Aufgelesen
  Das Erbe des Konzils
Die zornigen alten Männer und die jungen Nachfolger

Helmut Krätzl in der Theologisch-Praktischen Quartalschrift 2003, zitiert in imprimatur 2/2007

Vor dem Hintergrund der Generationenfrage stellt der inzwischen 40-jährige Abstand des 2. Vatikanischen Konzils eine interessante Zäsur dar: Die ältere Generation hat die Konzilszeit bewusst erlebt, und viele haben die Anliegen des Konzils in die gesellschaftlichen und pastoralen Kontexte hineingetragen. Doch den Unter-50-Jährigen erscheint dieses Ereignis bereits als geschichtliche Vergangenheit. Was heißt das für das Erbe des Konzils? Der Wiener Weihbischof DDr. Helmut Krätzl, einer der prononciertesten Sprecher der „Konzils-Generation“, greift in seinem Beitrag die von der Redaktion vorgegebene Metapher der „zornigen alten Männer und der jungen Erben“ auf und entwickelt zukunftsweisende Überlegungen für die unabgeschlossene Rezeption des Konzils. (Redaktion imprimatur)

Die Polarisierung in der römisch-katholischen Kirche – sie reicht von der Basis bis in höhere Kirchenkreise – geht vor allem auf eine unterschiedliche Bewertung und Auslegung des II. Vatikanischen Konzils zurück. Die extremste Position vertreten jene, für die das Konzil so etwas Ähnliches wie ein „Betriebsunfall“ war. Es sei schuld an der so misslichen Lage der Kirche in der Welt von heute. Eine andere Gruppe vertritt die Meinung, das Konzil habe eigentlich gar nichts Neues gebracht, es sei alles nur aus der Tradition zu verstehen. Man geht von der Endfassung der Texte aus, die oft harmonisiert sind, und vermeidet bewusst eine Interpretation aus der so augenscheinlichen Dynamik, mit der jeweils die Erstentwürfe der Texte bis zur Letztfassung umgearbeitet worden sind.

Zur Polarisierung trägt auch die offizielle Kirchenpolitik bei. Einerseits versäumt man nicht zu beteuern, dass man ganz auf dem Boden des II. Vatikanischen Konzils stehe, und der Papst ruft im Apostolischen Schreiben „Tertio Millennio adveniente“ sogar zur Gewissenserforschung auf, was aus dem „großartigen Geschenk des Geistes an die Kirche“ geworden ist. Viele römische Weisungen der letzten Jahre aber erwecken eher den Eindruck, Entwicklungen nach dem Konzil sollten gebremst werden. Viele vom Konzil aufgeworfene Probleme wurden nicht weitergedacht und entfaltet, obwohl Vertreter der Weltkirche auf den Bischofssynoden in Rom dazu gedrängt haben. Manche Bischofsernennungen der letzten Jahre lassen eher vermuten, es würden Kandidaten bevorzugt, die sich nicht gerade deutlich für die Weiterentwicklung der vom Konzil angegebenen Richtung einsetzen. Und der 40. Jahrestag der Konzilseröffnung am 11. Oktober 2002 fand wohl Interesse bei den Medien und den Bildungshäusern, „offiziell“ wurde dieses Datum aber kaum gewürdigt.

Diejenigen, die das Konzil noch bewusst miterlebt haben und sich oftmals sehr für die Verwirklichung seiner richtunggebenden Beschlüsse eingesetzt haben, fürchten heute eine „Verharmlosung“ des Konzils. Die Zeit scheint dafür zu arbeiten. Wer jünger als 50 Jahre ist, hat das Konzil nicht bewusst miterlebt. Für die ganz Jungen liegt es tief zurück in der Geschichte. So wird die Polarisierung auch zu einer Generationenfrage. Meine Generation – ich bin 1931 geboren, 1954 zum Priester und 1977 zum Bischof geweiht worden – wird da und dort etwas mitleidig als jene „68er-Generation“ bezeichnet, die später nicht weitergelernt hat. Heute favorisiert man eher geistliche Bewegungen verschiedener Provenienz, die ein frohes Christenleben in elitären Gruppen führen und keinerlei Erneuerungsbedarf an den Strukturen der Kirche mehr sehen. Immer deutlicher scheint man eher auf Restauration den auf Reform zu setzen.

All das erzürnt uns „alte Männer“ und wohl auch gleich denkende Frauen. Die jüngere Generation genießt wie selbstverständlich viele Früchte des Konzils, verwaltet aber andererseits dieses Erbe oft nicht im Geiste des Konzils.

Was uns „Älteren“ damals Hoffnung gegeben hat
Bei ihrer Selbstbetrachtung hat die Kirche sich auf dem II. Vatikanischen Konzil besonders mit dem Bild vom Volk Gottes beschrieben. Entgegen einer zu einseitig hierarchischen Sicht betont dieses Bild 'Gemeinschaft’. Die alte 'Communio-Ekklesiologie’ wurde wieder entdeckt. Das Zueinander von Papst und Bischofskollegium wird neu gesehen. Im Vordergrund steht nun das Kollegium, in dessen Mitte der Papst eine unverzichtbare Rolle hat. Das wertet die Mitverantwortung der Bischöfe und Ortskirchen auf. Übrigens war dies eine längst fällige Ergänzung zur Dogmatisierung des Papstamtes im I. Vatikanum, das ja bei diesem Diskussionsstand aus politischen Gründen abgebrochen werden musste.

Tragen aber die Bischöfe auch kollegial deutlicher Verantwortung, so braucht es Institutionen dafür. Daher sollten die Bischofskonferenzen aufgewertet werden. In der römischen Bischofssynode entstand ein Organ, in dem der Weltepiskopat über wichtige Fragen der Gesamtkirche beraten und, wo der Papst es will, auch entscheiden kann.

Kirche als Gemeinschaft rief ins Bewusstsein, dass jeder Getaufte seine Berufung hat und zugleich Mitverantwortung trägt. Dafür griff man wieder den alten, aber über lange Zeit eher als „protestantisch“ abgewerteten Begriff vom gemeinsamen Priestertum auf. Diese Sicht sollte den Laien Möglichkeiten zur Mitverantwortung eröffnen. Das geschah bald nach dem Konzil in Form von verschiedenen Räten, aber auch in der Übertragung von Diensten, die bislang meist nur von Priestern geleistet worden waren.

Das Konzil hielt es für seine Pflicht, „sich um Erneuerung und Pflege der Liturgie zu sorgen“. Es sollte das Heilige, dem sie als Zeichen dient, deutlicher zum Ausdruck kommen, so, dass das christliche Volk sie möglichst leicht erfassen und in voller, tätiger und gemeinschaftlicher Teilnahme mitfeiern kann. Damit wurde gesamtkirchlich eingeholt, was sich in vielen liturgischen Bewegungen in der Welt, besonders im deutschen Sprachraum, schon längst angebahnt hatte. Das Konzil gab die Richtung an, die Erneuerung sollte erst folgen. In vielen Diözesansynoden fand gerade die Liturgieerneuerung starken Widerhall bis hinein in die kleinsten Pfarren.

Die katholische Bibelwissenschaft stand bis zum Konzil unter einengenden Bestimmungen, vor allem durch Erlässe der päpstlichen Bibelkommission zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Katholische Exegeten konnten daher in der Forschung kaum mit evangelischen Kollegen mithalten. Viele von ihnen hatten sogar Probleme mit dem Lehramt und durften zum Teil nicht publizieren oder dozieren. In der dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung wurde die inzwischen weiter entfaltete Bibelwissenschaft nicht nur legitimiert, sondern als verpflichtend für Forschung, Lehre und Verkündigung angegeben. Die Bibel sollte nun auch Fundament und Seele der Dogmatik sein. Selbst das Lehramt steht unter dem Wort der Bibel, wie „Dei Verbum“ ausdrücklich sagt. Das Interesse an der Bibel wuchs, in Liturgie und Lehre fand sie immer mehr Beachtung.

Das Konzil hat Sexualität und Ehe neu gedeutet. Die Ehe wird nicht mehr in erster Linie als Mittel zur Fortpflanzung gesehen, sondern als vom Schöpfer begründete „innige Gemeinschaft des Lebens und der Liebe“, die ihrer natürlichen Eigenart nach auf Zeugung und Erziehung von Kindern hingeordnet ist. Die ehelichen Akte werden in ihrem Eigenwert gesehen als Ausdruck der Liebe und Hilfe zur Treue. Und schließlich wird den Eltern selbst die Verantwortung zugeschrieben, über die Zahl der Kinder im Angesicht Gottes zu entscheiden. Solche Aussagen wurden mit großer Begeisterung als Aufwertung der Ehe angesehen. Die Kirche schien sich endlich von der ihr oft zugeschriebenen „Leibfeindlichkeit“ zu befreien. Christlichen Ehepaaren wurde – anstelle von einengenden kasuistischen Weisungen – ihr Mitwirken am Schöpfungswerk Gottes bewusst gemacht und zwar in ihrer eigenen Verantwortung vor Gott. Die Familienpastoral nahm einen neuen Aufschwung. Einer Gesellschaft, die gerade daran war, sexuelle Freizügigkeit zu fordern, stand nun die Kirche in ihrer so positiven Haltung als ernst zu nehmender, aber auch notwendiger Gesprächspartner gegenüber.

Für die Ökumene stellte das Konzil neue Prinzipien der katholischen Kirche auf. Das Gemeinsame wurde vor dem Trennenden betont. Was vor allem eint, ist die Eingliederung in den einen Leib Christi durch die Taufe. Aus dieser Teilhabe ergibt sich auch das Gnadenwirken des Geistes in den anderen Kirchen. Wege zur tieferen Ökumene aber sollten in Besinnung auf die eigenen Wurzeln, in Bekehrung auf beiden Seiten und in Demut gegangen werden. Was vor dem Konzil in der ökumenischen Bewegung besonders im deutschen Sprachraum zum Teil schon geübt worden war, fand nun volle Anerkennung und wurde zum Auftrag für alle Verantwortlichen in der katholischen Kirche. Es hat nach dem Konzil wirklich so etwas wie ein ökumenischer Frühling eingesetzt.

Das sind nur einige Beispiele für das, was im Konzil aufgebrochen war und nun hoffnungsvoll in Richtung auf eine Erneuerung wies. Sogar solche, die zunächst noch skeptisch waren, erlebten einen neuen Aufschwung. Und erstaunlich viele machten sich mit ihren Bischöfen auf den Weg, die Neuerungen des Konzils in den Ortskirchen umzusetzen. Es hat alles sehr vielversprechend begonnen!

Was viele Ältere „zornig“ werden lässt
Zunächst hatte das Konzil die Kirche in der Öffentlichkeit bedeutsam und interessant gemacht. Die Zahl der Priesterberufe wuchs, die Begeisterung war groß. Dem ersten Aufschwung folgte aber alsbald Ernüchterung. Die Kirchenaustritte stiegen, Priester verließen in größerer Anzahl ihr Amt, Ordensgemeinschaften fanden nicht immer den Weg der richtigen Erneuerung. Der Messbesuch nahm ab. Viele gingen zur Kommunion, immer weniger aber zur Beichte. Die starken Gruppen der Katholischen Aktion schrumpften. Die Kirche verlor insgesamt ihre Bedeutung in der Öffentlichkeit. Hatten bestimmte Kreise das Konzil immer schon misstrauisch betrachtet – solche Tendenzen gab es seit Beginn des Konzils – so glaubten sie nun, Recht bekommen zu haben. Statt den Grund in der so tief greifenden Gesellschaftsveränderung zu suchen, gab man dem Konzil die Schuld. In dieser Stimmung begannen manche sich wieder nach dem Früheren umzusehen. Weitere Erneuerungen würden die Kirche nur noch „verletzlicher“ machen, meinten sie. Bedauerlich war, dass nun auch Rom diese Wendung zu favorisieren schien, anstatt konsequent den Weg, wie ihn das Bischofskollegium gewiesen hatte, anzumahnen. In vielen Bereichen gewann man den Eindruck, es werde eher gebremst, man nähme sogar ganz gerne manches wieder zurück.

Da wuchs bei vielen der Ärger, kam Trauer und Wehmut auf, auch Ungeduld. Nicht, weil man nun unbedingt recht behalten wollte, sondern weil man fürchtete, die Kirche könnte dadurch ihre neue Aufgabenstellung in der Gesellschaft verpassen.

Ungenützte Möglichkeiten
Beispielsweise hätte im Sinne des Konzils eine auch rechtlich – nicht nur emotional – verstärkte Kollegialität zwischen Papst und Bischöfen die gemeinsame Verantwortung aller Bischöfe für die Kirche wirksamer gemacht. Die größere Eigenständigkeit der Bischöfe hätte aber auch die Eigenverantwortung der Ortskirchen gestärkt und herausgefordert, ja wäre gleichsam Wegbereiter für einen neuen „Bischofstyp“ geworden, für einen Hirten, der sich der je eigenen Herausforderung in seiner Diözese stellt. Welche Kriterien sind aber heute entscheidend bei Bischofsernennungen?

Bischofssynoden wären eine ideale Form, vom Konzil offen gelassene und heute zum Teil noch drängendere Fragen durch Vertreter des Weltepiskopates weiter zu entwickeln. Viele Teilnehmer – durchaus nicht nur die „fortschrittlichsten“ – beklagen hingegen die nun geringe Effizienz eines so hochrangigen Gremiums.

Bischofskonferenzen könnten in der vom Konzil vorgesehenen größeren Selbständigkeit viel beweglicher pastorale Entscheidungen für bestimmte Regionen treffen. Durch das Motu proprio „Apostolos suos“ aber wurde ihre Eigenständigkeit wieder eingeengt. „Nach dem Konzil haben zentralistische Tendenzen wieder zugenommen“, klagt sogar Kardinal Walter Kasper in einer „freundschaftlichen Auseinandersetzung mit Joseph Kardinal Ratzinger“.

Das Konzil hat die Mitverantwortung aller Getauften, also auch der Laien, ausgerufen. Viele – besonders in den deutschsprachigen Ländern – ließen sich für pastorale Dienste ausbilden, viele studierten sogar Theologie, noch mehr aber zeigten ihre Bereitschaft, ehrenamtlich in der Seelsorge in Pfarren, Krankenhäusern, Hospizen, Gefangenenhäusern u.a. mitzuarbeiten. Es entstand ein noch nie da gewesenes Reservoir qualifizierter und hoch motivierter LaienmitarbeiterInnen. Statt sie dankbar anzunehmen und eher noch mehr zu ermutigen, wurden viele durch einschränkende Weisungen wie die Instruktion „Über die Mitarbeit der Laien am Dienst der Priester“ 1997 und jene über den „Priester als Hirte(n) und Leiter der Pfarrgemeinde“ 2002 entmutigt.

Wahrhaft gekränkt fühlten sich aber die Vielen, die sich – wie sie glaubten im Sinne des Konzils – an der Basis hingebungsvoll einsetzten und dann auf einem großen Kongress für die neuen geistlichen Gemeinschaften im Mai 1998 in Rom zu hören bekamen: „In der Tat schien nach dem großen Aufbruch des Konzils statt des Frühlings Frost, statt der neuen Dynamik Ermüdung einzukehren. … War die Kirche nach vielen Debatten und angestrengt durch das Suchen nach neuen Strukturen nicht in der Tat müde und geistleer geworden?“ Das hielten viele für ungerecht, hatten sie sich doch mit Papst und Bischöfen nach dem Konzil aufgemacht, die Kirche zu erneuern, was aber auch neue Strukturen verlangte. Viele sind in der Kirche nicht wegen der vielen Debatten müde geworden, sondern weil sie sich in ihren oft sehr berechtigten Bemühungen um Erneuerung nicht ernst genommen fühlten. Die einen wurden „zornig“, andere traurig, nicht wenige emigrierten innerlich oder auch äußerlich.

Die Liturgieerneuerung hat eigentlich erst begonnen. Die Muttersprache in allen Teilen des Gottesdienstes verlangt nach viel mehr neuen Texten und nicht nur Übersetzungen klassischer lateinischer Formeln. Aktualisierung und Inkulturation brauchen größeren Gestaltungsfreiraum, als es geltende Normen und Rubriken gestatten. Statt solches zu fördern, werden heute Bestrebungen von liturgischen Kommissionen gehemmt. Eine Erneuerung der Texte, wie sie für das sogenannte Missale 2000 geplant war, wird verhindert. Die im März 2000 erschienene dritte Ausgabe der „Institutio Generalis Missalis Romani“ trägt restriktiven Charakter. Es gehört in manchen Kirchenkreisen fast zum guten Ton, die Nüchternheit der erneuerten Liturgie zu beklagen und von der „Mystik“ der vorkonziliaren Liturgie zu schwärmen. Der Trend geht wieder hin zur „alten“ Liturgie. Die Ausnahmegenehmigung für die Petrusbruderschaft, den sogenannten „tridentinischen Ritus“ zu gebrauchen, wird weit ausgelegt. Erzbischof Rembert Weakland hat diese Entwicklung kürzlich in einem Artikel in „Stimmen der Zeit“ in fast klassischer Form zusammengefasst und zu zeigen versucht, dass die „restaurativen“ Bemühungen hinsichtlich der Liturgie zeichenhaft sind für ein generelles „Zurück“ in die Zeit vor dem Konzil, eine „Reform der Reform“, wie sie manche bezeichnen. Das bedauern, ja beklagen nicht nur Liturgieexperten, sondern viele Seelsorger und engagierte Laien. Denn sie wissen, dass gerade durch die Liturgie der Welt von heute das Wesen der Kirche deutlicher gemacht wird und es von der Gestaltung der Liturgie abhängen wird, ob Menschen wieder den Weg zur Kirche finden.

Das Konzil hat eine neue Sicht von Sexualität und Ehe gebracht. Aber gerade diese Frucht des Konzils ist noch kaum gereift. Eine positive Darlegung von Sexualität ist nicht durchgedrungen. Damit wurde nicht nur die Chance vertan, dass sich die Kirche vom alten Vorurteil der Leibfeindlichkeit befreit, oder von der Auffassung, sie sehe weiterhin den Zweck der Ehe fast ausschließlich in der Fortpflanzung, sondern die Kirche hat damit auch die Möglichkeit vertan, dem Menschen von heute gesamtheitlich zum Gelingen ehelicher Partnerschaft noch bessere Hilfe zu leisten. Seit „Humanae vitae“ ist die Methodenfrage in der Empfängnisverhütung fast zum Kriterium geworden, wie weit kirchliche Ehe- und Familieninstitutionen noch „rechtgläubig“ sind. Die rigorose Auslegung im Bereich der Antikonzeption bringt uns auch im berechtigten Kampf gegen Abtreibung in Argumentationsnotstand, vor allem, wenn selbst in hochrangigen Aussagen bisweilen Empfängnisverhütung und Abtreibung in einem Atemzug genannt werden.

In der Ökumene ist in den letzten Jahren viel gewachsen. Der Papst wird nicht müde, zu immer neuen Anstrengungen in dieser Richtung aufzurufen. In Österreich dürfen wir uns über eine wachsende Gemeinsamkeit freuen, vor allem auch durch den Ökumenischen Rat der Kirchen. In ihm sind 14 christliche Kirchen vertreten, und auch die katholische Kirche ist Vollmitglied. Durch das Schreiben „Dominus Jesus“ hat aber sogar in Österreich die Ökumene eine schwerwiegende Irritation erfahren.

Solches und Ähnliches macht viele betroffen und lässt sie nach deutlicherer Erneuerung im Sinne des Konzils rufen. Je nach der persönlichen Charaktereigenschaft tun dies die einen zornig, protesthaft oder „begehrend“, andere in immer wieder versuchter sachlicher Argumentation, viele aber ganz einfach in treuer Weiterarbeit, um von der Basis her vorzuarbeiten, was später – so hoffen sie – auch gemeinsam wieder eingeholt werden wird.

Den jungen Erben ist das Konzil gleichgültig geworden
Wer sind die „jungen Erben“? Eigentlich alle, die heute noch nicht 50 Jahre alt sind. Für sie ist das Konzil „Geschichte“. Und doch leben sie wie selbstverständlich von den Früchten des Konzils. Otto Hermann Pesch sagt ihnen: „Was ist vom Konzil rezipiert worden? Die Antwort kann nur lauten: Ungeheuer viel! Änderungen in Mentalität, theologischer Reflexion, kirchlichen Lebensformen und sozusagen ‚Kirchengefühl’, die um 1950, als ich mit dem Studium begann, vielleicht zu erträumen, aber nicht von ferne zu erwarten waren. Freilich, nur die über 50-Jährigen können das noch voll ermessen, weil sie die vorkonziliare Kirche und die Kirche des Konzils erlebt haben. Den Jüngeren, die sich heute so oft an der Kirche wund reiben, muss man sagen: Ihr lebt heute als Katholikinnen und Katholiken, aber auch als von außen Beobachtende auf dem Boden von Selbstverständlichkeiten, die ihr dem Konzil verdankt, das ihr schon verraten wähnt! Freilich, ihr habt recht, wenn ihr einklagt, dass es auf der Linie des Konzils weitergehen muss!“

O.H. Pesch muss hier auch „junge Erben“ vor Augen haben, die eigentlich ähnlich wie die „älteren zornigen Männer“ leiden, sich wund reiben. Mir scheint dies aber heute nur ein kleiner Teil zu sein. Für viele andere „junge Erben“ ist meiner Meinung nach das Konzil völlig gleichgültig geworden.

Ich denke zuerst an jene Jugendlichen, die sich in verschiedenen spirituellen Gruppen versammelt haben. Sie leben ein frohes Christentum in ihren eigenen Reihen, pflegen Formen der Frömmigkeit, die sie persönlich ansprechen. Sie sind auf den großen Weltjugendtreffen zu finden, die tatsächlich ein sehr wichtiges Zeichen für die „Welt“ sind. Aber die Probleme, mit denen die Kirche sich in dieser Umbruchsituation konfrontiert sieht, scheinen ihnen nicht so sehr bewusst zu sein. Der dramatische Priestermangel regt sie nicht auf, nach den vielfachen Gründen dafür fragen sie nicht. Sie lieben die Kirche in der Form, in der sie diese in den eigenen Reihen erleben, so sehr, dass sie offenbar nicht darunter leiden, wie sehr die Kirche insgesamt in den letzten Jahren immer mehr Bedeutung und Einfluss im öffentlichen Leben verloren hat. Die Verletzung vieler, die mit dem Recht der Kirche in Konflikt gekommen sind und in dieser Krise des Lebens keine legitime kirchliche Hilfe finden, scheint sie nicht zu drängen, neue Wege zu suchen. Selbst manche Priesteramtskandidaten machen sich um die Zukunft der Kirche kaum Sorgen. Verweist man auf das Konzil und drängt auf eine weitere Erneuerung der Kirche im Sinne des Konzils, so halten sie das eher für eine lieblose Kritik an der Kirche und geben sich mit der derzeitigen Verfasstheit durchaus zufrieden. Sie leben aus einem Erbe, ohne es im vollen Sinn für das „Heute“ zu entfalten und fruchtbar zu machen.

Eine andere Gruppe von Jugendlichen – immer noch solche, die sich mit der Kirche verbunden fühlen, - lebt pragmatisch und ist zur Tat übergegangen. Sie warten gar nicht mehr auf eine offizielle Erneuerung in verschiedenen Bereichen, sondern gehen ihren eigenen Weg. In der Liturgie kreieren sie neue Formen, die bisweilen weit von dem abweichen, was kontinuierliche Weiterentwicklung sein sollte. Über Fragen der Sexualität und Partnerschaft reden und denken sie ganz anders (oder zumindest offener) als frühere Generationen und erwarten sich von der kirchlichen Lehre diesbezüglich keine Lebenshilfe. In der Ökumene – so sie diese interessiert – verstehen sie nicht, dass es da noch theologisch und rechtlich abgegrenzte Unterschiede geben sollte. Auch diese Gruppe hat kein Interesse am Konzil mehr. Sie glaubt vielleicht, und ganz zu Unrecht, dass das Konzil ohnehin grundsätzlich alles freigestellt und der je eigenen Entscheidung überantwortet habe. Ihnen erscheint das Erbe des Konzils gar nicht als schätzenswert, weil es ihnen nie in seiner Dynamik und Herausforderung dargestellt worden ist. Ja, sie erleben vielmehr, dass jene, die nach weiterer Erneuerung in dieser Richtung rufen, sich ohnehin kaum durchsetzen können.

Der allergrößte Teil der Jugend aber will offenbar diese „Erbschaft“ gar nicht mehr antreten. Sie scheint ihnen mit einer Hypothek für ihr Leben belastet, das ihren Freiraum und ihr Lebensgefühl einengt. Für sie zeigt sich Kirche ohnehin eher also ein „Auslaufmodell“, nicht lebensnah genug, in sich uneins und konfliktbeladen, kaum zukunftsweisend. Sie haben sich von der Kirche längst entfernt oder stehen ihr – nicht mehr wissend, dass sie als Getaufte selber Kirche sind – mit Unverständnis und Skepsis gegenüber. Dies müsste für uns ein alarmierendes Zeichen sein. Dem Konzil war es gelungen, großes Interesse für die Kirche zu wecken, offen nach vielen Seiten und zukunftsorientiert zu sein. Es war die Zeit, in der sich die Jugend angesprochen fühlte. Wann und wodurch hat die Kirche nun den Anschluss an die sich so rasch entwickelnde Welt und Gesellschaft und damit auch an einen Großteil der Jugend verloren? Eine brennende Frage, die wieder so manchen Älteren besorgt oder gar verärgert macht. Wie sind wir mit dem „großartigen Geschenk des Geistes an die Kirche“ umgegangen, fragte doch der Papst schon 1994 zu Recht.

In der Zeit der Arbeit an diesem Artikel traf ich einige junge Priester und sagte ihnen meine Meinung, dass für die Jugend das Konzil gleichgültig sei. Da protestierten sie und wiesen doch noch auf eine vierte Gruppe junger Menschen hin, die mit großem Interesse nach den Ansätzen des Konzils frage und noch immer auf deren Umsetzung hoffe. Woher das käme, fragte ich? Von bestimmten Professoren der theologischen Fakultät, von einigen älteren Priestern, die sie trafen, und von Laien, die die konziliare Entwicklung weiter vorangetrieben haben. Ich musste dabei an jene Jugendlichen denken, von denen O.H. Pesch schreibt, dass sie sich „wund reiben an der Kirche“. Vielleicht müssten also die sogenannten „zornigen älteren Männer“ viel mehr Kontakt mit den „jungen Erben“ aufnehmen, um ihnen zu helfen, den Schatz des Konzils, der ihnen weithin unbekannt ist, zu entdecken und zu schätzen.

Die Saat wächst auch im Winter
Was gibt uns für die Zukunft Hoffnung? Karl Rahner hat schon vor vielen Jahren vom Winter in der Kirche gesprochen. Vielen dauert er schon zu lange, so dass sie „zornig“ werden. Und einige spirituelle Bewegungen allein ergeben noch nicht den heiß ersehnten Frühling, wie man beim großen Treffen in Rom im Jahr 1998 den Eindruck erwecken wollte.

Was Hoffnung gibt, ist, dass im Winter unter Schnee und Eis eine Saat heranwächst. Diese Saat wächst tatsächlich, und zwar überall, wo es Aufbrüche von der Basis her gibt. Gerade dort wird, ohne es explizit zu wissen, vielfach mehr im Geiste des Konzils gearbeitet, als dies Kirchenleitungen wahrhaben oder wahrhaben wollen. Beispiele dafür sind die gewachsene Selbständigkeit in den Pfarren, ein oft erstaunliches Verantwortungsbewusstsein der Laien, viele neue Versuche in der Gestaltung der Liturgie, ein Leben aus dem Glauben, das sich in sozialen Projekten und Partnerschaften bis in die sogenannte 3. Welt, aber auch gelegentlich im politischen Engagement niederschlägt. Es wächst auch dort die Saat, wo die Ungeduld in Bezug auf eine deutlichere Erneuerung noch nicht geschwunden ist, wo man sich nicht zufrieden gibt mit der jetzigen Situation der Kirche. Dies drückt sich in manchen Former der Kritik, sogar in konkret artikulierten Wünschen und Forderungen aus. Und wo immer dabei auch Spannungen entstehen, können diese Zeichen pulsierenden Lebens sein, geben vielleicht schon die Richtung an, wohin sich Kirche im nun begonnenen 3. Jahrtausend entwickeln soll. Die Saat, die so im Winter heranwächst, wird einmal durchstoßen und Früchte bringen, die die Kirche der Gesellschaft heute schon längst anbieten sollte, weil diese sie unbedingt braucht. Den „jungen Erben“ aber ruft Pesch in der oben zitierten Stelle auch prophetisch zu: „Freilich, ihr habt Recht, wenn ihr einklagt, dass es auf der Linie des Konzils weitergehen muss! Denn: Das Konzil ist die Zukunft der Kirche im 21. Jahrhundert. Eine Alternative dazu gibt es nicht – es sei denn, die Großsekte, der niemand mehr zuhört.“

Würden doch noch mehr „junge Erben“ das Weitergehen auf der Linie des Konzils einklagen! Inzwischen darf es aber niemanden wundern, wenn „Ältere“, hoffentlich zunehmend auch Junge, dann „zornig“ werden, wenn Erneuerung nicht geschieht oder gar verhindert wird. Denn es geht schließlich um den Sendungsauftrag der Kirche ins ganz konkrete Heute!