Aufgelesen
Mehr Toleranz

Noch nie stand die katholische Kirche so im Mittelpunkt des Weltgeschehens wie derzeit. Kehrt der Glaube in unsere so nüchtern gewordene Welt zurück?

Prof. Mieth: Papst Johannes Paul II. war ohne Frage eine herausragende Figur der Geschichte. Dass sein Leben und Sterben auf so viel Interesse und Anteilnahme stieß, ist aber auch den Medien zu verdanken, die seinen Tod und die Neuwahl des Papstes zu einem singulären Ereignis gemacht haben. Ob das eine Renaissance des Glaubens ausgelöst hat, wage ich zu bezweifeln. Das Geschehen hatte ja auch den Charakter eines Events – man musste dabei gewesen sein. Glauben hat aber viel mehr mit Gott zu tun als mit dem Papst. Erst wenn sich die Kirche den drängenden Fragen der modernen Welt stellt, sehe ich eine Chance für mehr Religiosität. Die Ereignisse in Rom haben der Kirche zwar einen Imagegewinn gebracht. Aber spielt das eine Rolle, wenn es bald keine Priester mehr gibt, weil wegen des Pflichtzölibats der Nachwuchs ausbleibt?

Sie fordern also Reformen ...

Prof. Mieth: Die katholsiche Kirche muss sich erneuern, wenn sie auf Dauer bestehen will. der fehlende Priesternachwuchs ist nur eines der Probleme. Wir wissen sehr genau, dass die Apostel verheiratet waren. Jeder Priester sollte also für sich selbst entscheiden können, ob er zölibatär leben will oder nicht. Ebenso wichtig scheint mir, dass das Priesteramt auch Frauen offen steht. Es ist doch absurd, dass Frauen, die das Amt gut versehen können, ausgeschlossen bleiben – in einer Gesellschaft, die seit über hundert Jahren zu Recht um Gleichberechtigung gekämpft hat. Auch den Themen der Schwangerschafts-Konfliktberatung und der Empfängnisverhütung muss sich die Kirche stellen.

Sehen Sie eine Chance für Reformen?

Prof. Mieth: Ich sehe die Gefahr, dass man aus der weltweiten Anteilnahme am Tod des Papstes die falsche Lehre zieht. Rom missdeutet sie womöglich fälschlicherweise als Zustimmung zu umstrittenen Lehrmeinungen.

Was muss geschehen, damit sich die katholische Kirche erneuert?

Prof. Mieth: Die Chance, dass eine gründliche Erneuerung vom Vatikan ausgeht, erachte ich, auch nach der Wahl eines deutschen Papstes, als gering. Das kann nur von den Bischöfen ausgehen. Die brauchen vom Vatikan mehr Ermessensspielraum, um für ihren Bereich zu entscheiden. „Einheit in Vielfalt“ sollte die neue Linie der Kirche lauten. Vieles haben die Gläubigen auch selbst in der Hand. Stellen Sie sich vor: Chrsiten und Christinnen würden eine Wallfahrt auf den Petersplatz unternehmen – mit Transparenten „Wir sind das Volk“, wie seinerzeit die Menschen in Leipzig. Das würde viel in Bewegung bringen. Und zwar nicht nur Diskussionen, sondern auch Änderungen. Kein Bischof, kein Papst, kein Vatikan könnte sich dem entziehen.

Ist es nicht unrealistisch, auf eine Reform von der Basis her zu hoffen?

Prof. Mieth: Nicht unbedingt. Die Diskussionen innerhalb der Kirche sind viel weiter gediehen, als es die offiziellen Stellungnahmen vermuten lassen – auch in Ökumene-Fragen. Angesichts der Papstwahl fragt man sich freilich, wie lange es dauern wird, bis gemeinsame Gottesdienste mit Katholiken und Protestanten nichts Ungewöhnliches mehr sind – auch mit gemeinsamem Abendmahl. Nur wenn die Kirche mehr Demokratie lebt und mehr Toleranz auch ihren Kritikern gegenüber zeigt, wird sie weiter das sein, was seit 2.000 Jahren ihre Stärke ist: den Menschen mit der christlichen Botschaft Hoffnung, Trost und innere Sicherheit zu geben.

Justus Steidle im Interview mit dem katholischen Theologen Prof. Dr. Dietmar Mieth (64) von der Universität Tübingen in „Lenz“, Heft Juni 2005