Aufgelesen
 
Zum Bedenken für kirchliche Karriereristen:

"Die in der Kirche am stärksten verbreitete Sünde ist der Neid. Wir denken: warum hat ein anderer das bekommen, was mir zusteht? Es gibt Priester, die vom Neid, der invidia clericalis, zerfressen werden und denken: weshalb ist ausgerechnet diese Person zum Prälaten oder zum Bischof ernannt worden und nicht ich? Ein Segen sind jene Diözesen, in denen keine anonymen Briefe verschickt werden. Es gibt ganze Diözesen, die von anonymen Briefen zerstört worden sind, die manchmal sogar in Rom geschrieben worden waren. Auch Eitelkeit ist häufig anzutreffen; das erweist sich schon an der Art, wie kirchliche Würdenträger sich kleiden. In der Vergangenheit trugen die Kardinäle Gewänder mit einer sechs Meter langen Seitenschleppe. Noch immer schmücken sich Kirchendiener mit sinnlosen Ornamenten. Auch an der römischen Kurie will jeder mehr sein. Das wiederum führt dann zu einer gewissen Selbstzensur. Man bringt bestimmte Dinge nicht zur Sprache, weil man weiß, dass sie der Kariere schaden könnten. Oder man verschweigt die Wahrheit. Das ist ein großes Übel. Man sagt das, was den Vorgesetzten gefällt, man handelt nach dem, was man für deren Wunsch hält und leistet dabei selbst dem Papst einen sehr schlechten Dienst. Leider gibt es Priester, die sich zum Ziel setzen, Bischof zu werden, und es gelingt ihnen. Es gibt Bischöfe, die nicht sprechen, weil sie wissen, dass sie sonst nicht befördert werden. Einige melden sich nicht zu Wort, um ihre Kandidatur als Kardinal nicht zu blockieren. Wir lieben mehr den Applaus als die Pfiffe. Wir müssen Gott um das Geschenk der Freiheit bitten. Wir sind aufgefordert, transparent und überzeugend zu sein und die Wahrheit zu sagen".

Diese Anmerkungen stammen nicht von einem unzufriedenen, verärgerten Theologieprofessor, der sich seinen Frust von der Seele schreibt. Vielmehr handelt es sich um Äußerungen aus Exerzitienvorträgen, die Kardinal Carlo M. Martini von Mailand vor Priestern gehalten hat, und die am 05. Juni 2008 in der italienischen Tageszeitung „La Repubblica“ publiziert waren. Was diese realistischen und klaren Darlegungen des Kardinals uns ans Herz legen, ist folgendes: Eigentlich sollte für uns vom kirchlichen Bodenpersonal Gott im Zentrum stehen, es geht um seine Sache und nicht um unsere Rechthaberei, um unser Karrierestreben. Nicht unser übersteigertes Ich ist also der Mittelpunkt von allem, sondern wir müssen Gott im Zentrum sehen.