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Der Glaube der Kirchenväter? Zu den Grundlagen von Joseph Ratzingers Theologie von Hermann Häring Hermann Häring, promoviert und habilitiert in Tübingen, war seit 1980 Professor für Dogmatische Theologie in Nijmegen, von 1999 bis 2005 Professor für Wissenschafts-theorie und Theologie, Nijmegen. Der Bei-trag, erstmals abgedruckt in „Offene Kirche. Ein ökumenisches Forum 36, 2005, Nr. 2/3, 13-25, und sachlich mit Ausführungen in seinem Buch „Theologie und Ideologie bei Joseph Ratzinger“, Düsseldorf 2001, analy-siert das Denken des Professors und Präfekten der Glaubenskongregation, noch nicht des Papstes. Aus Platzgründen wurden die zahlreichen Anmerkungen weggelassen. Am 8. Januar 2000 schrieb Joseph Kardinal Ratzinger in der angesehen, wenn auch hochkonservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Aufsehen erregenden Artikel zur Krise des Christentum am Beginn des 3. Jahrtausends. Von vielen wurde der Artikel gepriesen als das Zeugnis eines weisen Mannes, der mit historischer Kenntnis und großer Weitsicht die kulturellen Entwicklungen der Gegenwart zu umschreiben und kritisch zu beurteilen weiß, der zugleich - man staunte nicht wenig - das Aufklärungspotential des Christentums in Erinnerung rief. Im Anfang war das Wort - diesen programmatischen Beginn des Johannesevangeliums versteht der Kardinal als Aufruf dazu, in der Welt die schöpferische Kraft der Vernunft neu zu entdecken. So staunten die Begeisterten - unter ihnen viele evangelische protestantische Intellektuelle - nicht schlecht, als am 6. September aus derselben Hand eine Erklärung der römischen Glaubenskongregation über die Einzigkeit Jesu Christi und der Kirche erschien. Denn in diesem Dokument herrschte ein ganz anderer, ein misstrausicher und mürrischer, ein geradezu rechthaberischer Ton. Hier nicht mehr die Aufklärung gepriesen, vielmehr wird vor allzu viel Rationalität, vor Relativismus und naiver Dialogbereitschaft gewarnt. Den anderen Religionen spricht Ratzinger jede Gleichberechtigung mit der christlichen Religion ab. Und wie zur Demütigung ökumenischer Bemühungen auf der ganzen Welt erklärt er, die reformatorischen Kirchen seien keine Kirchen im eigentlichen Sinne, weil ihnen das Bischofsamt und die Eucharistie fehlt. Die interessante Frage lautet: Wie sind die beiden Dokumente miteinander zu vereinigen? Trägt Ratzinger zwei theologische Seelen in seiner Brust? Wie kann er zudem behaupten, seine Grundpositionen hätten sich seit den Jahren des 2. Vatikanischen Konzils nicht geändert? War sein theologisches Denken vielleicht schon in den sechziger Jahren von den beiden Gesichtern geprägt? Ich beginne mit einer persönlichen Reminiszenz und gehe dann zu einigen Grundpositionen seiner Theologie über. Die persönliche Erinnerung kann deutlich machen, wie ernst und wie verhärtet sein theologisches Denken eigentlich ist. Diese Verhärtungen haben sich durch seine Funktionen nur noch gesteigert. Bei den theologischen Grundpositionen wird sich zeigen, dass das Denken Ratzingers streng nach rückwärts gerichtet ist. Die Fortschrittlichkeit und scheinbare Offenheit wird mit einigen semantischen Verschiebungen erkauft, Verschiebungen, die tiefe Missverständnisse, wenn nicht gar Irreführungen zur Folge haben. Ein dramatischer Wendepunkt Ich beginne mit einem Zitat des tschechischen Theologen Karel Floss, der im Jahre 1969 in Tübingen den damaligen Professor für dogmatische Theologie besuchte. Er wurde, wie er berichtet, von Ratzinger höflich empfangen, aber bald dessen Assistenten Martin Trimpe übergeben. Dieser verbracht mit ihm den Abend und einen Teil der Nacht: Kurz nach Mitternacht, als wir gemeinsam ein paar Psalmen gebetet hatten, führte mich Trimpe auf einen Aussichtsturm in der Nähe von Tübingen, um mir während eines bezaubernden Ausblickes auf das nächtliche Tübingen mitzuteilen, dass mit der Zusammenarbeit Küng/Ratzinger Schluss sei, dass man sich aus Heilbringenden Gründen trennen müsse, dass man mit einem solchen Menschen wie Küng nicht weiterarbeiten könne, solle nicht Ratzinger mit seinen engen Mitarbeitern geistig völlig verwildern, ja dass Küng sich immer mehr nur als ein geschickter Journalist bemerkbar mache, über den in zwang, dreißig Jahren niemand mehr etwas wissen werde. Auf meine Frage, wohin Trimpe mit Ratzinger zusteuere, antwortete er, dass er nach Regensburg gehe, wo ihnen Bischof Graber alles Nötige für eine ruhige, redliche Wissenschaftsarbeit gewährleisten wolle. Das war für mich ein weiterer Schock, da ich wusste, dass bei Bischof Graber Zuflucht unter anderem all die Kräfte gesucht hatten, die in den Böhmischen Ländern vor den Konzilsfolgen erschrecken und insbesondere die Abkehr vom strikten Thomismus nicht mochten. Was geschah in den sechziger Jahren? Diese Begebenheit spielt sich vier Jahre nach Beendigung des 2. Vatikanischen Konzils ab. An der Tübinger Fakultät zeichnete sich eine erste Polarisierung ab. 1968 wurde eine Erklärung für die Freiheit der Theologie initiiert, die schließlich 1.322 Theologinnen und Theologen unterzeichneten. 1969 veröffentlichten die Tübinger Theologieprofessoren eine Erklärung zur Wahl der Bischöfe. Deren Amtszeit sollte in der Regel nur acht Jahre dauern. Für Ratzinger war dies ein einschneidendes Ereignis, denn er hat die Erklärung mitunterzeichnet, um sich kurz darauf von seiner Unterschrift zu distanzieren. Er fühlte sich unter Druck, und wer auch die verschiedenen Charaktere seiner Kollegen kennt, wird sagen: er fühlte sich unter massivem Druck. 1968, das war die Zeit der Studentenrevolution, die die westeuropäischen Länder von den USA her überrollte. Die KatholischTheologische Fakultät wurde von ihr stark in Mitleidenschaft gezogen. Aber wie verschieden reagierten die Herren Professoren! Einige versuchten, sich friedlich zu arrangieren. Hans Küng war mit den studentischen Umtrieben alles andere als einverstanden, aber mit der Kampfeslust eines Toreros stemmte er sich gegen die Störungen und suchte er die inhaltliche Diskussion. Ganz andere Auswirkungen hatten die Unruhen bei Joseph Ratzinger: Der zarte und eher schüchterne Professor litt schwer unter den Unruhen, konnte sich dagegen nicht wehren. Er muss die Trillerpfeife, mit denen man seine Vorlesung störte, wie Pfeile empfunden haben, die sich in Haut und Sinne bohrten. Wir empfanden mit ihm Mitleid, gewiss, manches Mal auch Schadenfreude; wir wussten aber nie, was in ihm vorging. Er zog sich zurück, besprach die Probleme wohl nur im engsten Kreis und suchte - wie es sich für einen Theologen gehörte - tiefsinnige Antworten von theologischer Bedeutung. Was sich das abspielte, hatte für ihn mit dem "Geist dieser Welt", mit dem Ende des Abendlandes und mit einem Glauben zu tun, der da zerfällt. Vermutlich hat er z.B. nie begriffen, dass Küng in Sachen "Studentenrevolution" im Grunde auf seiner Seite stand. Ich glaube nicht, dass Ratzinger auf diese Ereignisse theologisch kreativ reagierte; er zog sich eher in sein theologisches Gehäuse zurück. Natürlich hatten sich in seinen Augen die Revolutionäre unter seinen Kollegen desavouiert, aber darüber gab es keine theologische Diskussion. Zwischen dem BlochFan Jürgen Moltmann und ihm fand damals ebenso wenig ein Gespräch statt wie zwischen Ernst Käsemann und ihm. Während Moltmann seine Theologie der Hoffnung gar zur Theologie der Revolution steigerte, war E. Käsemann, der im Dritten Reich von Gefängniszellen aus eine staatsfromme Kirche erlebte, froh, dass die Studenten wenigstens jetzt aufwachten. Allerdings hatte er sich seine eigene, durchaus sachgemäße Rache ausgedacht: Gut demokratisch durften die wildesten unter seinen Theologiestudenten Teile seiner Vorlesung übernehmen; der Stoff hielt nicht lange vor. Ratzinger dagegen verpasste die Chance, wenigstens in der Reaktion gegen die Studenten aus seiner Isolierung herauszukommen. "So weit kommt man", so lautete seine Schlussfolgerung, "wenn man die Grundlagen des christlichen Glaubens verlässt". Aus jenen Jahren stammt seine Freundschaft mit dem späteren Bayerischen Kultusminister Hans Maier, der die traditionelle Kirche immer - wenn auch auf hohem Niveau - tapfer verteidigte und sich später den hoch angesehenen RomanoGuardiniLehrstuhl in München zueignete. Bei Maier, diesem konsequent konservativen, von Politik und Orgelspiel beseelten Spätvertreter des "Abendlands", lernt Ratzinger, dass die Entwicklung der katholischen Kirche neu eine Gesamtentwicklung widerspiegelt, deren katastrophales Ende mit allen Mittel zu vermeiden ist". Die Linke fördert den Verfall der öffentlichen Sitte, Würde, Anständigkeit und Ordnung. So steht Ratzingers Theologie unversehens im Dienst eines funktionsfähigen Staates, einer geordneten Gesellschaft und einer Kirche, die diese Ordnung legitimiert". Was in dem jungen, schon damals erfolgreichen Theologen vorgegangen sein mag, lässt sich in Umrissen beim Studium vor allem des Vorworts nachvollziehen, das Ratzinger seinen berühmten Vorlesungen "Einführung in das Christentum" vorangestellt hat. Er hielt sie im Sommersemester 1967 im Auditorium Maximum der Tübinger Universität. Der Saal war immer brechend voll, die Stimmung geradezu feierlich. Massiv stellte sich der Eindruck ein, dass sich hier Wichtiges ereigne. 1968 erscheint dann das Buch im Druck. Erstaunlich klar ist Ratzingers Feindbild. Inhalt und Sinn des christlichen Glaubens sind inzwischen von einem "Nebel der Ungewissheit umgeben wie kaum irgendwann zuvor in der Geschichte". Und indem er den gegenwärtigen Zustand der Theologie mit der Dummheit des "Hans im Glück" vergleicht, der seinen Reichtum für immer wertlosere Dinge eingetauscht, bringt er seine Interpretation auf den Punkt, der für ihn bis heute gilt: Hat die Theologie, schreibt er, "nicht den Anspruch des Glaubens, den man allzu drückend empfand, stufenweise herunterinterpretiert, immer nur so wenig, dass nichts Wichtiges verloren schien, und doch immer so viel, dass man bald darauf den nächsten Schritt wagen konnte? Und wird der arme Hans, der Christ, der vertrauensvoll sich von Tausch zu Tausch, von Interpretation zu Interpretation führen ließ, nicht wirklich bald statt des Goldes, mit dem er begann, nur noch einen Schleifstein in Händen haltend, den wegzuwerfen man ihm getrost zuraten darf?". Wer unter seinen Zuhörerinnen und Zuhörern hätte nicht an jenen Hans denken müssen, den Ratzinger schon damals als den großen Herunterinterpretierer ansah, war Hans Küngs Buch Die Kirche doch im Frühjahr 1967 erschienen? Denkform und Unterstellungstechnik der Ratzingerschen Polemik liegen seit jenem Zeitpunkt fest. Unruhe und Krise gelten ihm als Beweis für Unglaube. Vielsagend verstreut er sein Misstrauen, ohne Ross und Reiter zu nennen. Er spricht mit offener Verachtung über "die tatsächlich abgeschminkte und in modernes Zivil gekleidete Theologie, wie sie vielerorten heute auf den Plan tritt", und man erinnerte sich daran, dass die Tübinger Theologieprofessoren damals aus Tradition in Zivil gingen, obwohl sie allesamt Priester waren. Er geißelt die neuen Gefahren, indem er die Jünger Bultmanns und des Konzils anhand ihrer Kennworte in einem Atemzug nennt. Bultmann war seinerseits vom Bannstrahl K. Barths sowie der evangelischen Tübinger Fakultät getroffen. Daraus kann seine Polemik aufbauen: "Dass weder der tiefsinnige Intellektualismus der Entmythologisierung (!) noch der Pragmatismus des Aggiornamento(!) einfach zu überzeugen vermögen, macht freilich sichtbar, dass auch diese Verzerrung des Grundskandals des christlichen Glaubens eine Tiefreichende Sache ist." Aggiornamento ist also nicht besser als die Entmythologisierung; beide haben den Glauben verzerrt. Der Vorwurf lautet, der Grundskandal von "Sichtbar und Unsichtbar" werde durch die Devise "Tradition und Fortschritt" verdeckt. Hier wird Ideologie perfektioniert, denn Beklagte können sich bei solcher Konstellation kaum mehr verteidigen. Wer "Interpretation" sagt oder betreibt, hat eo ipso schon verspielt, denn er interpretiert "herunter". Wer klarmachen will, dass er mit seiner Auslegung das Eigentliche der christlichen Botschaft doch nicht aufgibt, verfällt sofort dem Verdacht der Verschleierung. Wer zudem in Sachen Christologie auf die historische Jesusforschung setzt, hat - wie diese Einführung hinreichend zeigt - ohnehin schon verspielt. Bultmann wird zum Erzbedroher des Glaubens, und A. Schweitzer dafür zum Zeugen angerufen. Was Küng bei seinen damals noch werbenden Feldzügen in Gesprächen mit seinem nächsten Fachkollegen leider nicht begriffen hat: Je mehr er Ratzinger in Diskussionsrunden, auf Kollegentreffen, in Dozentenzimmern und bei Autofahrten (wie gern nahm der Missionar Küng seine Kollegen zu Veranstaltungen mit) mit historischen Argumenten zu überzeugen suchte, um so mehr bewies er in den Augen Ratzingers seine Irrwege. Küng berichtete oft, dass Ratzinger ihm im Auto einmal Wichtiges zugestand. Küng meinte, man müsse doch einmal eine "Christologie von unten" versuchen. Ratzinger hat mit Zustimmung geantwortet: das sei durchaus möglich. Küng verstand diese Antwort als Ermutigung. Vermutlich hat sich dieser aber gedacht: Der Versuch wird das Scheitern des Konzepts schon erweisen. So konnten sich Küng und sein späterer Kontrahent auch nach dem Erscheinen von Küngs Buch Christ sein nie darüber verständigen, dass und warum sie beide dasselbe Buch - gerade weil es historisch interpretierte - so grundverschieden beurteilten. Der spätere Glaubenshüter hat nie aus Distanz zu argumentieren gewusst. Solches Denken, zu dem sich Küng von Ratzinger doch ermutigt sah, ist, wie Ratzinger später sagen wird, von Anfang an "der Fäulnis" übergeben. Aber auf diese Psychologie kommt es kommt es nicht an. Sie soll nur zeigen, wie sehr Ratzinger immer misstraute und wie tief sein Abgrenzungsbedürfnis ging. Oft aber wird die biographisch inhaltliche Frage gestellt: Hat Ratzinger sich in den Jahren nach dem Konzil geändert? M.E. haben sich seine Inhalte - von einem Punkt abgesehen - nicht geändert. Aber verfestigt haben sich die Entschiedenheit und der Entschluss, seine Linie im vermeintlichen Dienst der Kirche kompromisslos zu verfolgen. Krise war angesagt und diese Krisenstimmung hat bis zum heutigen Tag angehalten. Das Problem seiner Entwicklung liegt wohl in dieser Verhärtung, die den Streit um die bessere Position nicht zum offenen Disput werden ließ. Insofern war er nie akademischer Theologe, nicht einmal ein guter Scholastiker. Seine Alternative hieß seitdem und unverändert: Wahrheit oder Verderben. Wie lässt sich Ratzinger Theologie beschreiben? Ich sage, inhaltlich habe sich Ratzinger nicht geändert. Er hatte aber ganz anders begonnen als etwa K. Rahner, Y. Congar,E. Schillebeeckx oder H. Küng. Als junger Theologe hat er zunächst bei Augustinus und Bonaventura gelernt; er übernahm die Inspiration der nouvelle théologie an inhaltlichen Punkten, deren Methode interessierte ihn weniger. Er suchte also die altkirchliche und mittelalterlich vortomasische Symbolwelt, deren weisheitliches Sprechen von Gestalt und Erfahrungen der Gnade. Von v. Balthasar hat er gelernt, dass Glaube immer gestaltetes Leben, also immer konkrete Lebensgestalt ist, aber in seiner theoretischen Ausarbeitung hat Ratzinger es immer in ein neuplatonisches System eingewoben und in ihm verarbeitet. Das Geheimnis war ihm mit dem "Unsichtbaren" identisch. Die Hinwendung zur Empirie eines Albertus Magnus und der nüchterne Aristotelismus eines Thomas von Aquin, in denen sich ein Wirklichkeitsbezogenes Denken intensiv vorbereitete, hatten sich bei Bonaventura noch nicht durchgesetzt. In diesem Sinn blieb Ratzinger immer bei einer vorneuzeitlichen Kirchenlehre stehen. An sich besagt das noch keine Kritik, denn diese Theologie - eine Theologie der spirituellen Erfahrung - hat wichtige Aspekte lebendig gehalten, die in einer rationalen Scholastik unterzugehen drohten. So galt Ratzinger während des Konzils zu Recht als Erneuerer, dies aus zwei Gründen. Zusammen mit anderen Erneuerern verschaffte er der Spiritualität, einem geistlichen Schriftverständnis und der Überwindung eines ausgetrockneten Rationalismus Nachdruck. Er setzt damit ein Erbe von R. Guardini und H. U. von Balthasar fort". Zugleich wurde er zum Verfechter der alten Kirchenstruktur. Wie der frühe Balthasar noch von der "Schleifung der Bastionen" schrieb, so erwies er sich als Kritiker des römischen Zentralismus. Aber mit der "Ortskirche", von der er sprach, waren nicht die Pfarrei oder eine Gemeinschaft von Glaubenden gemeint, sondern das Bistum, als die "Kirche", der ein Bischof vorsteht. Die Kirche ist also kein monolithischer Block, sondern eine Gemeinschaft von Kirchen. Der erste Ansatz ließ Ratzinger später zum Kritiker werden, denn er wollte die spirituelle Erfahrung von Christen - nun sehr pauschal gesagt - im Rahmen der Alten und der Mittelalterlichen Frömmigkeitsstile halten. Er vertritt eine mönchische, eine nach innen gewandte und platonisch argumentierende, eine kirchlich integrierte und kirchlich agierende Spiritualität. Mit den Möglichkeiten neuerer Spiritualität, die sich nicht auf die alte berufen konnte, hat er sich nie auseinandergesetzt, wohl nie auseinandersetzen wollen. Neuen Ansätzen, etwa der Befreiungstheologie, hat er sich immer und strikt verweigert, dies, obwohl etwa G. Gutiérrez Bücher von hoher spiritueller Qualität geschrieben hat. Zu den absurdesten, geradezu lächerlichen Maßnahmen, die er als Präfekt der Glaubenskongregation durchsetzte, gehörte das "Bußschweigen", das im Mai 1985 L. Boff wegen seines Buches zu Fragen der Kirchenstruktur auferlegt wurde. Der zweite Ansatz, der ihn während des Konzils so "fortschrittlich" machte, ließ ihn später zum ausdrücklichen Kritiker werden. Allerdings unterlag dieser Ansatz von Anfang an einem Missverständnis. "Ortskirche" bedeutete, wie gesagt, für den Kenner altkirchlicher und mittelalterlicher Theologie nicht etwa Stärkung einzelner Pfarrgemeinden, geschweige denn die Stärkung der dort versammelten Charismen und Funktionen, vom Schreckbild einer Basisgemeinde keine Spur. Der Begriff der "Ortskirche" war von Anfang an streng an das Bischofsamt gekoppelt. Er legte allen Nachdruck auf die sakramentalen Strukturelemente der Kirche und konzentrierte sich auf ein sakrales Amtsverständnis. Das bedeutete zwar Annäherung an die östliche Orthodoxie, aber keinerlei Annäherung an ein neueres, gar an ein evangelisches oder freikirchliches GemeindeDenken. Gemäß klassischem katholischem Kirchenverständnis muss die bischöfliche Ortskirche vom Bischofsamt gestärkt werden, nicht umgekehrt. Auch sein dezentraler Ansatz von damals wurde weiterhin von oben nach unten gedacht. Doch hat sich Ratzingers Theologie diese Gedanken nicht zufällig aus der Alten Kirche geholt. Die Ehrlichkeit gebietet es, zwischen Ursache und Wirkung genau zu unterscheiden. Natürlich hat sich bei Ratzinger schon früh eine große Sympathie für die Alte Kirche gezeigt, aber seit dem Ende des Konzils zeigt sich eine genauere Klärung. Streng methodisch gesehen verteidigte Ratzinger die Hochschätzung der Spiritualität sowie die sakramentalbischöfliche Struktur der Kirche nicht, weil er sie persönlich gut fand. Nein, der methodische Zusammenhang ist genau geregelt: Der Systematiker nimmt die Alte Kirche auch für eine gegenwärtige Kirchenreform zum Vorbild, weil sie nach ihm eine bleibende normative Funktion hat, und dies in einem exklusiven Sinn, der selbst die Bedeutung der Bibel relativiert. Sein Ansatz erhebt zunächst durchaus hermeneutischen Anspruch; die Bibel bedarf der Auslegung, in klassischer Terminologie: der Tradition. Aber der historisch erste entscheidende Akt der Übersetzung in eine andere Kultur - nl. In die griechische - hat für alle Zeit ihre vorrangige Bedeutung. Denn damals wurde nicht nur übersetzt, sondern zum ersten Mal ausdrücklich nach der Wahrheit des christlichen Glaubens gefragt. Die "Wahrheit" des christlichen Glaubens hat sich also erst in der Begegnung von jüdischem und griechischem Denken herauskristallisiert. Was das für die Normativität der Bibel genau bedeutet, ist mir nie ganz klar geworden, auch wenn Ratzinger an diesem Punkt bestehende Theorien übernimmt; ich komme später noch einmal darauf zurück. Natürlich sagt auch Ratzinger in Übereinstimmung mit der gesamtkirchlichen Tradition, dass die Schrift die erste und überragende Norm christlicher Wahrheit sei. Dass aber - technisch gesprochen - zum Verständnis und zur Auslegung der Schrift der klassische Konsens der ersten fünf Jahrhunderte gehört, steht für ihn außer Zweifel. Ich vermute, dass dem späteren Bischof und führenden Kurialbeamten, der ständig gegen historische Bibelkritik und Hermeneutik ankämpfte, ein möglicher Dissens zwischen Schrift und Tradition nie zum konkreten Problem wurde. Bleibt nur ein Punkt, der sich beim späteren Kurienbeamten nach meinem Urteil deutlich geändert hat, das ist sein römischzentralistisches Kirchenkonzept mit all seinen klassischen Zutaten, nämlich Jurisdiktionsprimat und Unfehlbarkeit, der Anspruch der Kurie und die Fixierung einer Gehorsamsideologie, die Glaubensbekenntnisse mit Eidestexten verwechselt. Warum aber wurde Ratzinger unversehens zur Speerspitze der Restauration? Warum ließ dieser sanfte und feinfühlende Denker später die Köpfe von Kolleginnen und Kollegen rollen? Warum mauserte ausgerechnet er sich zum theologischdoktrinalen Robespierre der nachkonziliaren Kirche? Warum kämpft er mit wachsender Verhärtung und - man kann es nicht anders sagen - Verachtung gegenüber ungezählten engagierten Christen für die Repristination vorkonziliarer Zustände? Dass Verhärtungen früh auftreten und gefördert werden, haben wir gezeigt. Das Gesagte reicht aber zur Erklärung nicht aus. Ratzinger behauptet, er selbst habe sich nicht geändert. Von seinem Zentralismus abgesehen, mag er Recht haben. Zugleich hat er Unrecht, denn er änderte sich natürlich in der Art, wie er auf neue Entwicklungen reagierte. Niemand kann im Rahmen geschichtlicher (d.h. auch immer: biographischer) Änderungen derselbe bleiben. Vermutlich ist das sein Hauptproblem. Was hat sich geändert? Aber es wäre auch zu einfach, wolle man behaupten, die so genannten Reformer seien treu auf dem einmal eingeschlagenen Pfad geblieben. Wir müssen einfach zugeben und sehen, dass viele theologische Reformer den vom Vaticanum eingeschlagenen Weg inhaltlich weitergegangen sind und damit mehr und Grundsätzlicheres änderten als man das auf dem Konzil vorhersehen konnte. Oft lässt sich die kirchliche Legitimität dieses Weges nicht an objektivierbaren Positionen ablesen. Wie sollen wir uns das anders vorstellen? Zunächst ist kein Geheimnis: Viele Texte des Vaticanums sind durch und durch mehrdeutig, ambivalent, von Kompromissen geprägt. Auf dem Konzil wurden ungleich mehr Entscheidungen vertagt als genommen, mehr in Kompromissformeln aufgehoben oder geradezu konterkariert als korrekt gelöst. So musste nach dem Konzil ein intensiver und oft gegensätzlicher Interpretationsprozess einsetzen, der bis heute noch nicht zu Ende ist. Niemand kennt bislang für einen solchen Prozess bessere Kategorien als die von "Buchstabe" und "Geist". Man mühte sich um den Geist des Konzils. Darauf gehe ich hier nicht näher ein. Aber setzen wir einmal voraus, dass bestimmte Theologen im Geist dieses Konzils weitergingen. Gerade sie haben in den Jahren nach dem Konzil und - um es pathetisch zu sagen - im Gehorsam gegenüber dem Geist des Konzils ihre Positionen ständig überprüft und geändert. Dafür könnte E. Schillebeeckx als ein eklatantes Beispiel angeführt werden; er hat die Stationen seiner Veränderungen auch nie geleugnet. Ein anderes Beispiel ist die theologische Entwicklung von Hans Küng. Schon sein Buch Die Kirche (1967) ist geschrieben als kritische und durchaus aufmüpfige Weiterführung des Konzils. Küng begann, wie bekannt, dieses Buch schon während der Konzilszeit zu schreiben, als er nämlich zur Überzeugung kam, dass die Kirchenkonstitution des Konzils den Durchbruch nur andeutet, aber nicht erarbeitet. Küng beruft sich im Folgenden nicht aufs Konzil, sondern auf die Schrift. So ist die spätere Theologie oft getragen von einer Botschaft, die lauten könnte: "Wer das Konzil richtig verstanden hat, muss zur Folgerung kommen…", oder: "wenn das Konzil konsequent gewesen wäre, hätte es dieses Problem gesehen…", oder: "Wenn die Konzilsväter nicht erneut von der Kurie unter Druck gesetzt worden wären, wären noch andere Themen (z.B. Zölibat und Sexualmoral) besprochen worden". So begibt sich Küng in einen Prozess, den Ratzinger nur als "Herunterinterpretieren" wahrnehmen kann. Noch offenkundiger erscheinen Änderung oder Bruch in Christ sein (1974) mit seinem Programm einer "Christologie von unten", deren Methode in der vorausgegangenen schwierigen Hegelmonographie sozusagen dokumentiert ist. Natürlich ist da - mit den Augen eines Konservativen gesehen - Ungeheuerliches geschehen. In diesen ungeheuren Umschwung gehören auch das erste Jesusbuch von E. Schillebeeckx (1974) sowie die Christologie von L. Boff (1978). Ebenso dramatisch, wenn nicht gar dramatischer, war dann die Veränderung einer umfassenden theologischen Landschaft. Es kommt - neben den Schwarzen Theologen - die lateinamerikanische Befreiungstheologie auf mit G. Gutiérrez als dem großen Bannerträger (1971), den Rom noch heute zusammen mit anderen zu demütigen pflegt. Danach überschwemmte eine Springflut neuer theologischer Ansätze von emanzipatorischer (sozialkritischer, kontinentaler, kontextueller, feministischer) Prägung die katholische Kirche. Sie alle berufen sich auf das 2. Vatikanische Konzil, aber kaum etwas von ihren Inhalten ist in den Konzilstexten zu finden. Schließlich muss die wachsende Aufmerksamkeit für eine dialogisch geschwisterliche Haltung gegenüber den anderen Religionen genannt werden. Die Frage nach Wert und Bedeutung anderer Religionen wird inzwischen in allen großen Sprachräumen gestellt. In der Regel wird ihnen - mit guten exegetischen und systematischen Gründen - ein Heilswert zuerkannt. Diese Entwicklungen quittiert der routinierte Glaubenspräfekt - getreu seinem lebenslangen FreundFeindSchema - mit Begriffen wie "Relativismus", "Pluralismus", "Subjektivismus", "Eklektizismus", "Indifferentismus" oder "metaphysische Entleerung". Hat er einfach Unrecht? Man wird einfach zugeben müssen, dass sich das 2. Vaticanum trotz eines grundsätzlichen Durchbruchs mit dem Recht auf Religionsfreiheit immer noch schwer tat. Man hat es ebenso mit Vorbehalten umgeben, wie man die Unterscheidung zwischen "Kirchen" und "kirchlichen Gemeinschaften" nicht abzuschaffen wagte. Ratzinger mag also derselbe geblieben sein, wenn er sich isoliert von dem betrachtet, was um ihn herum passiert und was geschehen ist. Aber den Erneuerern wurde of t zu wenig bewusst, wie radikal die Veränderungen sind, die sie eingeleitet haben. Auch kritische Theologen möchten sich allzu oft mit reiner Kontinuität legitimieren, und von wenigen Einzelgruppen abgesehen wird Theologie noch immer als ein großes Harmonieunternehmen verstanden. Diese Naivität fortschrittlicher Theologie macht sie oft wehrlos. Die Selbstisolation und Verhärtung Ratzingers, die bisweilen an den Rand des selbst auferlegten Schismatikertums reicht, gewinnt genau daraus ihre Stärke. Bis heute lässt sich der Durchschnittstheologe, Mann oder Frau, zur Verteidigung zwingen, indem er seine Kontinuität mit der Tradition zu beweisen sucht. Die Kunst des Angriffs und der Verweigerung sind immer noch verpönt. Warum eigentlich? Würden wir diese Schwäche durchbrechen, wir könnten noch deutlicher machen, dass jede schöpferische Theologie nicht Beharren auf alten Positionen, sondern wie alle menschliche Aktivität ein Geschehen in Beziehung ist. Die aktuelle Situation Hier ist nicht der Ort, den theologischen Weg des Glaubenshüters im Detail weiter zu verfolgen. Bekannt wurde Ratzinger in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht etwa als Erneuerer von Kirche und Theologie, sondern als effektiver Stabilisator, sozusagen als Betonarbeiter in den kirchlichen Fundamenten; das ist jedenfalls ein öffentliches Image. Fraglos hat Ratzinger in den vergangenen Jahrzehnten die Theologiepolitik der katholischen Kirchen entscheidender mitgeprägt als jeder andere seiner Generation. Wenn die Zeichen nicht trügen, ist er jetzt dabei, sein Lebenswerk allmählich abzuschließen. Dass die Urteile darüber nicht gut sind, setzen wir als bekannt voraus. "Jesus gefangen genommen und der Hl. Geist in Pension geschickt", so der Titel eines brasilianischen Artikels zum letzten Dokument. Aber machen wir es uns nicht zu einfach. Wie interpretiert Ratzinger die aktuelle theologische Lage, die kulturelle Situation selbst? Von hohem Interesse zur Beantwortung dieser Frage ist ein Artikel, den Ratzinger, wie gesagt, am 8. Januar 2000 in der FAZ veröffentlichte. Ich möchte ihn kurz analysieren und ihn dann mit dem Dokument Dominus Iesus konfrontieren. Verlust der Wahrheit In vielem spricht der Artikel für sich selbst. Sein Titel lautet: "Der angezweifelte Wahrheitsanspruch. Die Krise des Christentums am Beginn des dritten Jahrtausends". Damit ist die Leitperspektive seines Autors klar. Nach wie vor befindet sich das gegenwärtige Christentum in, wie er sagt, "einer tiefgehenden Krise", denn dessen Wahrheit, oder besser: sein Wahrheitsanspruch ist in Gefahr. Ich gehe hier nicht auf die Tatsache ein, dass der Verteidiger römischer Territorien nur das westliche Christentum zu meinen und zu kennen scheint. Nehmen wir diese Beschränkung einmal an. Sein Krisenbewusstsein ist immer noch sehr ausgeprägt. Es bricht, wie wir sahen in den Jahren nach dem Konzil durch. Es artikuliert sich zum ersten Mal - und in paradigmatischer Weise - bei seiner früheren Auseinandersetzung mit der historischen Bibelkritik, etwa in seiner Christologievorlesung vom Jahre 1967 - und hält sich später durch bis auf den heutigen Tag. Diese Krise berührt deshalb die Grundfesten des christlichen Glaubens, weil nicht (nur) die Wahrheit)en) des Christentums, sondern dessen Wahrheitsanspruch selbst angegriffen wird. Nach Ratzinger hat auch diese Wahrheitsbestreitung noch einen tieferen Grund. Man (d.h. die heutige Kultur, die Menschen von heute, der Zeitgeist) halte die Erkenntnis und die Formulierung von Wahrheit überhaupt nicht mehr für möglich. "Relativismus" wurde diese postulierte Haltung schon im Syllabus des nun seligen Pius IX. umschrieben. Das Problem ist nur, dass die so Beschimpften sich nur selten diese Etikette anhaften lassen. Auch dieser Artikel macht also von Anfang an deutlich: Im römischen Kampfprogramm für eine restaurierte Kirche geht es nicht um Nuancen, sondern um allesodernichts. Natürlich hat der Zensor aller katholischen Theologen mit seinem Hauptanliegen Recht, und wer wollte ihm widersprechen? Wenn das Christentum nicht mehr aus der Perspektive der Wahrheit betrachtet werden kann, dann hat es sich selbst aufgegeben. Dabei macht er sich die Analyse in seinem Artikel nicht leicht; sie liest sich jedenfalls anspruchsvoll. Denn seiner oben genannten Methode gemäß liegt ihm daran, die Verschleierungstaktik des Unternehmens bloßzustellen; der Ideologe betreibt sozusagen Ideologiekritik. Er sieht den "ersten Grundgedanken" dieses falschen Denkens bei Porphyrios" so formuliert: Latet omne verum - alle Wahrheit ist verborgen. Es ist ein Gedanke, in dem sich nach Ratzinger Buddhismus und Neuplatonismus begegnen. Ihm gemäß gibt es über die Wahrheit und über Gott nur Meinungen, keine Gewissheit. "In der Krise Roms im späten vierten Jahrhundert hat der römische Konsul Symmachus die neuplatonische Auffassung auf einfache und pragmatische Formeln gebracht, die wir in seiner 384 vor Kaiser Valentinian II. gehaltenen Rede zur Verteidigung des Heidentums und für die Wiederaufstellung des Altars der Göttin Victoria im römischen Senat finden können. Ich zitiere nur den entscheidenden und berühmt gewordenen Satz: ‚Das Gleiche ist es, was alle verehren, eines, das wir denken, dieselben Sterne schauen wir, der Himmel über uns ist eins, dieselbe Welt umfängt uns; was macht es aus, auf welche Art von Klugheit der Einzelne die Wahrheit sucht? Man kann nicht auf einem einzigen Weg zu einem so großen Geheimnis gelangen'. Der entscheidende Punkt und die entscheidende Verschleierungsstrategie in Ratzingers Analyse besteht nun darin, dass er solche Sätze eben nicht genau untersucht, nicht differenziert, geschweige denn fragt, ob andere genau dasselbe sagen. Nein, bei Ratzinger geraten solche Aussagen zur Denunziation einer schlechten Haltung. So deutet er immer nur Richtungen an; er setzt kritischen Verdacht in Gang. Wer auch immer - ob im Gnostizismus oder im Buddhismus, ob in der Aufklärung oder im modernen Religionsdialog - den Gedanken einführt, die Wahrheit sei verborgen und im letzten nicht erkennbar, vielleicht unaussprechlich, macht sich dieses Relativismus und der Unfähigkeit schuldig, den Wahrheitsanspruch des Glaubens zu entdecken. Wahre Religion - die wahre Religion Ein zweiter Gedankengang Ratzingers verläuft wie folgt: Ursprünglich hat das Christentum Elemente der philosophischen Aufklärung übernommen. Dadurch hat es das Judentum überwunden und aus ihm einen universalen Wahrheitsanspruch entwickelt; mehr noch, als einzige der existierenden Religionen hat es ausdrücklich die Wahrheitsfrage gestellt. Deshalb kann, so der Autor, das Christentum als vera religio, als wahre Religion, verstanden werden. Nun, wer wollte sich dieser Analyse entziehen und leugnen, dass die christliche theologische Tradition die Frage nach der Wahrheit immer wieder, mit größtmöglicher Schärfe und Leidenschaft gestellt hat? Aber die Fußangeln der Argumentation sind nicht zu übersehen. Zur Abgrenzung vom Judentum argumentiert er zunächst formal und kaum widerlegbar. Die Christen haben sich zunächst der Synagoge angeschlossen. "Bei diesem Anschluss an die Synagoge blieb ein unbefriedigender Rest: Der Nichtjude konnte doch immer nur ein Außenstehender sein und nie ganz zugehörig werden." Das Judentum bleibt also eine partikulare Religion. "Diese Fessel war im Christentum durch die Gestalt Christi, wie Paulus sie auslegte, gesprengt." Erst in Jesus also geschieht der entscheidende Durchbruch. Er lautet: Universalität und Wahrheit, Versöhnung von Religion und Philosophie, und dies weiß Ratzinger in einem großen historischen Bogen, sozusagen mit gekonnten Strichen, anzudeuten: "Nun erst war der religiöse Monotheismus des Judentums universal geworden und damit die Einheit von Denken und Glauben, die religio vera, allen zugänglich. Just der Philosoph, Justin der Märtyrer (gestorben 167), kann als symptomatische Figur für diesen Zugang zum Christentum als vera philsophia gelten. Mit seiner Christwerdung hatte r seiner eigenen Überzeugung nach die Philosophie nicht abgelegt, sondern war erst ganz Philosoph geworden. Die Überzeugung, dass das Christentum Philosophie sei, die vollkommene, das heißt zur Wahrheit durchgestoßene Philosophie, blieb noch weit über die Väterzeit hinaus in Geltung. Sie ist im vierzehnten Jahrhundert in der byzantinischen Theologie bei Nikolaus Kabasilas noch ganz selbstverständlich gegenwärtig. Freilich war Philosophie dabei nicht als akademische Disziplin rein theoretischer Natur verstanden, sondern vor allem auch praktisch als die Kunst des rechten Lebens und Sterbens, die jedoch nur im Licht der Wahrheit gelingen kann. Auf den Übergang vom Judentum zur (griechischen) Philosophie komme ich weiter unten zu sprechen. Im Übrigen wirft die großräumige Skizze natürlich Fragen auf. Immerhin liegen zwischen Jesus und Justin 130 bis 140 Jahre, und bis die christliche Philosophie die Epoche des Nikolaus Kabasilas erreicht hat, war das Christentum von einigen Krisen erschüttert. Die entscheidende Schwäche der Argumentation liegt an einem anderen Punkt. Der besorgte Zeitkritiker behauptet, erst im Übergang zum Griechentum habe man die Frage nach der Wahrheit dieser Religion gestellt. Aus dieser Frage wird für ihn unversehens die Wahrheit dieser Religion selbst. Oder umgekehrt gesagt: da keine andere Religion (auch das Judentum nicht) die Frage nach der Wahrheit so gestellt hat, kann sie auch nicht die wahre Religion sein. So kann wohl nur argumentieren, wem die Wahrheit anderer Religionen nie zum Gegenstand selbstkritischer Überlegungen geworden ist. Ist Ratzingers Argumentation also doch Ausdruck eines binnenchristlichen Provinzialismus? Verlust der Metaphysik Die auffallendste Eigenschaft des genannten Artikels ist wohl das uneingeschränkte Lob der Aufklärung und seine Hochschätzung von Verstand und Rationalität. Allerdings unterscheidet er streng zwischen der Aufklärung in der Antike und jener schlechten Aufklärung der Neuzeit. Wie kann Ratzinger aber die Aufklärung der Antike so loben, der Aufklärung der Neuzeit dann aber eine entscheidende Absage erteilen? Der geübte Polemiker entwickelt eine Argumentationsfigur, die sich bei ihm immer öfters wiederholt und mit der er unbefangene Zuhörer immer wieder überrascht. Es ist ein Argument, das er gegen alle (vermeintlichen) katastrophalen Fehlentwicklungen ins Feld führt. Die Antwort lautet: Die Krise des Christentums geht auf den Verlust der Metaphysik zurück. Ratzinger schreibt: "Die philosophische Grundlage des Christentums ist durch das ‚Ende der Metaphysik' problematisch geworden, seine historischen Grundlagen stehen infolge der modernen historischen Methoden im Zwielicht. So liegt es auch von daher nahe, die christlichen Inhalte ins Symbolische zurückzunehmen, ihnen keine höhere Wahrheit zuzusprechen als den Mythen der Religionsgeschichte - sie als Weise der religiösen Erfahrung anzusehen, die sich demütig neben andere zu stellen hätte. In diesem Sinn kann man dann - wie es scheint - fortfahren, ein Christ zu bleiben; man bedient sich weiterhin der Ausdrucksformen des Christentums, deren Anspruch freilich von Grund auf verändert ist: Was als Wahrheit verpflichtende Kraft und verlässliche Verheißung für den Menschen gewesen war, wird nun zu einer kulturellen Ausdrucksform des allgemeinen religiösen Empfindens, die uns durch die Zufälle unserer europäischen Herkunft nahe gelegt ist." Später gibt er indirekt eine Umschreibung dessen, was er unter Metaphysik versteht. Dabei zeigt sich, dass er den komplizierten Begriff "Metaphysik" höchst global mit dem Glauben an einen letzten Sinn identifiziert. Wer Metaphysik also ablehnt, glaubt - man kann nur staunen - nicht an einen letzten Sinn der Wirklichkeit. Die Alternative zu Metaphysik lautet Nihilismus. Im Text heißt es: "Letzen Endes geht es um die Frage, ob die Vernunft beziehungsweise das Vernünftige am Anfang aller Dinge und auf ihrem Grunde steht oder nicht. Es geht um die Frage, ob das Wirkliche aufgrund von Zufall und Notwendigkeit, also aus dem Vernunftlosen entstanden ist, ob mithin die Vernunft ein zufälliges Nebenprodukt des Unvernünftigen und im Ozean des Unvernünftigen letztlich auch bedeutungslos ist oder ob wahr bleibt, was die Grundüberzeugung des christlichen Glaubens und seiner Philosophie bildet". Jetzt ist der Boden für den Höhepunkt des Artikels bereitet. Ratzinger schreibt: "In principio erat verbum - am Anfang aller Dinge steht die schöpferische Kraft der Vernunft. Der christliche Glaube ist heute wie damals die Option für die Priorität der Vernunft und des Vernünftigen. Diese Letztfrage kann nicht mehr durch naturwissenschaftliche Argumente entschieden werden, und auch das philosophische Denken stößt hier an seine Grenzen. In diesem Sinn gibt es eine letzte Beweisbarkeit der christlichen Grundoption nicht. Aber kann die Vernunft auf die Priorität des Vernünftigen vor dem Unvernünftigen, auf die Uranfänglichkeit des Logos verzichten, ohne sich selbst aufzuheben? Die Vernunft kann gar nicht anders, als auch das Unvernünftige nach ihrem Maß, also vernünftig zu denken, womit sie implizit doch wieder den eben geleugneten Primat der Vernunft aufrichtet. Durch seine Option für den Primat der Vernunft bleibt das Christentum auch heute ‚Aufklärung'". Man mag von diesen Ausführungen, zudem gekonnt formuliert, begeistert sein. Die Begeisterung verfliegt schnell, wenn man Gegenfragen stellt und damit auf genaueren Auskünften besteht vielleicht die folgenden: Ist es richtig oder nicht in höchstem Masse eine Simplifikation, wenn man dieses "Ja zum Vernünftigen und Sinnvollen" pauschal und ohne weiteres mit "Metaphysik" identifiziert? Die Antwort lautet eindeutig "Nein", denn natürlich kann man auch ohne Metaphysik im strengen Sinn und außerhalb ihrer bejahen, dass die Welt sinnvoll ist. Nach Ratzingers Ansatz leugnet jeder Mensch einen Weltsinn, der ein kritisches Verhältnis zur Metaphysik hat. So macht sich der selbsternannte Philosophenkritiker einer erstaunlichen, einer unerlaubten und für seine Gegner katastrophalen Vereinfachung schuldig. Sie ist deshalb verwerflich, weil er mit dieser Strategie all denjenigen den wahren Glauben abspricht, die "Metaphysik" ablehnen. Das ist ein Standpunkt, der seit Descartes, spätestens jedoch seit Kant falsch und billig ist. Eine weitere Gegenfrage kann lauten: Wie beurteilt der oberste Glaubenswächter diejenigen, die gerne glauben möchten, aber mit der grauenhaften Wirklichkeit, mit ihrem Elend nicht mehr zu Rande kommen? Hiob, Auschwitz, der frühe Tod geliebter Menschen? Ratzinger unterscheidet nicht zwischen Metaphysik als einem Basissystem oder Bezugsrahmen, innerhalb dessen von Wahrheit gesprochen wird, und einer konkreten Wirklichkeitserfahrung, die mit Verzweiflung und Sinnverlust konfrontiert sein kann. Diese mangelnde Sensibilität in Ratzingers Schema von Freund und Feind gehört zu dem Gefährlichsten, das seine Botschaft ausstrahlt. Die folgende Frage lautet: Was sollen wir zu Ratzingers Umschreibung von Metaphysik überhaupt sagen? Auch nur geringste Kenntnis von Begriff und Sache besagt, dass "Metaphysik" eine höchst undeutliche und differenziere, eine historisch beladene, eine mit der griechischen Philosophie eng verschwisterte Angelegenheit ist. Es ist zudem eine Angelegenheit, die Glauben immer wieder mit falschen Vorstellungen belastet, mit Theoriesystemen überladen und mit dem Anschein höheren Wissens verfälscht hat. Soll wirklich behauptet werden, dass das Christentum von der "Metaphysik" dieses Zuschnitts abhängt? Die Stärke von Ratzinger war schon immer, dass er komplexe Zusammenhänge einfach und durchsichtig auf den Punkt bringen kann. Seine große Gefahr (der er hier erneut erliegt) ist dabei: Aus der Konzentration wird Simplifikation, aus der Kritik pure Ideologie. Wenn Kant die Metaphysik kritisiert, dann stellt er eben ein erkenntnistheoretisches Problem, keinen Glauben zur Debatte. Wenn Hegel umgekehrt sein System der Dialektischen Philosophie entwirft, dann stellt er philosophisches Denken zwar in Ehren wieder her; er lässt damit aber die griechische und klassische mittelalterliche Metaphysik hinter sich. Wenn Heidegger schließlich vom "Ende der Metaphysik" spricht, dann denkt er eben ans Ende eines objektivierenden, verdinglichenden, hermeneutisch naiven Sprechens von der letzten Wirklichkeit (das er "ontotheologisch" nennt) und eröffnet dem Glauben damit wieder einen neuen elementaren Weg. Kurz, ein solcher Begriff eignet sich gerade nicht dazu, mit einem großen Gestus die ganze Epoche der Neuzeit in den Orkus des Unglaubens zu verbannen. Hinzu kommt schließlich das ungeklärte Verhältnis von Metaphysik und Religion. Zur wahren Universalität findet der Glaube nach Ratzinger erst bei der Begegnung mit der Metaphysik. Jener ungeduldige und ohne Bibliothek umherwandernde Prophet namens "Jesus" ist offensichtlich zu jener Würde noch nicht aufgestiegen. Zwar mag man auf solchen Überzeugungen eine elitäre Religionsphilosophie aufbauen, nur hat diese wenig mit Jesus zu tun. Und schließlich: Der geübte Rhetoriker Ratzinger lässt seine Ausführungen zur Metaphysik im Beginn des Johannesprologs kulminieren. Will und kann er aber jenen Logos des Beginns wirklich so unkritisch mit Metaphysik identifizieren? Dieses waghalsige Unterfangen verbietet sich in jeder Hinsicht. Zu behaupten, dass man "Logos" mit "Vernunft" übersetzen müsse und dass Dissidenten damit die Grundlage des Christentums aufgäben, das ist schon ein starkes Stück der Geschichtsklitterung, Verfälschung unserer Denkgeschichte. Die Diskussion über die Herkunft und Bedeutung des Johannesprologs ist noch lange nicht ausgestanden. Viele sehen einen deutlichen hellenistischen Einfluss. Andere lehnen diese These ab. In jedem Fall wird seine philosophische Herkunft (und Affinität) stark bezweifelt. Wollte man behaupten, die Schöpfungsgeschichte Gen 1, in der die Welt durch Gottes Wort geschaffen wird, sei vom Hellenismus geprägt? Und selbst wenn das so wäre, dann bietet das Neue Testament noch immer eine Fülle anderer Ansätze, die der Christologie als Ausgangspunkt hätte dienen können. Es hätte - wie bekannt - auch zu einer Weisheit oder Geist, zu einer deutlichen nachfolgen oder einer EbedJahweChristologie, zu einer Menschensohnchristologie oder einer Christologie von letzten Propheten kommen können. An diesem Punkt ist Ratzinger ein schwerer Vorwurf zu machen: Er missbraucht den wunderbaren Satz des Johannesprologs zur Verteufelung all derer, die nicht mehr der hellenistischen Christologie folgen. Rolle und Bedeutung der Alten Kirche Diese unkritische Identifikation von Christentum und - durchaus griechischer - Metaphysik führt zum Kern der Argumentation. Diese Identifikation hat zwei wichtige Voraussetzungen. Die erste Voraussetzung lautet: Die Metaphysik wurde aufgegeben, abgelöst von einer erkenntniskritischen Philosophie, später von dem Anspruch der Naturwissenschaften. Schließlich hat die Evolutionstheorie deren Bedeutung übernommen. Diese gilt jetzt, wie Ratzinger sagt, als die "Erste Philosophie". Das ist ein Modell des kontinuierlichen Abfalls, bekannt aus früheren Formen einer Geschichtsschreibung, die im Anfang das Paradies und in der Gegenwart das Verderben sieht. Ich weiß nicht, welche Historiker, Kulturwissenschaftler und Theologen diese Überzeugung noch teilen. Diese Krisenhermeneutik wirft schließlich alles in einen Topf - von Descartes über Spinoza, Leibniz und Kant, bis hin zu Darwin und der modernen Genetik. Sie alle bezeugen den Weg des Unglaubens. Ratzinger bedient damit ein ausweglos konservatives, wenn nicht gar ein reaktionäres Klischee, das vielleicht der gegenwärtigen Stimmung dient. Seit der Aufklärung, so eine nostalgische und resignierte Geschichtsinterpretation, geht es mit dem Abendland kulturell und religiös bergab. Jetzt gibt es überhaupt keine Orientierung mehr; innerhalb und außerhalb der Kirche driftet das Boot steuerlos ab. Mit solchen Gedanken gewinnt Ratzinger gewiss jene Leser, die den Felsen Petri als letztes Bollwerk gegen die Stürme der Zeit sehen. Dabei bedarf er aber einer komplizierten Gedankenkonstruktion, um das Phänomen der "Aufklärung" zwei zu teilen und damit im Grund zu töten. Zwar ist das Christentum die Frucht der antiken Aufklärung; sie hat dem neuen Glauben die Frage nach der Wahrheit eröffnet. Doch davon muss jene zweite Aufklärung der Neuzeit unterschieden werden, die nach Ratzinger zwischen Denken und Glauben einen Graben aufgeworfen hat. Warum und wie das geschehen ist, das erklärt Ratzinger leider nicht. Die zweite Voraussetzung lautet: Das Christentum findet seine Identität erst in dem Augenblick, da sich die religiösen, noch mythischen Traditionen des Judentums (und Jesu?) mit der philosophischen Tradition des Griechentums verschwistern und von ihr läutern lassen. Dieser Gedankengang zeigt sich schon in der Einführung ins Christentum. Dort umschreibt Ratzinger die Sache des Glaubens zunächst in schöner, durchaus noch gültiger und biblisch inspirierter Weise: "Glauben ist die nicht auf Wissen reduzierbare, dem Wissen inkommensurable Form des Standfassens des Menschen im Ganzen der Wirklichkeit, die Sinngebung, ohne die das Ganze des Menschen wortlos bliebe, die dem Rechnen und Handeln des Menschen vorausliegt und ohne die er letztlich auch nicht rechnen und handeln könnte, weil er es nur kann im Ort eines Sinnes, der ihn trägt." Kurz darauf aber kommt eine unerwartete Präzisierung hinzu. Glaube ist, so der Kenner der Kirchenväter, auch "das Bekenntnis zum Primat des Unsichtbaren als des eigentlich Wirklichen, das uns trägt." Diese Terminologie erstaunt, denn so würden wir die Sache Jesu nicht unbedingt zusammenfassen. Drei Seiten später wird dann klarer, was mit diesem Unsichtbaren gemeint ist. Es geht um das Unsichtbare, um den "Logos", den "Grund", den "Sinn" der Dinge. Diese Umschreibungen sind nun eher griechisch als biblisch inspiriert, und es folgt der für Ratzingers Denken unverzichtbare Satz: "Ich bin der Überzeugung, dass es im tiefsten kein bloßer Zufall war, dass die christliche Botschaft bei ihrer Gestaltwerdung zuerst in die griechischem Welt eintrat und sich hier mit der Frage nach dem Verstehen, nach der Wahrheit verschmolzen hat." Auf diesem Punkt wird Ratzinger später noch deutlicher bestehen. Genau das ist aber der Punkt, der dem Wahrheitsmodell von Ratzinger die entscheidenden Konturen gibt: erst im Kontakt mit der griechischen - einer faktisch platonischen - Metaphysik hat das Christentum seine für die Wahrheit tragfähige, seine entscheidende Gestalt erhalten. Diese Vermutung kristallisiert sich später immer deutlicher zur entscheidenden These, zur geradezu zentralen Kampfparole von Ratzinger Theologie heraus. Nun mag man diese Botschaft für tiefsinnig, hochgeistig und äußerst interessant halten (sie stammt übrigens nicht von Ratzinger, sondern hat ältere theologische Wurzeln). Viel nüchterner wird die Botschaft dagegen, wenn man sie auf den konkreten Alltag von Kirche und Theologie bezieht. Für Ratzinger nämlich wird diese Einsicht zum Schutzschild gegen alle Neuerung. Sie bedeutet schlicht und einfach: Erst in der Entwicklung von Lehre und Theologie in der Alten Kirche kam die Wahrheit des christlichen Glaubens voll ans Licht. Deshalb bleibt diese Lehre der Alten Kirche unabänderlich und für alle späteren Generationen bindend. Es geht, wohlgemerkt, um Gott und Christus, um Kirche und Bischofsamt, um Sakramente und Heil, um den Missionsauftrag, um Engel, Jungfrauengeburt und Teufel, um die Verdammung aller Menschen, die nicht getauft sind sowie um die Tatsache, dass es nur eine wahre Religion, dass es außerhalb dieser Kirche kein Heil gibt. Diese Lehren sind so anzunehmen, wie sie sind. Da ist nichts herum oder "herunter" zu interpretieren. Alle anderen philosophischen Voraussetzungen, die zu Änderungen dieser Lehre führen, bedeuten Abfall von der Metaphysik und darum Abfall von der Wahrheit des Glaubens. Ankerpunkt für die christliche Wahrheit sind nach diesem Konzept, konkreter gesagt, die großen vier Konzilien der ersten fünf Jahrhunderte (consensus quinquesaecularis). Deren Legitimität ist für Ratzingers Theorie von Metaphysik und griechischer Kultur so grundsätzlich begründet, dass über einzelne Punkte nicht mehr zu diskutieren ist. Sie werden - bei aller historischen Einordnung - im Grund unhistorisch, als monolithische Blöcke, interpretiert. Die wahre Geschichte des Glaubens, in der er sich erweitern, differenzieren, anders ausformulieren kann, hört im Grunde mit der Alten Kirche auf. Mit anderen Kulturen und Religionen, mit anderen Konzeptionen von Wahrheit und Verstehen ist im Grunde kein Dialog mehr möglich. Die Härte von Ratzingers Folgerungen aus dieser Monopolisierung wird aus einer anderen Bemerkung deutlich. Er stellt die Wahrheitsfrage - noch einmal - in einen Zusammenhang des Alles oder Nichts, also einer integralistischen Position. Deshalb kann er im folgenden Zitat ganz grundsätzlich fragen: "Ist demnach der Anspruch des Christentums, religio vera (wahrer Glaube) zu sein, durch den Fortgang der Aufklärung überholt? Muss es von seinem Anspruch heruntersteigen und sich in die neuplatonische oder buddhistische oder hinduistische Sicht von Wahrheit und Symbol einfügen, sich - wie Troeltsch es vorgeschlagen hatte - damit bescheiden, die den Europäern zugewandte Seite des Antlitzes Gottes zu zeigen? Muss es vielleicht sogar einen Schritt weiter gehen als Troeltsch, der noch meinte, das Christentum sei die für Europa angemessene Religion, während doch heute gerade Europa an dieser Angemessenheit zweifelt? Dies ist die eigentliche Frage, der sich heute Kirche und Theologie zu stellen haben." Angesichts solch grundsätzlicher Fragewucht werden natürlich alle anderen Probleme relativiert; auch erhalten Leserin und Leser gratis eine Erklärung für ihr Interesse an Buddhismus und Hinduismus mitgeliefert, nämlich: nichts als Zweifel am eigenen Glauben! Nun misst Ratzinger seinem Argument in der Tat ein zentrales Gewicht bei; ihm geht es um nichts als die Wahrheit. Sollten wir unseren obersten Glaubenshüter für diese Konsequenz nicht preisen? So ist er nur konsequent, wenn er sagt: "Alle Krisen im Inneren des Christentums, die wir gegenwärtig beobachten, beruhen nur ganz sekundär auf institutionellen Problemen. Die Probleme der Institutionen wie der Personen in der Kirche rühren letztlich von der gewaltigen Wucht dieser Frage (nach der Wahrheit) her." Das mag für die Betroffenen zwar tröstlich klingen, mit denen sich der Glaubenspräfekt bisweilen anlegt, die er gelegentlich exkommuniziert oder mit einem Bußschweigen belegt, denen er Lehrstühle entzieht oder ein schlichtes Gespräch verweigert. Er bescheinigt ihnen nämlich: Sie führen keinen Kampf um subjektive Zielvorstellungen oder persönliche Privilegien, sondern sie streiten um die Wahrheit. Aber wieder sieht man sich enttäuscht, denn Ratzinger zieht seine Schlüsse in genau der entgegen gesetzten Richtung. Härteste Konsequenz ist auch gegenüber Personen vonnöten; kein Zugeständnis ist erlaubt. Denn wer aus der Reihe tanzt, wer also herunterinterpretiert und sich Subjektivismen erlaubt, bringt das Wahrheitsgebäude der Kirche selbst in Gefahr. Wer - wiederum empfindlich konkret - den altkirchlichen Überzeugungen des Systemwächters widerspricht, hat damit schon bewiesen, dass er die Wahrheitsfrage verraten hat. Ratzingers Heuristik wirkt messerscharf als eine Maieutik des Ketzers. Deshalb steht die Erklärung Dominus Iesus auch bruchlos in der Verlängerung jenes Artikels, mit der der praeceptor fidei das neue Jahrtausend scheinbar so aufklärungsfreundlich, eröffnet hat. Was am 8. Januar mit fein geschliffenen und kenntnisreichen Formulierungen den Leserinnen und Lesern der Frankfurter Allgemeine angepriesen wird, das erscheint in Dominus Iesus jetzt ohne Hülle freundlicher Formeln. Es ist höchstens noch der Unterschied zwischen einer Außen und einer Innenperspektive. Während der Artikel zur Welt hin die Botschaft verbreitet. Die katholische Kirche bietet sich als letzter Zufluchtshafen an in einer Zeit, da die Metaphysik zu Ende ist, redet Dominus Iesus nach innen hin Tacheles, denn die Katholiken haben dieses Versprechen der endgültigen Wahrheit wirklich einzulösen. Da gelten keine Umschreibung, keine Höflichkeit und keine Verzierung mehr. Wenn wir schon Quelle aller Wahrheit sind, dann, bitte schön, haben wir sie mit dem nötigen Selbstbewusstsein auch nach außen zu tragen. Jetzt erfahren wir, dass die römischkatholische Kirche Quelle aller Wahrheit ist. Zum Jahrtausendbeginn gab sich Ratzinger noch epochal und konkret zugleich: "Dies ist die grundsätzliche Herausforderung am Beginn des dritten christlichen Jahrtausends. Die Frage kann nicht rein theoretisch beantwortet werden, wie denn Religion als das Letztverhalten des Menschen nie nur Theorie ist. Sie verlangt jenes Zusammenspiel von Einsicht und Tun, das die Überzeugungskraft des Christentums der Väter (!) begründete." Jetzt gibt er sich in seinen Formulierungen eher schmucklos: "Relativismus" wird an verschiedenen Orten konstatiert. Gegeißelt wird der "Subjektivismus jener, die den Verstand als einzige Quelle der Erkenntnis annehmen und so unfähig werden, den Blick nach oben zu erheben, um das Wagnis einzugehen, zur Wahrheit des Seins zu gelangen". Der Druck der denunziatorischen Sprache ist kaum zu überbieten. Gegen diese "relativistische Mentalität, die sich immer mehr ausbreitet", ist "Abhilfe" zu schaffen. Deshalb ist wieder "fest zu glauben" (eine Formel, die öfters wiederkehrt und strenge Glaubensverpflichtung anmahnt). Woran? Dass etwa in Christus allein die Fülle der Wahrheit wohnt, dass die Erfahrungen anderer Religionen nicht mit dem "Glauben" der christlichen Kirche gleichzusetzen sind, dass nur die biblischen Bücher (und nicht die anderer Religionen) inspiriert sind, dass Jesus Christus wahrer Gott ist, dass es nur die eine Heilsordnung gibt, die in Jesus Christus begründet ist, dass er der einzige Erlöser ist, dass es nur eine, nämlich die von Jesus Christus gestiftete Kirche gibt, dass die katholische Kirche mit dieser ursprünglichen Kirche in Kontinuität steht, dass die evangelischen Kirchen (weil ihnen Bischofsamt und Eucharistie fehlen) keine wirkliche Kirche, sondern - wie das 2. Vaticanum sagt - nur "kirchliche Gemeinschaften" sind. E. Jüngel fragt dazu entsetzt: "Doch sollte das wirklich das Gesetz des ökumenischen Fortschritts sein: inmitten noch so großer Annäherung eine noch immer größere Entfremdung? Was wird nun aus der Ökumene?" In einem Punkt hat sich der Eiferer für den reinen Glauben leider verraten. Ihn interessieren nur noch Einzigkeit und Ausschließlichkeit, der Vorgang und die Superiorität von Religion, Glaube, Kirche und der genannten Metaphysik. Gerade damit hätte die Metaphysik wohl ihre Probleme gehabt, weil sie ihren Wahrheitsanspruch grundsätzlich dem Diskurs aller zur Überprüfung überlässt. Man kann das Dokument auch schlicht mit einer anderen Formel zusammenfassen, die Kritiker unter der Decke der mehr verbindlichen Worte von früher schon immer vermuteten. Es gibt nichts Neues zu verkünden. Die Kernaussagen des christlichen Glaubens sind dieselben geblieben. Sie müssen und sie werden es bleiben. Das 2. Vatikanische Konzil war im Grunde ein Irrtum. Selbst jene berühmte Formel, die zwar niemand verstand, die aber eine Öffnung versuchte: "Die Kirche Jesu Christi subsistiert in der katholischen Kirche", selbst diese Formel wird wieder in einer Weise interpretiert, wie wir das aus früheren Zeiten kannten: Die katholische Kirche ist eben die Kirche Christi. Um dies zu verdeutlichen, hätte man die neue Formel nicht zu schaffen brauchen. Schluss: Wenn Jesus etwas zu sagen hätte Deshalb kann man die Operation des alternden Präfekten auch nüchterner sehen: Die alten Behauptungen werden wiederholt, und der Lobpreis der Metaphysik gerät zur Legitimation der eigenen Rechthaberei. Nun hat Ratzinger in einem gewiss recht: Er persönlich hat sich in nichts geändert, auch nicht im geringsten. Der Geist des 2. Vaticanum hat ihn kaum inspiriert. Er erfahrt die Starrheit und Unbeweglichkeit von System und eigener theologischer Biografie leider nicht als Problem. Genau diese Unbeweglichkeit macht ihn unangreifbar. Man kann darüber streiten, ob er das Christentum der Väter gut wiedergibt; Ratzingers Selektion und einseitige Auslegung sollte man nicht unterschätzen. Man kann allerdings nicht bestreiten, dass das Christentum um einiges älter ist als jenes antike VäterChristentum. Was bedeutet für Ratzinger die vorhergehende Zeit, sagen wir von 35 (oder von 80) bis 250? Manches Mal weiß er noch Paulus und dessen Universalisierungspraxis zu nennen. Von späteren Entwicklungen hören wir nur noch Endformulierungen, und zwar von konziliaren Beschlüssen, die von den kirchlichen Gemeinden erst akzeptiert werden mussten. Das eigentliche Problem aber entsteht wohl aus der Tatsache, dass sich Jesus nicht mit Metaphysik beschäftigte. Sollte die Wahrheitsfrage ihn nicht beschäftigt haben? Ich weiß natürlich, dass ich den Glaubenshüter mit dieser Frage nicht überraschen kann. Für ihn erstrahlt der Sohn Gottes schon im Neuen Testament, insbesondere im Johannesevangelium, und die spätere Kirchenstruktur ist für ihn im Amt des Apostels vorgebildet; Frauen dürfen nicht ordiniert werden, weil - wie die klassische Formulierung lautet - die Kirche von Jesus dazu nicht ermächtigt ist. Die historischen Grenzen und Ungereimtheiten solcher Argumentationen sind hinreichend erwiesen. Ratzingers hermeneutische Strategie ist zudem recht undramatisch und Insidern bekannt. Er braucht die Evangelien nur in die bekannten altkirchlichen Interpretationsrahmen zu stellen und die historische Bibelkritik selektiv zu ignorieren; er braucht wissenschaftliche Detaildiskussionen nur als Ausdruck allgemeiner Verwirrung zu interpretieren und sich notfalls auf scholastische, frühkirchliche oder orthodoxe Theologie zu berufen. Wir sollten die Kraft und die innere Konsistenz früheren theologischen Denkens nicht unterschätzen solange nur der hermeneutische Blickwinkel unverrückbar vorausgesetzt wird. Es gibt aber einige Fragen, die der Hüter der Dogmen wohl nicht so gut beantworten kann, etwa die Frage nach Jesu Selbstbewusstsein, nach seinem Verständnis des Dreifaltigen Gottes oder nach der Geschichtlichkeit der Auferstehung sowie die Frage, nach welcher Perspektive denn die armen Christen des 2. oder 3. Jahrhunderts ihren Glauben hätten interpretieren müssen. Es kann doch nicht sein, dass praktisch alle vornizenischen Theologen in Sachen Christologie am Rande einer Häresie vorbeischrammen oder gar Häretiker sind. Ratzinger muss wohl auch zugeben, dass ihn der Jesus der Geschichte nicht sonderlich interessiert. Jesus hätte auch andere Gleichnisse erzählen, die Synoptiker hätten auch eine andere Bergpredigt präsentieren können. So müsste Ratzinger endlich einmal darauf festgelegt werden, wie falsch und parteiisch er gerne Bultmann auslegt, wie respektlos er von der wissenschaftlichen Exegese spricht und wie wenig ihn notfalls historische Gegebenheiten interessieren, wenn sie nicht ins Prokrustesbett seiner patristischen Amtshermeneutik passen. Es müsste die Frage näher untersucht werden, warum er gerade die 'Christologie von unten' so unaufhörlich attackiert und mit einem Krisenbewusstsein belegt, das mehr seine eigenen Ängste als die Gefahren solchen Denkens verrät. Dem Problem einer geschichtlich verantworteten Theologie des Beginns (nennen wir es eine ‚Christologie von unten'), eine Ekklesiologie der frühen Gemeinde oder einem kontextuellen Heilsverständnis - ist er immer ausgewichen. Und weil wir mit solcher Gegenargumentation leicht eine oder zwei Generationen zu spät kommen, müsste hier der Ball den emanzipatorischen und den kontextuellen Theologien, einer synchronen Exegese sowie einer Theologie der Religionen zugespielt werden, die wenigstens die konkreten Erfahrungen der Menschheit zur Kenntnis nimmt. Eine Theologie, die nicht fähig ist, der Kirche als solcher Schuld zuzusprechen (obwohl schon von Balthasar von ihr als einer "keuschen Hure" spricht), kann die Wirklichkeit nicht ernstnehmen. Allerdings gilt auch ein anderer Aspekt, und dies ist ins Stammbuch "fortschrittlicher" Theologien westlichen Zuschnitts zu schreiben. Vermutlich hat der Theologe vom Fach viel besser verstanden als Ungezählte in den deutschsprachigen Landen, was etwa Schillebeeckx, Küng oder Leonardo Boff mit ihren Christologien von unten und mit dem Programm einer historisch und exegetisch verantworteten Theologie meinten. Die meisten interessierten und weltoffenen Christen unseres Kulturraums sind in dieser Sache bis heute zwar liberal und offen, aber auch hoffnungslos naiv. Die in den siebziger Jahren neu konzipierten Entwürfe und die darauf folgenden Entwürfe aus den verschiedensten Kontinenten wollten und wollen die traditionelle hochkirchliche Theologie ja nicht einfach ersetzen. Sie stellen aber bis zum Überdruss klar, dass diese Theologie vergangener Epochen im Rahmen einer Metaphysik erarbeitet sind, die in der Regel heute nicht mehr verstanden wird und die nachweisbar zu Missverständnissen führt. Oft wird - unter Missachtung der Erfahrungen und Schlussfolgerungen von Matthew Fox - gesagt, Küng und Konsorten, feministische Theologinnen zudem, könnten gegenüber Rom doch etwas höflicher, freundlicher und verbindlicher sein. Aber darum geht es nicht: Der Zensor misst seine Kontrahenten nicht am Ton, sondern an den Inhalten, an der Gefährlichkeit ihrer Theologie für die Kirchenordnung sowie an der gesellschaftlichen Verunsicherung, die von ihnen ausgeht. Wichtig ist deshalb für eine kommende Theologengeneration sowie für eine kommende Generation von ökumenisch engagierter Christinnen und Christen dies: Das Rom, das vom Präfekten seiner Inquisitionsbehörde verkörpert wird, hat von seiner vorkonziliaren Linie nie Abstand genommen, und man denkt vorerst nicht daran, davon Abstand zu nehmen. Es wäre deshalb angemessen, statt eines erneuten Sturms der Entrüstung die römischen Ansprüche endlich konsequent, ohne Vermittlungsversuche und so zurückzuweisen, dass die Christenheit nicht erneut der Faszination eines Amtes erliegt, das sich auf die Macht der Jahrhunderte beruft. Karl Barth sagte einmal, er habe keine Probleme, dem römischen Papst die Ehre zu erweisen, wenn er dort wirklich die Stimme des Guten Hirten höre. Vielleicht ist die Frage an Ratzinger deshalb ganz einfach: Können wir aus seinen Dokumenten, aus seinem Regime und in der Weise, wie er mit Andersdenkenden innerhalb und außerhalb der Kirche umgeht, die Stimme des Guten Hirten hören? Ich fürchte, dass die Antwort vorläufig noch negativ sein muss. Warum ist das so? Vielleicht hat sich in ihm wirklich ein Trauma seiner frühen Karriere festgesetzt. Aber noch wahrscheinlicher ist: Er ist der Faszination der Alten Kirche, der Spiritualität des Platonismus und den Verheißungen eines weltweiten Kirchenmonopols einfach so erlegen, dass er die Fragen unserer Gegenwart nicht mehr wahrnehmen kann. Zum Schluss mit B. Brecht noch dies zu einem denkwürdigen Wiedersehen mit Herrn Keuner: Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: "Sie haben sich gar nicht verändert." "Oh!" sagte Herr K. und erbleichte. |