den Grundansatz der Menschenrechte: Es geht um den Menschen und um den Respekt, der dem Individuum als dem Träger von Menschenwürde geschuldet ist – von seinen Mitmenschen, aber auch von den kollektiven Verbünden, Gemeinschaften und Institutionen, in denen der Mensch immer steht.
Sprecherin
Während Kritik an Institutionen im politischen Bereich allgemein für gut und notwendig befunden wird, trifft dies für die Kirche noch nicht in demselben Maße zu. Die Institution Kirche profitiert von einem Nimbus des Sakrosanten. Der verhindert nachhaltig, dass Maßstäbe der Kontrolle, der Transparenz, der Rechenschaftspflicht, kurz: der guten Regierungsführung – die Sozialwissenschaften sprechen von „good governance“ – an sie angelegt werden. So, wie dies für andere Institutionen gang und gäbe ist. Dies müsste die Kirche in ihren Grundfesten aber keineswegs erschüttern.
Im Gegenteil: Institutionenkritik ist unter den Bedingungen der Moderne eine Notwendigkeit, denn in ihr drückt sich der Freiheitsanspruch des Menschen aus. Dessen Bereitschaft, sich in überindividuelle Verbünde einzugliedern und sich diesen anzupassen, bemisst sich auch an der Durchlässigkeit dieser institutionellen Gebilde für die Mitgestaltungs- und Partizipationswünsche der Einzelnen. Im politischen Bereich hat sich die Demokratie entwickelt, weil irgendwann nicht länger geleugnet werden konnte, dass Menschen prinzipiell zur Selbstbestimmung fähig sind.
Autor
Aus diesen Beobachtungen ergibt sich eine denkerische Herausforderung: Es muss theologisch durchdacht werden, wie die religiöse Institution ‚Kirche’ - ausgehend vom neuzeitlichen Anspruch des Menschen auf Freiheit und Selbstbestimmung - verstanden werden kann. Eben diese Ansprüche machen ja den moralischen Kern des Menschenrechtsethos aus. Die Herausforderung ist gewaltig: Hatte das Konzil die Kirche mit dem Begriff der Communio – also einer großen Gemeinschaft, die aus vielen miteinander verbundenen Teilgemeinschaften besteht – neu zu begreifen versucht, stellt sich heraus, dass dieses Konzept eine unklare, schwammige Schlagseite aufweist und dem emanzipatorischen Gehalt des modernen Freiheitsethos nicht gerecht wird: Was zählt denn der einzelne Mensch, wenn es vor allem um die Gemeinschaft geht?
Eben diese Gemeinschaft der Kirche wird allzu oft, basierend auf dem Gedanken ihrer Sakramentalität, als schlechthin unangreifbar und als ein in sich homogener Sozialkörper angenommen. Kritik, der Wunsch nach Kontrolle, danach, die unterschiedlichen ausgeübten Gewalten zu teilen, entspringen hingegen der Überzeugung, dass der Institution nicht als solcher bereits normativer Wert zukommt, sondern deswegen, weil sich in ihr die vielen Freiheitsansprüche einzelner zusammenfinden und unter eine gemeinsame Absicht stellen: In der staatlichen Gemeinschaft sind das Wohlfahrt und Frieden, im Religiösen heißt diese gemeinsame Absicht ‚Hoffnung’ und ‚Nachfolge’.
Heute muss man feststellen, dass die Würdigung der Gewissensfreiheit des letzten Konzils erst den Anfang einer noch ausstehenden, grundständigen Vermittlung von modernem Freiheitsethos und christlicher Glaubenslehre bildet. Die kluge und innovative Lehre zum eigenen Wert des Gewissensurteils in Bezug auf die religiöse Überzeugung müsste theologisch „entregionalisiert“ werden und auf das Ganze des Glaubens und der Kirchenpraxis bezogen werden. Der Sache nach wäre das schlüssig, denn wer an der einen Stelle die Würde der menschlichen Person prinzipiell mit seiner Gewissensfähigkeit begründet, wird dies an anderer Stelle nicht ausblenden können. Wo es aber um ekklesiologische Fragen geht, also die Einbindung der Gläubigen in den Gemeinschaftszusammenhang der Kirche, um das Verhältnis von Individuum und Institution und um Fragen der Legitimation der Institution, zeigt sich, welche Herausforderung der Menschenrechtsanspruch in seinem ethisch-moralischen Kern für die Kirche weiterhin darstellt: Muss nicht auch hier die Berufung des Menschen zur Freiheit und seine prinzipielle Fähigkeit zur Selbstbestimmung in Rechnung gestellt werden?
Im Unterschied zu allen „organischen“ Gemeinschaftsbegründungen und einem Verständnis von Kirche, das zunächst nicht beim Menschen ansetzt, sondern bei der Institution, wird der Horizont sichtbar, in dem dogmatisch-theologisch weiter zu denken ist. Dass hier nicht vermittelt werden kann, soll gar nicht gesagt sein; eine Institution, die viel älter ist als die Menschenrechte, hatte ihr Selbstverständnis eben schon formuliert, bevor der Menschenrechtsanspruch in die Welt kam. Nur ein Beispiel:
Sprecherin
Für das Verständnis des Weiheamtes in der Kirche und damit auch für den Status der einfachen Kirchenmitglieder etwa war der lateinische Theologe Tertullian im 3. Jahrhundert entscheidend. Kategorien der römischen Gesellschaft werden von ihm auf das christliche Gemeindeleben übertragen: Das priesterliche Amt (lateinisch: ordo) wird vom Ordo des römischen Senats, also der Senatoren mit ihrer Standeswürde abgeleitet. Diesem Amt gegenüber steht das einfache Volk, das „plebs“ der Stadt Rom – oder eben das Kirchenvolk. Die Unterscheidung zwischen ordo und plebs macht sich nach Auffassung Tertullians an den Kriterien der Ehre (lateinisch: honor), der Autorität (auctoritas) und der zu erfüllenden Aufgaben (officium) fest. Autorität ist innerhalb dieser römischen und feudalen Amtsauffassung eine unantastbare Hierarchie und lässt keine interne Kritik zu. Es wird davon ausgegangen, dass der Amtsträger des ordo – und nur er – in einem direkten Verhältnis zu Gott steht – Gehorsam gegenüber den Amtsträgern wird deshalb zum Gehorsam gegenüber Gott.
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Es wird hier am Beispiel deutlich, wie sehr die Kirche nicht nur überzeitliche göttliche Stiftung, sondern jeweils auch ein „Kind ihrer Zeit“ ist: Die Gewohnheiten, denkerischen Möglichkeiten und sozialen Praktiken der Zeit und Kultur, in denen Kirche existiert, färben auf sie ab, sie prägen ihr Selbstverständnis. Und wie könnte es anders sein? Versteht sich die Kirche als ein konkretes Zeichen der Präsenz Gottes in der Welt, stehen ihr ja nur die Möglichkeiten und Mittel, die Sprachen und Praktiken ihrer jeweiligen Zeit zur Verfügung, um diese Präsenz bestmöglich auszudrücken. Daraus ergibt sich aber eine theologische, ja, eine ethische Verpflichtung: Im Bewusstsein ihrer eigenen Kontextabhängigkeit wird die Kirche sich stets neu dem Anspruch unterziehen müssen, nach den angemessenen Mitteln und Wegen zu suchen, ihrem Auftrag gerecht zu werden. Das schließt ein Überdenken ihrer eigenen Strukturen und Traditionen mit ein. Kriterium muss dabei sein: Was macht aus der Kirche eine autoritative – nicht eine autoritäre – Institution? Das heißt, eine Institution, die sich in dem, was sie tut, hineinstellt in den Anspruch dessen, was sie begründet.
Für die Kirche ist das die biblische Botschaft von der Menschenfreundlichkeit Gottes, seiner Zuwendung zu einem Menschen, der als Geschöpf Gottes zu seinem Partner, ja, einem Gestalter der Schöpfung eingesetzt wurde. Die Menschenrechte mit ihrem Anspruch auf die gleiche Freiheit aller Menschen sind der Versuch, einen wichtigen Teil dieser Botschaft in eine zeitgemäße Sprache, die Sprache des Rechts, zu übersetzen. Es bleibt Aufgabe der Kirche, nicht selbst eine Gemeinschaft zu sein, die hinter der von ihr verkündeten Botschaft zurückbleibt.
Über den Autor Daniel Bogner
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Prof. Dr. Daniel Bogner wurde 1972 geboren. Er lehrt Moraltheologie an der Universität Fribourg/Schweiz. |
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